Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker

Die drei Emigrationen der Sonja Berg - Daniel Levin Becker


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her. Mein Vater ging mit mir und einem Teil der Koffer schon vor, suchte mir in dem wartenden Zug einen Platz, und befahl mir, gut auf das Gepäck aufzupassen. Dann ging er noch einmal los, um meine Mutter zu holen, die bei den restlichen Koffern geblieben war. Aber kaum, dass ich in diesem Zug saß, fuhr der plötzlich los. Ohne meine Eltern. Da saß ich nun mutterseelenallein in einem Zug, von dem ich nicht mal genau wusste, wo er hinfuhr. Ich war noch nie allein verreist und wusste nicht, was ich tun sollte. Nach dem ersten Schreck sagte ich mir: ›Na ja, heulen nützt ja nu nüscht!‹26 Und ich begann, die Butterbrote aufzuessen. Die waren in einer der Taschen, die ich bewachen sollte. Irgendwann kam der Zug an der Endstation an. Ich stieg aus, setzte mich auf die Koffer und wartete.

      Wer weiß, was aus mir geworden wäre. In Russland und halb Europa war Krieg. Massen von Flüchtlingen waren unterwegs, und es war keine Seltenheit, dass Familien auseinandergerissen wurden und schreckliche Flüchtlingsschicksale ihren Anfang nahmen.

      So saß ich ganz allein auf einem fremden Bahnsteig auf den Koffern und wusste nicht, was als Nächstes geschehen würde. Nun – tatsächlich kamen nach einigen Stunden meine Eltern. Das war ein ziemliches Wunder, denn ich hatte ja eigentlich in dem Zug gesessen, der als letzter aus Russland herausgelassen werden sollte. Wie dem auch sei: da waren meine Eltern, auch das Gepäck hatten sie bei sich. Ich erwartete natürlich, dass sie als Erstes zu mir sagen würden: ›Kind, gut, dass du wohlbehalten hier bist‹ oder so etwas. Stattdessen sagten sie: ›Was hast du mit den Butterbroten gemacht?‹ Ich erwiderte schuldbewusst: ›Die habe ich aufgegessen‹, und dachte, das könnten sie mir ja wohl kaum vorwerfen, denn ich hatte lange warten müssen. Aber meine Eltern fragten eilig weiter: ›… und was hast du mit den Tüten gemacht, wo sind die Tüten?‹ Auch darüber wunderte ich mich, denn solcher Art Sparsamkeit war bisher nicht die Hauptsorge meiner Eltern gewesen. Ich weiß nicht warum: die Tüten hatte ich ordentlich glatt gestrichen und aufgehoben. Es hätte genauso gut sein können, dass ich sie weggeworfen hätte. Aber die Tüten waren da. ›Na, Gott sei Dank!‹ – meinen Eltern fiel hörbar ein Stein vom Herzen. In den doppelten Böden der Tüten hatten sie Bargeld versteckt, das sie vor der Flucht noch hatten zusammenkratzen können. Man hätte es uns sonst an der Grenze abgenommen. Und als dieser Schreck vorbei war, wurde ich von ihnen richtig begrüßt, wie ich’s am Anfang erwartet hatte.

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       Der ›Propusk‹, ausgestellt am 8. Oktober 1918

      Was er da schrieb, nannte man in Russland einen Propusk, das bedeutet Passierschein – das Wort hat aber eine viel weiter gefasste Bedeutung als auf Deutsch. Es heißt auch Genehmigung und vieles mehr. In Russland brauchte man für alles Mögliche einen Propusk, damals wie heute. Ohne diesen improvisierten Propusk hätte ich meine Eltern vielleicht nie wiedergesehen, und was dann aus mir geworden wäre, wissen die Götter. Ich habe große Hochachtung vor diesem Kommissar, denn er hat aus reiner Menschlichkeit gegen seine Weisung gehandelt. Bestochen haben konnte mein Vater ihn nicht, das Geld war in den Butterbrottüten, und die hatte ich. Den Zettel habe ich noch heute – Heinz, gib mir doch mal das Fotoalbum! Hier siehst du, was für ein kleines Zettelchen das ist. Ich hüte es wie einen Talisman. Sinngemäß steht dort, dass man meine Eltern mit einem Güterzug noch durchfahren lassen soll, weil ich allein vorausgefahren bin.

      Dieses kleine Stück Papier war wahrscheinlich lebensrettend für mich und meine Eltern. Das habe ich mir im Laufe der Jahre immer wieder gesagt. Aus dieser sehr persönlichen Erfahrung, wie wichtig es ist, dass es auf der Welt uneigennützige Helfer gibt, haben Heinz und ich beschlossen, Menschen in politisch bedingter Bedrängnis zu unterstützen. Deshalb kümmern wir uns heute um politische Gefangene bei Amnesty International.«

      23Bei einer anschließenden Rekonstruktion des Falles fand man heraus, dass aufgrund einer chemischen Reaktion der Zucker im Nachtisch das Strychnin neutralisiert hatte.

      24Alexander Fjodorowitsch Kerenski (1881–1970) war seit Juli 1917 Chef der nach der Februarrevolution geschaffenen provisorischen Regierung, wurde von den Bolschewiki in der Oktoberrevolution abgesetzt und ging ins Exil.

      25Heute Liepaja, Lettland.

      26Dass Sonja an dieser Stelle berlinerte, was sie sonst nicht tat, mag damit zusammenhängen, dass ihre Mutter – zumindest scherzhaft – gelegentlich so mit ihr sprach.

      27Wahrscheinlich war dies ein sogenannter ›Politkommissar‹ – die Kommunistische Partei setzte solche Kommissare zur Kontrolle aller öffentlichen Institutionen ein, damit diese stets im Sinne der Partei entschieden.

       Strugi Bjelaja

       Spurensuche, Berlin 2017

      Warum entschloss sich Sonjas Vater gerade im Oktober 1918 zur Flucht? Was geschah in diesen Tagen genau in St. Petersburg? Wie verlief die Fluchtroute? Wo fuhr der Zug ab, wo war der Umsteigepunkt, an dem Sonja ihre Eltern verlor, und wo der Endbahnhof, an dem sie sie wieder traf?

      Zunächst scheint es, als sei niemand mehr da, der mir diese Fragen beantworten könnte. Ich sende Stephanie meine Aufzeichnungen, aber weitere Details dazu kennt sie auch nicht. Aber sie schickt mir einen Scan des Propusk. Es handelt sich um ein winziges vergilbtes Zettelchen. Ich erinnere mich: Sonja bewahrte es in einem kleinen Pergamenttütchen in ihrem Fotoalbum auf. Es ist eine aus einem Notizbuch herausgetrennte Seite, fast quadratisch, mit vielleicht 3 x 3 cm Seitenlänge. Jemand hat mit Tinte nur ein paar Worte darauf geschrieben – übersetzt heißt es:

      »Ich bitte das Mitfahren mit dem Güterzug zu erlauben, da deren Tochter 14 J. alleine nach Toroschino weggefahren ist.

      8/10-18 Stempel: Strugi-Bjelaja. Kommissar [unleserliche Unterschrift]«

      Das genaue Datum der Ausreise kenne ich damit auch – der 8. Oktober 1918. Toroschino muss eine Bahnstation sein. Aber wo im Umkreis von St. Petersburg und in welcher Entfernung könnte sich ein solcher Ort befinden? Auf der Landkarte finde ich nichts Passendes – er ist wahrscheinlich zu klein. Heißt er überhaupt noch so, nach den Ortsumbenennungen der Revolution und der Sowjetzeit? Auch die richtige Umschrift aus dem Kyrillischen erschwert die Suche. Ich nehme mir den Propusk wieder vor. Auf dem kleinen Stempelabdruck steht ›Strugi Bjelaja‹. Bjelaja heißt weiß – was bedeutet Strugi? Meine paar Brocken Russisch reichen dafür nicht. In der Hoffnung auf eine Übersetzung gebe ich ›Strugi Bjelaja‹ in die Suchfunktion des Browsers ein. Zu meiner Überraschung erscheint eine Website mit einem estnischen Text. Dazu fehlt mir nun jeder sprachliche Zugang … Aber so viel erkenne ich: er handelt von einer für Estland bedeutsamen Persönlichkeit – es steht ein Geburtsdatum da, dahinter ›Strugi Bjelaja‹. Also auch ein Ortsname – offenbar an der damaligen Grenze. Außerdem steht auf der Website etwas über das Jahr 1919, und danach ›Strugi Krasnyje‹. Krasnyj bedeutet rot. Ohne Estnisch zu können, verstehe ich: Strugi Bjelaja wurde 1919 in Strugi Krasnyje umbenannt, von weiß zu rot, unter dem Eindruck der neuen Machtverhältnisse. Die Zaristen, die Weißen, waren von den Roten besiegt worden. Ich suche weiter, gebe Strugi Krasnyje ein. Zu meiner Überraschung öffnet sich die Homepage der Deutschen Bahn. Ein Auslandsfahrplan erscheint:

      St.


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