Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
Eine größere Deutschlandreise mit Station bei den Verwandten in Berlin unternahmen sie erst 1898, als meine Brüder im Vorschulalter waren. Meine erste Deutschlandreise war im Sommer 1908, als ich vier Jahre alt war. Alle zusammen fuhren wir über Elbing nach Berlin und von dort weiter nach Süddeutschland.
Gelegentlich verreisten meine Eltern zu zweit. Dann ließen sie uns für zwei, drei Wochen in der Obhut von Tante Jenny und Onkel Paul in Elbing zurück. Meine Eltern fuhren zusammen nach Venedig, Tirol oder in die bayerischen Alpen zum Wandern. Meinem Vater tat Bergluft sehr gut. Vor meiner Geburt war er längere Zeit ernsthaft krank gewesen. Als starker Raucher hatte er sich eine chronische Halskrankheit zugezogen, Verdacht auf Krebs, aber damals gab es dazu keine präzisen Diagnosen. Im Jahr 1901 musste er in ein Sanatorium nach Davos in der Schweiz. Der Arzt riet ihm, möglichst wenig zu sprechen. Das hielt er drei Monate lang so eisern durch, dass die anderen Patienten ihn nur ›den verrückten Russen‹ nannten, weil er kein Wort sagte – denn den Russen wurde immer nachgesagt, ein sehr lautstarkes Auftreten zu haben. Und tatsächlich konnte mein Vater geheilt werden.
Meine Mutter litt unter den endlos langen Wintern in Petersburg. Oft fiel schon im September Schnee, und er verschwand meist erst im April. Dazu die Dunkelheit – im Dezember und Januar wurde es gar nicht richtig hell. Ich selbst habe an den dortigen Winter schöne Erinnerungen: Die Iswostschiks, von Pferdchen gezogene Mietdroschken wurden, sobald der Schnee kam, zu Schlitten umgebaut. Das war herrlich, der Kutscher saß mit schwerem Pelzmantel und Pelzmütze vor einem, man selbst wurde in dicke Felldecken eingepackt, und dann ging es für 10 Kopeken mit klingelnden Glöckchen durch die verschneite Stadt.
Nach den langen Wintermonaten nutzte man die kurzen Sommer umso intensiver. Als wir Kinder klein waren, mieteten meine Eltern meist auf dem Land eine Datscha, ein einfaches Holzhaus, wo wir drei Monate wohnten, von Mitte Mai bis Mitte August. Diese nordischen Sommer sind unbeschreiblich, noch heute habe ich danach Sehnsucht.
Der Umzug aufs Land war immer eine größere Unternehmung, da der ganze Hausrat mitmusste. Er wurde auf einen Pferdewagen verladen. Wir reisten per Eisenbahn. In der Umgebung von Petersburg gab es viele Ferienorte für die Städter, weitläufige Siedlungen schlichter Holzhäuser mit schön geschnitzten Veranden, die auf großen Wald- oder Wiesengrundstücken standen. Als wir Kinder klein waren, suchten meine Eltern Datschen aus, die schnell mit dem Zug erreichbar waren, Pargolowo, Schuwalowo oder Lewaschowo. Als wir größer waren, fuhren wir weiter weg an die finnische Küste.
Besonders an den Ort Terijoki2 habe ich wunderschöne Erinnerungen. Er liegt etwa 50 km nordwestlich der Stadt, in Karelien, das damals zu Finnland gehörte. Dort verbrachten wir mehrere Sommer. Terijoki war ein Fischerdorf. Wir wohnten in einem zweistöckigen möblierten Holzhaus. Drum herum lagen blühende Wiesen. Der Strand war nicht weit, wir konnten baden gehen und ließen im flachen Wasser Schiffchen schwimmen. Wir spielten den ganzen Tag draußen oder saßen zusammen auf dem Balkon, wo meine Brüder mit meinem Vater stundenlang Schach spielten.
Oft mieteten wir eine Datscha gemeinsam mit Beckers oder den Brüdern meines Vaters. So hatten wir Gesellschaft. Die Kinder von Beckers waren etwa gleich alt mit meinen Brüdern. Meine Cousinen väterlicherseits, Nora und Eva Hackel, waren ungefähr in meinem Alter.
Wir suchten zusammen Blaubeeren und Pilze. In Terijoki brachten uns die finnischen Fischer jeden Tag frischen Fisch ins Haus. Für unsere Lebensmittel wurde in einem Hügel neben dem Haus eine seitliche Vertiefung ausgegraben. Die wurde mit Eisbarren ausgelegt, die man hin und wieder erneuern musste. Das war der sogenannte Lednik, unser Kühlschrank.
Während unsere Familie die Sommermonate auf der Datscha verlebte, musste mein Vater meist arbeiten, dennoch versuchte er, so viel Zeit wie möglich bei uns zu verbringen. Oft fuhr er von der Datscha aus täglich in die Stadt. Das muss ziemlich anstrengend für ihn gewesen sein. Nach Terijoki dauerte es pro Strecke über zwei Stunden. Während der Zeit der ›weißen Nächte‹ gingen wir Kinder abends oft zur Bahnstation und holten ihn ab.
So unbeschwert die Sommer in Finnland und unser Familienleben im Alltag auch waren – die Zeiten, in denen wir lebten, waren politisch unruhig. Meine Eltern nahmen das aufmerksam wahr. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Zeitungsleser und über russische und internationale Politik immer bestens informiert. Mit Sicherheit war ihm klar, wie desolat das Zarenregime war. Aber er war auch ein glühender russischer Patriot. Meine Mutter erzählte mir später, dass er in Tränen ausgebrochen sei, als er von der schweren Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg 1904 erfuhr. Meine Mutter hatte zu den Verhältnissen in Russland eine wesentlich distanziertere Haltung. In ihren Briefen an Jenny äußerte sie oft, sie hätte es lieber gesehen, wenn ihre Kinder in Deutschland aufgewachsen wären. Sie fürchtete um unsere Zukunft in diesem instabilen und zutiefst rückständigen Land. St. Petersburg mit all seiner Pracht war zwar eine europäisch geprägte Stadt, die sich in mancher Hinsicht mit London oder Paris messen konnte. Aber Regierung und Verwaltung waren korrupt und unfähig. Alle paar Jahre brachen Epidemien aus, Cholera oder Ruhr. Das muss man sich in so einer Großstadt mal vorstellen. Dann waren die Schulen und die meisten öffentlichen Einrichtungen wochen- oder monatelang geschlossen, jeder Kontakt mit Menschen konnte lebensgefährlich sein. Wir mussten zu Hause alles Wasser abkochen, manchmal auch das über Monate hinweg. Meine Mutter erzählte besonders von einer der Cholera-Epidemien. Sie konnte von Sommer 1908 bis März 1909 nicht unter Kontrolle gebracht werden. Mir ist davon im Gedächtnis geblieben – ich aß zum Frühstück immer am liebsten Obst –, dass dies plötzlich zu meinem großen Verdruss streng verboten war wegen der Keime, was ich nicht begreifen wollte.
Trotz solcher Misslichkeiten ging es uns im Grunde sehr gut. Die starken Gegensätze, die Russland seit jeher prägten, zeigten sich auch in Petersburg. Die Stadt war erst 1703 gegründet worden. Peter der Große hatte Tausende von Leibeigenen gezwungen, ihm diese neue Hauptstadt zu bauen. Mitten in einem Sumpf, hoch im Norden, unter unvorstellbar harten Bedingungen. Zustände ähnlich der Sklaverei! Die Leibeigenschaft wurde erst 1861 abgeschafft. Und auch zu unserer Zeit noch war die soziale Lage der ärmeren Bevölkerungsschichten katastrophal. Die Menschen wohnten in unbeschreiblichen Elendsquartieren, viele hatten nicht einmal ein eigenes Bett. Die berüchtigten Kellerwohnungen wurden regelmäßig vom Hochwasser überschwemmt. Man hätte schon lange an bestimmten Stellen Dämme gegen das Wasser bauen müssen, aber die Regierung verschleppte es immer wieder.
Am 9. Januar 1905 kam es zu einer Massendemonstration für Reformen – Verfassung, Wahlrecht, Achtstundentag. Auslöser waren die sozialen Missstände im Land, die sich nach dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg verschärft hatten. Vor dem Winterpalais, dem Wohnsitz des Zaren, eröffnete die Armee ohne Ankündigung das Feuer auf die friedlichen, eigentlich zarentreuen Demonstranten, weit über 100 Menschen starben. Meine Mutter hätte in diesem Moment am liebsten die Koffer gepackt und wäre mit uns nach Deutschland gefahren. Nach diesem als ›Blutsonntag‹ in die Geschichte eingegangenen Datum kam es zu revolutionsartigen Unruhen, die das ganze Jahr über anhielten. Die Regierung konnte Pressezensur und Versammlungsverbote nicht mehr durchsetzen, sodass große Demonstrationen und Protestversammlungen stattfanden. Erstmals gab es in Russland eine ›kritische Öffentlichkeit‹. Die Schulen wurden geschlossen und das öffentliche Leben durch einen Generalstreik der Arbeiterbewegung lahmgelegt.
Gegen Ende des Jahres wurde der Volksaufstand gewaltsam beendet. Meine Eltern waren einerseits erleichtert, dass die damit verbundene Gefahr vorüber war. Andererseits waren sie, was die politische Zukunft Russlands betraf, sehr unzufrieden. Die dringend nötigen Reformen schienen in weite Ferne gerückt und spätere Wiederholungen revolutionärer Unruhen wohl unvermeidlich.
Auch der Antisemitismus flackerte in diesen Jahren wieder auf, es kam in vielen russischen Städten zu mörderischen Judenpogromen, angeheizt von der Geheimpolizei. Meine Eltern wollten um jeden Preis, dass uns Nachteile im Zusammenhang mit der jüdischen Herkunft unserer Familie erspart blieben.
Meine Mutter war bereits kurz nach ihrer Geburt in Berlin evangelisch getauft worden, mein Vater war bei seiner Übersiedelung nach Petersburg konvertiert. Mit der jüdischen Familienherkunft identifizierten sich meine Eltern in kultureller Hinsicht, und dieses Bewusstsein gaben sie auch an uns weiter. Aber religiös hatten sie mit dem Judentum keine Berührungspunkte mehr. Wir Kinder wurden alle gleich nach