Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker

Die drei Emigrationen der Sonja Berg - Daniel Levin Becker


Скачать книгу
der Schule, und die Elektrizität brennt nicht, beides aus demselben Grund: Überschwemmung. Heute Morgen sah es schrecklich aus, die Straßen ganz überschwemmt. Seit mehr als 100 Jahren soll da Remedur geschaffen werden, aber der berühmte Schlendrian.

      Und etwa um dieselbe Zeit:

      Den Russisch-Japanischen Krieg 1904 sieht Flora schon als Vorboten weit schlimmerer Ereignisse, sie schreibt an Jenny:

      Wer weiß, zu wessen höherer Ehre ich dereinst meine Jungen totschießen lassen muss!

      Im gleichen Jahr, als Gustav in einer Lotterie eine größere Summe gewinnt und davon ein Bankkonto für Sonjas spätere Aussteuer anlegt, ist Flora strikt dagegen – sie blickt skeptisch in die Zukunft:

      Ich bin eine schlechte Mutter, denn wenn ich das Geld gewonnen hätte, so hätte ich nicht für Sonetschka weggelegt, sondern zunächst einmal eine feine Reise gemacht, die wieder eine goldene Erinnerung fürs Leben hätte werden können und uns allen somit bessere Zinsen tragen könnte, als Sonja das schnöde Geld. Muss denn in 20 Jahren das Mädel auch noch eine Mitgift haben? Und wenn in Russland alles drunter und drüber geht, wird dies Geld gerade festliegen? Und wenn man das Geld hat, kriegt man darum einen besseren Mann?

      Die Ereignisse der Revolution von 1905 kommentiert sie so:

      26. Oktober 1905

      14. November 1905

      Seit drei Tagen gehen die Jungen wieder nicht in die Schule, obgleich unsere nicht mitstreikt. In den anderen verlangen die Schüler Rauchzimmer, Versammlungsfreiheit und beratende Stimme in den Lehrerkonferenzen. – Blub! – Paul macht noch nicht mit, trotzdem er seit gestern lange Hosen trägt. Ob Dir die Eisenbahn oder ein deutsches Minenboot diese Briefe zuführen wird? Grüßt herzlich. Sonja quatscht herzerquickend neben mir.

      4. Januar 1906

      22. Februar 1906

      Genommen haben mir diese Zeiten etwas, nämlich das Vertrauen in die Zukunft. Wozu erziehe ich meine Söhne? Für die Lunte? Oder als Bombenopfer? An gedeihliche Entwicklung ist auf Jahre hinaus nicht zu denken. Und wie soll ich sie erziehen? Freiheitsdurstig, auf Menschenrecht gehend, oder mit dem Ideal der wohl bestallten Tschinowniks [Beamte] im Auge? Ja, erziehen wir denn überhaupt, erzieht sie nicht die Zeit, in der wir leben? Die allmächtige Zeit und das eherne Schicksal?

      Als ich ihre Zeilen lese, bin ich beeindruckt von Floras scharfer Beobachtungsgabe. Nicht nur wegen der bevorstehenden Kriege, sondern auch mit Blick auf die Rolle, die der Antisemitismus im Leben ihrer Kinder noch spielen sollte. Bereits 1895, als Fredy, ihr Zweitgeborener, ein paar Monate alt ist, notiert sie:

      Der kleine schwarze Alfred scheint weniger gut getauft, das Näschen zeigt keine Neigung nach oben, und das ist bedenklich. Oder glaubt ihr, dass bis zu seiner Großjährigkeit der Unterschied zwischen Jud’ und Christ vergessen sein wird?

      Wenn man die späteren Erlebnisse der Familie Hackel bedenkt, kann man Flora fast hellseherische Fähigkeiten zusprechen!

      Im Verlauf meiner Recherche fällt mir noch ein anderes Dokument aus Sonjas Nachlass in die Hände. Es sind Jugenderinnerungen von Sonjas Cousine Eva. Sie war die Tochter von Gustavs jüngerem Bruder, dem Apotheker Ludwig Hackel. Eva stand mit Sonja bis zu ihrem Lebensende in Briefkontakt. Sie schickte ihr die Aufzeichnungen in Erinnerung an die gemeinsame Kindheit. Eine Passage darin beschreibt die Sommerurlaube in Finnland, die Eva ganz ähnlich erlebt hat wie Sonja:

      In unseren Sommerferien zog die ganze Familie für drei Monate aus der Stadt hinaus nach Finnland, um dem sehr ungesunden feuchten Klima von St. Petersburg zu entgehen.

      Vater blieb zurück und kam nur an den Wochenenden, mit Ausnahme seiner drei Wochen Ferien. Wenn wir auf’s Land zogen nahmen wir buchstäblich alles mit: Blumentöpfe, Spielsachen, kleine Möbelstücke, alles wurde eingepackt und auf einem großen Pferdewagen transportiert. Unsere Köchin und das Kindermädchen fuhren gewöhnlich mit dem Wagen, sie liebten es, langsam zu Pferd unterwegs zu sein.

      Die Familie inklusive der Haustiere fuhr mit dem Zug, wir nahmen Goldfische, Vögel und sogar Kaulquappen mit. Auf einer dieser Reisen zerbrach das Glas mit den Kaulquappen, und wir hatten keine andere Wahl, als die Kaulquappen zur Rettung in das Glas mit den Goldfischen zu tun. Ich erinnere mich noch, wie erschüttert ich war, als wir bei unserer Ankunft zwei Stunden später feststellten, dass die Kaulquappen von den Goldfischen verspeist worden waren.

      Unsere drei Monate in Finnland waren immer unbeschreiblich glücklich, und ich habe die herrlichsten Erinnerungen daran, mit meinem Vater in den Wald zum Blaubeer- oder Preiselbeerpflücken oder zum Pilzesammeln zu gehen.

      Er war Experte für Pflanzen und lehrte uns eine Menge, in dem er jede Pflanze benannte, die wir Kinder pflückten. Er gibt in Finnland zahlreiche Arten essbarer Pilze, und Vater bestand darauf, uns jede einzelne zu zeigen. Auf diese Weise lernten wir schnell zu erkennen, welche giftig waren.

      Gewöhnlich hatten wir einen großen Garten um das gemietete Haus, das meine Eltern bereits im April sorgfältig aussuchten.

      Wenn irgendwo im Garten Birken standen, nahm Vater das Haus nicht, denn das war ein Anzeichen von Feuchtigkeit. Und dort spielten wir Indianer, Verstecken, oder wir gingen schon vor dem Frühstück Pilze suchen.

      Wie wunderbar war es, wenn am Freitag Abend Vater herauskam; gewöhnlich holten wir ihn an der Haltestelle der ›Diligence‹ ab (einem Pferdewagen, der ihn von der Bahnstation brachte).


Скачать книгу