Klippenfall. Meike Messal

Klippenfall - Meike Messal


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an sie. Und Sylke hielt sie. Sie war froh, dass Emmi ihre Augen nicht sehen konnte, die weitaufgerissen in die Dunkelheit starrten.

      13

      Sylke schreckte hoch, begriff in der ersten Sekunde nicht, wo sie sich befand. Doch als sie Emilies Atem hörte, kam alles zurück, mit so einer schrecklichen Wucht, dass sie keuchte. Es war noch immer stockdunkel im Zimmer. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie wollte sich gerade erneut an Emilie drücken, als das Licht anging. Wie zuvor schnitt der grelle Schein in ihr müdes Gehirn. Auch Emilie war mit einem Schlag wach, schrie erschrocken auf und sprang aus dem Bett, noch ehe Sylke ein Wort sagen konnte. Mit einem Satz war Sylke neben ihr. Gebannt starrten beide auf die Tür, denn von dort kam erneut das kratzende Geräusch, das Sylke auch am Vortag gehört hatte.

      Als die Tür sich langsam aufschob und der Bücherstapel krachend umfiel, stellte Sylke sich vor Emilie, verbarg sie hinter sich. Sie nahm seinen Umriss wahr, ein schwarzer Schatten im Türrahmen, die rechte Hand nach vorne gestreckt. Die Pistolenmündung zeigte direkt auf ihr Gesicht.

      Er warf etwas vor ihre Füße. Ein dünnes, weißes Plastikband. Kabelbinder. »Emilie soll es dir an die Hände machen. Fest.« Wie selbstverständlich er den Namen ihrer Tochter aussprach! Sylke spürte erneut Galle in ihrem Mund. Ihr war speiübel. Doch sie musste tun, was er wollte. Vielleicht ergab sich so die Gelegenheit, einmal allein mit ihm zu sprechen. Sie klammerte sich an den Gedanken, wagte sich nicht vorzustellen, warum er sie sonst fesseln wollte.

      Langsam hob sie das Plastikband auf, legte es sich um die Handknöchel, nickte Emilie zu. Die blickte entgeistert auf ihre Mutter. »Zieh es zu«, flüsterte Sylke beschwörend, »es ist in Ordnung.«

      Zögernd fasste Emilie das Ende an, zog ein wenig.

      »Fester!« Die Stimme an der Tür klang harsch.

      »Es ist in Ordnung«, wiederholte Sylke leise. Emily zog erneut, Sylkes Handflächen lagen nun eng nebeneinander.

      »Komm her!« Der Mann winkte Sylke mit der Pistole zu sich. Als sie einen Schritt nach vorne machte, war Emilie sofort hinter ihr. »Du nicht.«

      Emilie erstarrte, blickte auf die schwarze Waffe, die er nun auf sie gerichtet hatte, dann irrten ihre Augen im Raum umher, als suchten sie einen Fluchtweg.

      »Ich komme gleich wieder.« Sylke gab ihrer Stimme einen festen Klang, doch sie wankte zur Tür. Dort blickte sie schnell zurück, lächelte ihre Tochter an, mit aller Zuversicht, die sie aufbringen konnte. »Ich komme wieder«, rief sie erneut, als er mit der linken Hand die Tür schloss, die rechte mit der Pistole abermals auf sie gerichtet.

      »Vorwärts, da hinein.« Er zeigte mit der Waffe auf einen Raum neben ihrem Gefängnis. Die offen stehende Tür war eine ganz normale, stellte Sylke erleichtert fest, zwar auch aus Metall, aber dünner und von innen wie außen mit einer Klinke versehen. In dem Kellerraum befand sich eine Heizungsanlage, ein paar Wäscheleinen waren durch den Raum gespannt. Sie waren in dem Keller eines Einfamilienhauses, da war Sylke sich endgültig sicher.

      Sie schaute den Mann an. Mit hochgerecktem Kinn und gerade aufgerichtet blickte sie ihm ins Gesicht. »Ich kenne dich«, sagte sie laut.

      Er zuckte zusammen. »Ach ja?«

      »Ja.« Sylke schwieg, suchte seine Augen. Emilie hatte Recht, eisblau waren die.

      »Es ist mir egal, was du denkst«, antwortete er. »Hier geht es nämlich nicht um dich, sondern um deine Tochter. Emilie.«

      Schon wieder. Schon wieder sprach er ihren Namen aus, als würde er sie kennen. Als wären sie befreundet.

      Sylke atmete schwer. »Hör zu«, sagte sie, »lass Emilie aus dem Spiel. Ich verspreche dir, dass du alles mit mir tun kannst und ich mich nicht wehre. Nur bitte, lass sie gehen.«

      Einen Moment musterte er sie. Sylke sah seine Augen über ihren Körper wandern. Dann wandte er sich abrupt ab. »Ich will nichts von dir«, sagte er heiser.

      Ihr war sofort klar, dass er log. Sie hatte seinen Blick bemerkt, hörte das Verlangen in seiner Stimme. Erleichterung überschwemmte sie. »Ich gehöre dir«, wiederholte sie und ging einen Schritt auf ihn zu. »Alles, was du willst, versprochen. Nur Emilie musst du gehen lassen, das ist meine einzige Bedingung.«

      Er lachte auf. »Es ist nicht an dir, Bedingungen zu stellen. Und wie gesagt, du interessierst mich nicht.« Er drehte sich ein wenig von ihr weg, doch die Waffe zeigte immer noch direkt auf sie. Konnte sie ihn mit gefesselten Händen überwältigen? Sylke schluckte, ihre Gedanken überschlugen sich. Warum hatte sie nie Judo gelernt, Karate oder sonst etwas? Nur laufen, das konnte sie, das war das Einzige, was sie beherrschte.

      »Was möchtest du von meiner Tochter? Wieso ist sie hier?« Statt ihrer Fäuste schleuderte Sylke ihm die Fragen ins Gesicht.

      Er schwieg.

      »Ich weiß, dass du mich magst, ich habe deine Blicke gesehen.« Sylke redete weiter, mit aller Überzeugung, die sie aufbringen konnte. »Wieso willst du sie haben und nicht mich? Ich kann dir viel mehr geben, ich bin eine Frau. Alles, was ein Mann sich nur wünschen kann.« Erneut ging sie einen Schritt nach vorne, versuchte zu lächeln.

      »Bleib stehen!« Er stand breitbeinig vor ihr, sein Gesicht todernst. »Hier geht es nicht um Sex, kapierst du das denn nicht?«

      Überrascht hielt Sylke inne. »Ich weiß nicht, worum es geht, wenn du es mir nicht erklärst.«

      Er schwieg erneut. Sylke bemerkte kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte er schließlich. Seine Stimme war nicht mehr heiser, sondern tonlos.

      »Was?« Sylke verstand nicht.

      »An den Strand. Zu Emilie.« Er sah sie an und fast wirkte sein Blick vorwurfsvoll. »Ich wollte doch nur sie.«

      Bei den letzten Worten zeigte sein Gesicht eine grimmige Entschlossenheit und mit plötzlichem Entsetzen begriff Sylke, dass sie ihn nicht überzeugen konnte. Sie wusste nicht, was er von Emilie wollte. Sie wusste nicht, wer er war. Aber eines wusste sie in dieser Sekunde mit aller Sicherheit: Sie war überflüssig in seinem Spiel. Sie würde diesen Raum nicht lebend verlassen.

      14

      Laura. Levke war der Name nicht gleich eingefallen, sie hatte erst googeln müssen. Viele Zeitungsberichte hatte es damals zu dem Fall gegeben, zu den verschwundenen Jungen und zu Laura, die ihren Bruder gesucht hatte und selbst ein Opfer des Entführers geworden war. Ja, Laura Wiegand. Levke scrollte durch die Internetseiten. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie gelesen hatte, dass Laura auf die Insel gezogen war. Genau, hier stand es. Ein kleiner Bericht nur, die Artikel waren im Laufe der Zeit immer weniger geworden, aber er enthielt die Informationen, die sie haben wollte: Laura lebte mit ihrer Familie in Neue Tiefe, dort, wo sie und ihre Eltern damals jeden Sommer den Urlaub verbracht hatten. Erinnerungen an glücklichere Tage.

      Levke wusste, dass ihre Idee verrückt war. Aber sie hatte den Fall genau verfolgt, und Laura hatte ebenfalls ohne jeglichen Anhaltspunkt die Suche auf Fehmarn begonnen. Trotzdem hatte sie so viel herausbekommen und dieses schreckliche Monster, das die Jungen gefangen hielt, schließlich gefunden und gestellt.

      Levke musste es einfach versuchen! Zwar fand sie keine genaue Adresse von Laura im Telefonbuch, noch nicht einmal eine Nummer konnte sie über das Internet finden, aber Neue Tiefe war nicht so groß. Sie würde bestimmt in Erfahrung bringen, wo Laura wohnte. Doch zuerst wollte sie noch einmal bei Sylke vorbeifahren.

      Levke hatte wieder schlecht geschlafen, sich unruhig hin und her gewälzt. All ihre Anrufe und Nachrichten waren unbeantwortet geblieben. Am frühen Morgen hatte sie sich in der Bäckerei krankgemeldet. Ihr schlechtes Gewissen über diese Lüge versuchte sie damit zu beruhigen, dass sie jetzt, da ihre beste Freundin mit deren Tochter verschwunden war, schließlich keine Brötchen verkaufen konnte!

      Mit ihrem roten Fiat düste Levke von Landkirchen los in Richtung Katharinenhof, zu Sylkes kleinem, aber sehr gemütlichen Haus. Es lag still und verloren da. Schon als Levke vor dem Haus parkte, spürte sie die Leere. Sylke hatte im Sommer normalerweise bereits morgens die


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