Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
Speiseregeln nicht einhielten – zum Beispiel sollten Milch und Fleisch streng getrennt voneinander aufbewahrt und gegessen werden –, dass sie sich weigerte, bei uns etwas zu essen und über Nacht zu bleiben.
Meine Eltern haben nicht religiös gelebt, aber die jüdische Herkunft war ihnen bewusst. Mein Vater war trotz geringer Schulbildung ein durch und durch weltläufiger Mann. Obwohl er nicht freiwillig konvertiert war, kann ich mir vorstellen, dass es für ihn eine Befreiung darstellte, dem provinziellen jüdischen Milieu in Richtung Petersburg entkommen zu sein. Auch seine drei Brüder lebten später dort und waren erfolgreich. Jeannot wurde Arzt, Arthur und Ludwig führten gemeinsam eine Apotheke. Nur seine Schwester blieb in Mitau. Es hieß, sie habe einen Taugenichts geheiratet.
Nun aber zu meiner Mutter. Sie stammte aus einem ganz anderen Milieu – auch jüdisch, aber schon lange assimiliert. Meine Mutter wurde – wie mein Vater – 1861 geboren, und zwar in Berlin. Das prägte unser Schicksal insofern, als es nach unserer Flucht aus Russland nahelag, dort neu zu beginnen, wo es noch Verwandte und Freunde gab. Die meisten Berliner sind ja gar nicht aus Berlin, so sagt man sicher zu Recht. Aber meine Mutter war von ihrem Naturell her eine Ur-Berlinerin – und obendrein wirklich dort geboren – ausgestattet mit dem dazugehörigen Witz für jede Lebenslage. Das blieb so ihr ganzes Leben lang. Sie war absolut unverwüstlich, egal was auch passierte!
Meine Mutter hieß Flora, vor ihrer Heirat war ihr Nachname Blumenthal – sehr hübsch ist das, nicht wahr? Flora Blumenthal! Ihre Eltern suchten den Vornamen aber nicht passend zum Nachnamen aus, was man vielleicht meinen könnte, sondern sie wurde nach ihrer Mutter genannt, zur Erinnerung, denn die starb im Kindbett. Meine Mutter hatte eine zwei Jahre ältere Schwester, Sophie, nach der ich benannt bin. Sonja ist eine russische Kurzform des Namens. Die beiden Mädchen wuchsen bei einer Halbschwester der Mutter – Tante Bertha – auf. Denn der Vater, Isidor Blumenthal – er muss sehr jähzornig gewesen sein – hatte sich mit der gesamten Verwandtschaft verkracht und brannte durch. Das klingt nach schlimmen Verhältnissen, aber meine Mutter hatte dennoch eine unbeschwerte Kindheit, die für die damalige Zeit ziemlich frei und unkonventionell verlief.
Meine Mutter hat herrliche Kindheitserinnerungen verfasst. Darin schildert sie das Alt-Berliner Milieu, in dem sie aufwuchs, in den Jahren vor der industriellen Revolution, als die Stadt verglichen mit heute noch recht beschaulich war.
Tante Bertha besaß ein Mietshaus in der Holzmarktstraße 61, in dem sie mit den beiden Mädchen in einer kleinen Erdgeschosswohnung lebte. Im Hinterhof hatten Handwerker ihre Werkstätten. Nichts davon steht mehr, es war in etwa dort, wo heute die S-Bahnstation Jannowitzbrücke liegt.
Tante Bertha muss eine gutmütige und nicht sehr durchsetzungsstarke Frau gewesen sein, die zwar auf gute Bildung achtete, den Kindern aber viel Freiheit ließ. Meine Mutter beschrieb anschaulich die wilden Spiele mit den Nachbarskindern im Hof und auf der Straße. Gleich gegenüber lag die Spree, dort lernte meine Mutter in einer ›Fluss-Badeanstalt‹ schwimmen. Unter den beiden Schwestern war Sophiechen die wagemutige, die ihre kleine Schwester wie eine Löwin beschützte. Sophie hatte sich durch allerhand Streiche den Spitznamen ›Emil‹ erworben. Einmal hatte sie beschlossen, ihre Schularbeiten hoch oben in der Astgabel eines Baums im Hinterhof zu erledigen. Ihr französischer ›Ploetz‹, aus dem sie lernen sollte, fiel herunter, und bei dem Versuch, ihn aufzufangen, landeten beide, Buch und Kind, kopfüber in einem großen Wasserfass, das gleich darunter stand. Gerettet wurde sie von ›Mutter Mielitz‹, der Frau eines Glasers, dessen Werkstatt im Hof lag. Sie hatte ein Auge auf alles, was dort geschah. Meine Mutter konnte viele solcher Geschichten erzählen, die sich heute ausnehmen wie Straßenszenen von Heinrich Zille.
Meine Mutter bewunderte Sophiechen für ihren Mut und wollte immer so sein wie sie. Daraus erklärt sich das enge Verhältnis zu ihrer Schwester. Das ist insofern hier von Bedeutung, weil es sie später nach Petersburg führte. Das trug sich so zu: Als Sophiechen gerade 18 Jahre alt war, verliebte sie sich unsterblich in einen gewissen Benno Becker. Sie war jung und hübsch und hatte viele Verehrer. Benno sah weder gut aus noch hatte er Manieren, aber Sophie sagte: ›Diesen oder keinen!‹ und heiratete ihn, zur grenzenlosen Enttäuschung der gesamten Verwandtschaft. Mit geliehenem Kapital eröffnete Benno ein Textilgeschäft an der Landsberger Straße (heute Landsberger Allee). Die lag in den östlichen Randbezirken Berlins und galt weiß Gott nicht als gute Gegend. Damit nicht genug: Sophiechen stand den ganzen Tag mit Benno im Laden – das gehörte sich nach damaligen Ansichten gar nicht für eine Frau aus ihrer Gesellschaftsschicht, und nach Feierabend ging sie mit ihm und seinen Geschäftsfreunden zu Kegelabenden und zum Bier …
Nachdem das etwa zwei Jahre so gegangen war, waren eines Tages Benno und Sophie plötzlich verschwunden. Es stellte sich heraus, dass Benno Bankrott gemacht hatte und, um die Schande noch zu vergrößern, ins Ausland ›getürmt‹ war. Die Begleichung der Schulden überließ er großzügig seinem Bruder. Du kannst dir ungefähr vorstellen, was da in der Verwandtschaft los war!
Nach ein paar Monaten erhielt Flora einen Brief von Sophiechen – aus St. Petersburg. Dort versuchten sie, mit nichts in der Tasche neu anzufangen. Das Ganze war ein ziemliches Husarenstück. Beide sprachen kein Wort Russisch und kannten niemanden. Als sie, so gut wie mittellos, dort umherliefen, trafen sie durch Zufall einen alten Schulfreund von Benno, der gerade am Newski-Prospekt ein Krawattengeschäft eröffnet hatte – damals waren Krawatten dort neueste Mode. Sophiechen konnte gut schneidern, und so wurden sie schnell einig, dass Sophiechen für sein Geschäft Krawatten nähen sollte. Benno würde beim Verkauf helfen. In den ersten Jahren klappte das mehr schlecht als recht. Benno versuchte, ein eigenes Geschäft zu eröffnen und machte mehrmals Pleite. Das Geld reichte hinten und vorne nicht, vier Kinder wurden geboren, Sophie nähte und stand den ganzen Tag im Laden.
Nachdem ein paar Briefe mit solchen Nachrichten gekommen waren, entschloss sich meine Mutter, zu ihr zu fahren und sie zu unterstützen. Ab 1883 verbrachte sie jedes Jahr ein paar Wochen, manchmal sogar Monate, bei den Beckers in Petersburg. Mit der Zeit kamen sie besser zurecht, Benno wurde schließlich doch ein erfolgreicher Geschäftsmann mit eigenem Unternehmen, und später, als ich schon auf der Welt war, waren Beckers unsere reichen Verwandten.
Aber zurück zu meiner Mutter – ich war noch bei den Jahren, als sie in Berlin lebte. Die Berliner Verwandten erwarteten, dass meine Mutter demnächst heiraten und eine ›gute Partie‹ machen werde – hoffentlich eine bessere als Benno! Durch das Erbe ihrer Mutter, von einem Onkel treuhänderisch verwaltet, war sie materiell abgesichert. Sie hatte durchaus viele Verehrer, aber sie konnte und konnte sich nicht für den richtigen Mann entscheiden. Die sorgsam arrangierte Verlobung mit einem gut situierten Fabrikanten von Möbelstoffen (›Gardinenfransen‹, sagte meine Mutter) löste sie nach einigen Wochen wieder, weil er ihr viel zu langweilig war, sehr zum Verdruss der Verwandtschaft. So vergingen mehrere Jahre. Mit Ende zwanzig galt man damals als alte Jungfer. Auch Sophie und Benno setzten alles daran, sie bei ihren Besuchen in Petersburg mit geeigneten Kandidaten in Verbindung zu bringen. Opern- und Konzertbesuche mit Bennos Geschäftsfreunden wurden arrangiert, aber immer hatte meine Mutter etwas auszusetzen und sagte Nein. Schließlich setzte Benno ihr die Pistole auf die Brust: ›Jetzt stelle ich dir noch einen vor. Im Ernst: wenn du den nicht nimmst, schmeiß’ ich dich raus!‹
Na, was soll ich sagen. Zum Glück sagte Flora Ja zu ihm. Dieser eine war der Textilkaufmann Gustav Hackel, der ›kleine Hackel‹, wie Beckers ihn nannten. Meine Mutter pflegte zu diesem Thema zu sagen: ›Wenn er auch nur ein bisschen größer gewesen wäre, hätt’ ich ihn nicht genommen. Denn dann hätte er einfach zu gut ausgesehen!‹
Flora durfte also weiterhin zu den Beckers kommen – und meine späteren Eltern hielten im Jahr 1890 in St. Petersburg Hochzeit. (Was für ein Glück, dass sie Ja gesagt hat! Sonst säßen wir jetzt wohl nicht hier.)
So kam es, dass meine Eltern dort ansässig wurden und wir Kinder alle in Petersburg zur Welt kamen.
Ja, wie war das Leben zur damaligen Zeit? Ich kann aus eigenem Erleben nur über die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erzählen. Ich war ein Nachzügler, 1903 geboren. Meine Brüder waren alle deutlich älter. Sie und auch meine Mutter haben mir oft von den Jahren davor erzählt. Und dann gibt es unzählige alte Briefe – die sind etwas besonders Schönes, weil die Art ihrer