Klippenfall. Meike Messal
dachte sie manchmal bitter. Sie und Emmi waren sich ähnlicher, als sie zugeben wollte. Einzelgängerinnen. Dass sie seit der Schulzeit in Levke so eine gute Freundin gefunden hatte, die zu ihr hielt mit all ihren Macken, das war wirklich ein Geschenk.
Kai war einer ihrer wenigen männlichen Freunde. Obwohl »Freund« schon zu viel war, eher ein guter Bekannter. Kai, sein bester Kumpel Udo, Levke und sie gingen manchmal zusammen ein Bier trinken. Na ja, sehr selten. Denn Sylke hatte kaum Zeit. Der Laden, Emilie – da fiel sie am Wochenende meist einfach nur erschöpft aufs Sofa und freute sich, wenn sie es schaffte, nicht vor zehn Uhr abends einzuschlafen. Kai und Udo waren echte Nordlichter, rau im Ton, aber das Herz am rechten Fleck. Manchmal glaubte sie, dass Kai auf sie stand, jedoch wusste, dass seine Zuneigung von ihr nicht erwidert wurde. Er war nie verheiratet gewesen, überhaupt konnte sich Sylke nicht daran erinnern, dass er jemals eine Freundin gehabt hatte. Zwar redete er mal hier und da von einer Bekanntschaft, aber Sylke hatte das Gefühl, dass er das mehr aus Prahlerei tat und er ihr imponieren wollte. Er hatte allerdings verstanden, dass es mit ihnen niemals etwas werden würde.
Was für eine Truppe ... Eine beziehungsunfähige Frau, ein Mann, der vielleicht noch Jungfrau war – wer wusste das schon? Ein gutmütiger Nordbär und eine lebenslustige Levke, die irgendwie nicht hineinpasste und gerade deshalb den Laden zusammenhielt. Nein, unmöglich, dass Udo und Kai etwas mit der Sache zu tun hatten.
Sylke versuchte, sich an all die Touristen zu erinnern, die in den letzten Wochen in ihrem Laden gestöbert hatten. So viele hatten sich dort umgesehen. Obwohl sich eigentlich mehr Frauen zu ihr verirrten. Welche Männer hatten bei ihr eingekauft? Da war einer gewesen, der gleich zehn Taschen gewollt hatte. Und ein anderer, der sich stundenlang nicht für einen Schal entscheiden konnte. Und der, der sie fast einen ganzen Vormittag auf Trab gehalten hatte, sich alles zeigen ließ, um zum Schluss nur mit einer Taschentuchhülle für fünf Euro zu gehen. Keiner von denen hatte auch nur annähernd so ausgesehen wie der Mann, der sie verschleppt hatte.
»Du musst dich erinnern!« Sie presste eine Faust an ihre Schläfe. Aber so sehr sie in ihrem Gedächtnis kramte, sie fand sein Gesicht nirgendwo.
12
Sylke erwachte, weil sie nicht genügend Luft bekam. Erschrocken keuchte sie auf, setzte sich ruckartig hin. Emilies Arm rutschte von ihr herunter. Puhh, es war bloß Emmi gewesen, sie hatte im Schlaf nach ihr gegriffen, zu fest, wie eine Klammer. Sie hörte, wie ihre Tochter sich bewegte. Dann ihre zögerliche Stimme: »Mama?«
»Ich bin hier.« Sofort tastete sie nach Emilies Hand, drückte sie. Es war noch immer stockdunkel. »Ich bin hier«, wiederholte sie, schmiegte sich an ihre Tochter und umfasste sie, hielt sie.
»Ich dachte für einen Moment, ich hätte all das nur geträumt.« Emmis Stimme klang dünn, ein Papier, kurz davor zu zerreißen.
»Es ist alles gut. Wir sind zusammen.« Sylke versuchte, zuversichtlicher zu klingen, als sie war.
Emilie durchschaute sie sofort. »Nichts ist gut. Irgendjemand hält uns hier gefangen.«
Sylke drückte Emmi an sich. Sie war froh, dass ihre Tochter endlich wieder sprach. »Kennst du ihn?«, fragte sie schnell. »Ich glaube, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Ich erinnere mich nur nicht, wo.« Als Emilie nicht antwortete, musste Sylke schlucken. Bitte, lass sie nicht wieder schweigen, dachte sie.
»Ich ... ich ... bin mir nicht sicher.« Emilie flüsterte.
»Okay. Das macht nichts. Wir finden es heraus!« Sylke streichelte über Emilies Hand, dankbar dafür, dass ihre Tochter überhaupt etwas sagte. »Ich habe ihn schon mal gesehen, glaub ich, und du vielleicht auch«, sinnierte sie, »dann kommt er bestimmt aus deinem Umfeld. Schule, wahrscheinlich. Kann es ein Vater sein? Ein Lehrer?«
Diesmal wartete sie länger auf Emilies Antwort. Sie schien krampfhaft nachzudenken. »Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie schließlich. »Ein Lehrer auf keinen Fall, die kenne ich alle mehr oder weniger. Ein Vater? Vielleicht. Ich hab ja nicht so viel Kontakt zu den anderen.«
Das war untertrieben. Emmi hatte keine Freundin, niemanden, mit dem sie sich nachmittags verabredete. Immer nur das Meer. Das Meer und die Bücher. Wie oft hatte Sylke versucht, Kontakte herzustellen, Emilie dazu zu bewegen, sich mit einer Klassenkameradin zu treffen. Aber Emmi wollte nicht. Absolut gar nicht. Ihre Tochter war ihr zu ähnlich. Inzwischen hatte Sylke längst aufgegeben. Emmi kam jetzt in die 7. Klasse, da konnte sie nicht mehr über ihre Freundinnen bestimmen. Oder Nicht-Freundinnen, wies sie sich selbst zurecht.
Sie verdrängte die Gedanken. »Emmi?« Vorsicht in ihrer Stimme.
»Hmm?«
»Wir waren getrennt. Kannst du mir sagen ...« Sie stockte, hatte selbst Angst vor der Antwort.
»Er hat mir nichts getan.« Emilie nuschelte in das Kissen.
Sylke schloss für einen Moment die Augen. »Wo ... wo hat er dich denn hingebracht?«
»Keine Ahnung.« Jetzt war Emilie besser zu verstehen, sie hatte den Kopf zu ihrer Mutter gedreht. »Ich bin in einem Raum aufgewacht. Auf einer Matratze.«
»Was für ein Raum?« Warum musste sie ihr bloß alles aus der Nase ziehen? Mühsam versuchte Sylke, ihre Ungeduld zu unterdrücken, sie nicht in ihre Stimme zu lassen.
»Es war ein kleines Zimmer, viel kleiner als dies hier. Ein Abstellraum, oder so was.« Endlich schienen Emilie die Wörter leichter über die Lippen zu kommen. Ermutigend drückte Sylke Emmis Hand. Die sprach auch gleich weiter: »Außer der Matratze passte nicht viel rein. Kein Fenster. Ich hab da gelegen, stundenlang. Und irgendwann kam er.«
Sylke hielt die Luft an. »Und dann?«, presste sie heraus, als Emilie nicht weiterredete.
»Er, er ...«
»Ja?« Sylke erstarrte innerlich, wappnete sich für die Antwort, hatte er versucht … »Bitte, Emmi, sag es mir.«
»Er hatte eine Waffe.« Emilie schoss die Wörter heraus, abgehackt.
Sylke stockte der Atem. »Er hat dich mit einer Waffe bedroht?«
Sie spürte Emilie nicken. »Es war eine Pistole, glaube ich, genau wie in den Krimis im Fernsehen. Er hat gesagt, dass ich tun soll, was er sagt, sonst ...«
»Oh Emmi!« Sylke drückte ihre Tochter fester an sich.
»Dann musste ich mir ein Tuch um die Augen binden. Er hat mich am Arm gepackt und wir sind hierhingelaufen.«
»Okay.« Sylke schloss erneut die Augen, versuchte, das Gehörte einzuordnen. »Wie weit war es von dem Raum hierher?«
Emilie zuckte mit den Schultern. »Nicht so weit. Ich bin ein paar Schritte gegangen, dann hat er mich angehalten. Er machte etwas, es hörte sich an, als würde er eine Tür aufschließen. Anschließend mussten wir eine Treppe runtergehen. Links war eine Wand. An der hatte ich meine Hand, um nicht zu fallen. Rechts hielt er mich fest.«
»Gut, Emmi. Dann sind wir, wie ich schon vermutet habe, wohl in einem Keller. Und wenn du oben in einem Raum warst, dann ist das hier bestimmt ein Haus. Ein Haus, in dem er mit einer Waffe ein Mädchen mit Augenbinde herumführen kann. Ein Einzelhaus.« Sylke hatte immer schneller geredet. Viel war das nicht, aber besser als nichts. Ein Mann, ein Haus, eine Waffe.
»Mama?« Emmis Stimme hörte sich auf einmal wieder dünn an.
»Ja?«
»Warum sind wir hier?«
Sylke atmete tief ein. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. Den Rest wollte sie nicht laut aussprechen: Der Grund, warum ein Mann allein in einem Haus zwei Frauen gefangen nahm. In einem Keller. Man musste kein Genie sein, um sich vorzustellen, was er im Schilde führte. Doch bisher hatte er ihnen noch nichts getan. Eine Schonfrist. Und in dem Moment fasste Sylke einen Entschluss. Sobald er kam, würde sie ihm einen Deal anbieten. Was immer er auch wollte, was immer er verlangte, sie würde sich dem nicht verschließen. Sie würde alles tun, wenn es sein musste, bis sie starb. Aber er musste ihre Tochter gehen lassen.
Sylke