Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
Daniel Becker
DIE DREI EMIGRATIONEN DER SONJA BERG
Biografie einer jüdischen Familie
Erste Auflage 2022
© Osburg Verlag Hamburg 2022
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg
Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
ISBN 978-3-95510-278-4
eISBN 978-3-95510-287-6
Ach, und du glaubst wirklich, das Vergessen habe das letzte Wort?
Hirsch Oscherowitsch
Inhalt
Filmsequenz
Wenn mir Sonjas Erzählung in den Sinn kommt, beginnt sie stets mit folgender Szene, wie die Anfangssequenz eines Films:
Russland, Oktober 1918. Ein Mädchen, etwa 15 Jahre alt, sitzt in einem Zugabteil. Die langen, schwarzen Locken schauen unter einer Mütze hervor. Sie trägt einen ordentlichen Mantel und Knöpfstiefel. Im Gepäcknetz liegen mehrere Koffer und Taschen, manche stehen auch neben ihr auf dem Boden. Das Mädchen ist allein unterwegs. Sie weiß nicht genau, wohin der Zug fährt. Auch wo ihre Eltern sind, weiß sie nicht. Sie ist ängstlich, fängt an zu weinen. Dann wischt sie die Tränen ab, holt aus einer grauen Papiertüte ein Butterbrot und beißt hinein.
Wie die Geschichte begann
Ich lernte Sonja und Heinz Berg im Frühjahr 1987 kennen. Damals ging ich in die 12. Klasse, im Geschichts-Leistungskurs behandelten wir die Oktoberrevolution. Davon war ich fasziniert, ich wollte genau wissen, was sich abgespielt hatte. Aus den Zahlen und Ereignissen, die in meinem Geschichtsbuch standen, ergab sich für mich kein schlüssiges Bild. Wie hatte die mächtige Sowjetunion aus chaotischen Anfängen entstehen können? Wie fühlt sich eine Revolution aus Sicht der Menschen an?
Es war nicht nur historisches Interesse. Ich wollte hinter den Eisernen Vorhang schauen, den es damals noch gab und der noch lange bleiben würde, wie alle dachten. Allerdings hatte Gorbatschow ihn ein kleines Stückchen zurückgezogen. Das machte mich neugierig. Perestroika und Glasnost, seine Begriffe für den Wandel, waren in aller Munde. Reformen in den sozialistischen Staaten – jetzt schienen sie erreichbar zu werden. Nicht nur ich glaubte das. Aber was musste man reparieren, was abschaffen? Was war überhaupt gut gewesen, was schlecht? War die Revolution einfach irgendwo falsch abgebogen, und wenn ja, wann? Wie sollte man das herausfinden, Dinge besser machen? Solche aus heutiger Sicht naiven Fragen stellte ich mir.
Die öffentliche Meinung der damaligen Bundesrepublik war geprägt durch die ›Westbindung‹. In erster Linie war das eine deutliche Gut-Böse-Einteilung der Welt, in zweiter brachte sie ein totales Desinteresse am Leben der Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs mit sich. Die Sowjetunion war abgeschottet, Informationen aus erster Hand so gut wie nicht zu bekommen – im Vergleich mit heutigen Kommunikations- und Reisemöglichkeiten unvorstellbar. In der damaligen Bundesrepublik lebten nur wenige Russen. Reisen in die Sowjetunion waren ausschließlich in Gruppen mit offiziellem Reiseführer möglich und auf wenige vorgegebene Ziele beschränkt. Wenn man etwas darüber zu lesen bekam, hatte es meist eine ideologische Färbung: im Westen antikommunistische Schreckensberichte oder von jenseits des Vorhangs östliche Propaganda, begleitet von seltsam blassen Farbfotos. Was lag zwischen diesen Extremen?
Ich lieh mir Bücher aus der Bibliothek, versuchte die Russische Revolution und die daraus hervorgegangene Gesellschaft zu begreifen. Doch in den Texten, die ich damals vorfand, enttäuschte mich die schematische, theorielastige Darstellungsweise. Erlebnisse von Menschen aus der Revolutionszeit kamen nicht vor, waren verschüttet unter einem riesigen