Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
der Schule, und die Elektrizität brennt nicht, beides aus demselben Grund: Überschwemmung. Heute Morgen sah es schrecklich aus, die Straßen ganz überschwemmt. Seit mehr als 100 Jahren soll da Remedur geschaffen werden, aber der berühmte Schlendrian.
Und etwa um dieselbe Zeit:
Mir tut es leid, dass die Jungen Russen geworden sind, sie sind selbst aber sehr zufrieden damit. Wo soll’s auch herkommen? Bei jeder freien Meinungsäußerung heißt es von allen Seiten: um Gottes willen den Mund halten! Unsere Auslandsstudenten12 sind ganz anders. Was wird aus meinen kleinen Russen werden? Ich bin wie die törichte Else im Grimmschen Märchen und gräme mich jetzt schon um alles, was nicht aus ihnen werden kann.
Den Russisch-Japanischen Krieg 1904 sieht Flora schon als Vorboten weit schlimmerer Ereignisse, sie schreibt an Jenny:
Wer weiß, zu wessen höherer Ehre ich dereinst meine Jungen totschießen lassen muss!
Im gleichen Jahr, als Gustav in einer Lotterie eine größere Summe gewinnt und davon ein Bankkonto für Sonjas spätere Aussteuer anlegt, ist Flora strikt dagegen – sie blickt skeptisch in die Zukunft:
Ich bin eine schlechte Mutter, denn wenn ich das Geld gewonnen hätte, so hätte ich nicht für Sonetschka weggelegt, sondern zunächst einmal eine feine Reise gemacht, die wieder eine goldene Erinnerung fürs Leben hätte werden können und uns allen somit bessere Zinsen tragen könnte, als Sonja das schnöde Geld. Muss denn in 20 Jahren das Mädel auch noch eine Mitgift haben? Und wenn in Russland alles drunter und drüber geht, wird dies Geld gerade festliegen? Und wenn man das Geld hat, kriegt man darum einen besseren Mann?
Die Ereignisse der Revolution von 1905 kommentiert sie so:
26. Oktober 1905
Eben kommt Bobby nach Hause; die Kinder sind aus der Schule entlassen. ›Goworjat bunt‹13. Es wird ernst. Möchtest du gern in einer historischen Zeit leben? Hätte ich die Kinder im Ausland, zum Beispiel bei dir, dann glaube ich, wäre ich bereit, die Sache als historisch interessant zu betrachten. Danke! Aber schicken kann ich sie dir nicht, denn erstens geht keine Eisenbahn und zweitens geht überhaupt nichts. Meine Kinder hätte ich auch lieber nach deutschen Prinzipien in Deutschland erzogen, da sie nun einmal Russen sind, so heißt es doch damit fertig werden. Was aus dem Sturm der Bastille, des politischen Gefängnisses, das auf der Wyborger Seite14 ist, geworden ist, die für Nachmittag geplant war, weiß ich nicht. Gus ist mit den Jungen hingegangen, sich die Demonstrationen ansehen, ich wäre auch mitgegangen, aber Bob ist bettlägerig, und das Stubenmädchen hat eine starke Angina. Dass wir totgeschlagen werden, kann uns allen passieren. Und geschieht es uns, und Sophiechen dazu, dann empfehle ich dir unsere Kinder. Gus glaubt immer noch nicht an eine Gefahr, und das ist gut, sonst wäre es um meinen Mut noch schlechter bestellt. Paulchen sagt, er möchte jetzt in keinem Falle von Petersburg weg; und ich muss sagen, wenn ich die Kinder im Ausland hätte, und unser Geld dazu, würde ich recht ruhig die Sache mit ansehen.
14. November 1905
Seit drei Tagen gehen die Jungen wieder nicht in die Schule, obgleich unsere nicht mitstreikt. In den anderen verlangen die Schüler Rauchzimmer, Versammlungsfreiheit und beratende Stimme in den Lehrerkonferenzen. – Blub! – Paul macht noch nicht mit, trotzdem er seit gestern lange Hosen trägt. Ob Dir die Eisenbahn oder ein deutsches Minenboot diese Briefe zuführen wird? Grüßt herzlich. Sonja quatscht herzerquickend neben mir.
4. Januar 1906
Und so kann ich nicht sagen, dass es schön bei uns wäre. Die Reaktion erhebt mächtig ihr Haupt, wir werden ganz nach altem Regime regiert15, und den Freiheitskampf werden wohl meine Jungens noch mitkämpfen. Hoffentlich fangen sie’s dann besser an wie die armen Verblendeten, die sich schon jetzt stark genug glaubten und im Herrn und Volk auf Beistand rechneten, der versagte. Schade um all die Jugend, die sich hinmorden ließ, schade um all unsere Hoffnungen, die wir nun wohl begraben müssen. Und doch können wir nur mit Freude die Wiederherstellung der Ordnung begrüßen.
22. Februar 1906
Genommen haben mir diese Zeiten etwas, nämlich das Vertrauen in die Zukunft. Wozu erziehe ich meine Söhne? Für die Lunte? Oder als Bombenopfer? An gedeihliche Entwicklung ist auf Jahre hinaus nicht zu denken. Und wie soll ich sie erziehen? Freiheitsdurstig, auf Menschenrecht gehend, oder mit dem Ideal der wohl bestallten Tschinowniks [Beamte] im Auge? Ja, erziehen wir denn überhaupt, erzieht sie nicht die Zeit, in der wir leben? Die allmächtige Zeit und das eherne Schicksal?
Als ich ihre Zeilen lese, bin ich beeindruckt von Floras scharfer Beobachtungsgabe. Nicht nur wegen der bevorstehenden Kriege, sondern auch mit Blick auf die Rolle, die der Antisemitismus im Leben ihrer Kinder noch spielen sollte. Bereits 1895, als Fredy, ihr Zweitgeborener, ein paar Monate alt ist, notiert sie:
Der kleine schwarze Alfred scheint weniger gut getauft, das Näschen zeigt keine Neigung nach oben, und das ist bedenklich. Oder glaubt ihr, dass bis zu seiner Großjährigkeit der Unterschied zwischen Jud’ und Christ vergessen sein wird?
Wenn man die späteren Erlebnisse der Familie Hackel bedenkt, kann man Flora fast hellseherische Fähigkeiten zusprechen!
Im Verlauf meiner Recherche fällt mir noch ein anderes Dokument aus Sonjas Nachlass in die Hände. Es sind Jugenderinnerungen von Sonjas Cousine Eva. Sie war die Tochter von Gustavs jüngerem Bruder, dem Apotheker Ludwig Hackel. Eva stand mit Sonja bis zu ihrem Lebensende in Briefkontakt. Sie schickte ihr die Aufzeichnungen in Erinnerung an die gemeinsame Kindheit. Eine Passage darin beschreibt die Sommerurlaube in Finnland, die Eva ganz ähnlich erlebt hat wie Sonja:
In unseren Sommerferien zog die ganze Familie für drei Monate aus der Stadt hinaus nach Finnland, um dem sehr ungesunden feuchten Klima von St. Petersburg zu entgehen.
Vater blieb zurück und kam nur an den Wochenenden, mit Ausnahme seiner drei Wochen Ferien. Wenn wir auf’s Land zogen nahmen wir buchstäblich alles mit: Blumentöpfe, Spielsachen, kleine Möbelstücke, alles wurde eingepackt und auf einem großen Pferdewagen transportiert. Unsere Köchin und das Kindermädchen fuhren gewöhnlich mit dem Wagen, sie liebten es, langsam zu Pferd unterwegs zu sein.
Die Familie inklusive der Haustiere fuhr mit dem Zug, wir nahmen Goldfische, Vögel und sogar Kaulquappen mit. Auf einer dieser Reisen zerbrach das Glas mit den Kaulquappen, und wir hatten keine andere Wahl, als die Kaulquappen zur Rettung in das Glas mit den Goldfischen zu tun. Ich erinnere mich noch, wie erschüttert ich war, als wir bei unserer Ankunft zwei Stunden später feststellten, dass die Kaulquappen von den Goldfischen verspeist worden waren.
Unsere drei Monate in Finnland waren immer unbeschreiblich glücklich, und ich habe die herrlichsten Erinnerungen daran, mit meinem Vater in den Wald zum Blaubeer- oder Preiselbeerpflücken oder zum Pilzesammeln zu gehen.
Er war Experte für Pflanzen und lehrte uns eine Menge, in dem er jede Pflanze benannte, die wir Kinder pflückten. Er gibt in Finnland zahlreiche Arten essbarer Pilze, und Vater bestand darauf, uns jede einzelne zu zeigen. Auf diese Weise lernten wir schnell zu erkennen, welche giftig waren.
Gewöhnlich hatten wir einen großen Garten um das gemietete Haus, das meine Eltern bereits im April sorgfältig aussuchten.
Wenn irgendwo im Garten Birken standen, nahm Vater das Haus nicht, denn das war ein Anzeichen von Feuchtigkeit. Und dort spielten wir Indianer, Verstecken, oder wir gingen schon vor dem Frühstück Pilze suchen.
Ich erinnere mich besonders an einen Garten, denn er war groß genug, dass ich darin Fahrrad fahren lernte. Am Abend spielten wir unseren Eltern kleine Theaterstücke vor, die wir uns draußen überlegt und eingeübt hatten. Und in den Sommern, in denen wir unsere geliebte Lehrerin Shura bei uns hatten (sie wurde später zu meiner angeheirateten Cousine16) malten wir, modellierten mit Ton und machten Picknick am Meer. Baden und Sandburgen bauen waren unsere größten Vergnügungen.
Wie wunderbar war es, wenn am Freitag Abend Vater herauskam; gewöhnlich holten wir ihn an der Haltestelle der ›Diligence‹ ab (einem Pferdewagen, der ihn von der Bahnstation brachte).
Auf