Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
Bertha aufwuchs:
Unsere Wohnung lag im Parterre, einige Stufen hoch, darunter ein an einen Sattler vermieteter Keller. Aus einem kleinen Entree kam man in ein zweifenstriges Wohnzimmer, ein Tritt am Fenster mit Stuhl und Nähtisch darauf, war Tantes Lieblingsplatz. Nach hinten war ein einfenstriges Schlafzimmer, wo Tante mit uns schlief, und dann eine geräumige Küche, wo auch das Mädchen [Hausmädchen] schlief. Unser liebster Aufenthalt waren der sehr große Hausflur und der geräumige Hof, und ich meine noch Tante Berthas, »Töni« genannt, – Stimme zu hören, wenn sie immer wieder zu den Mahlzeiten rief und wir uns doch von den Spielen nicht trennen konnten.
Wir nahmen sowohl unter den Kindern des Vorderhauses wie unter den Handwerkskindern der Kleinwohnungen (24 Mieter waren es im Ganzen) als »Wirtskinder« eine besondere Stellung ein, alle – und wir mit – waren überzeugt, dass die Beutel mit harten Talern, das Ergebnis der Miete, zu unserem ureigensten Gebrauche da seien. Ich machte von unserer Vorzugsstellung wenig Gebrauch, Sophiechen aber war der »Führer« mit uneingeschränkter Macht und dem entsprechenden Despotismus. Ob Räuber und Prinzessin oder Theater gespielt wurde, wer die Hauptpersonen sein sollten, bestimmte nur sie, trotz freigiebig verteilter Ohrfeigen war sie aber beliebt, als »Emil« in der Straße bekannt, denn sie kletterte und sprang und war unternehmungslustig wie ein Junge. Ich war ihr zärtlich gehüteter Schützling, und vergalt’s ihr mit Liebe, Bewunderung und dem durch lange Jahre anhaltenden Wunsche, ihr zu gleichen.
Auch der Alltag der Petersburger Jahre, sie dauerten für Flora von ihrer Heirat 1890 bis zur Flucht 1918, ist bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges nahezu lückenlos durch das sogenannte Kindertagebuch (die Abschriften der Briefe, die sie an ihre Freundin Jenny Aron in Elbing schrieb) dokumentiert. Bemerkenswert ist ihr vollendeter Briefstil, aber auch ihre umfassende Bildung, ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein und ihre differenzierte Meinung zu den politischen Ereignissen der Zeit. Das Kindertagebuch beginnt damit, dass sie sich für eine verspätete Antwort entschuldigt und vage Andeutungen über ihre erste Schwangerschaft macht:
den 28. April 1891
Nicht böse sein bitte! Aber mir war nicht so recht in letzter Zeit.
Im nächsten Brief erzählt sie bereits ganz selbstverständlich, wie sie sich mit den Umständen arrangiert hat:
Einen Doktor oder eine ›sage femme‹ habe ich bisher nicht zu Rat gezogen und rechne mittels eigener Kombination, dass ›dat Würmchen‹ Ende October in die Erscheinung treten wird.
In Acht nehme ich mich nach Kräften, fahre so wenig wie möglich Iswostschik [Pferdedroschke, im Winter Schlitten], ängstige mich in schwarzen Stunden und freue mich wiederum unsäglich, dass auch dies Glück uns zuteil werden soll.
Flora und Sophiechen als Kinder, Berlin, um 1868
In den darauffolgenden Jahren beschreibt Flora anschaulich den Alltag mit ihren größer werdenden drei Jungen:
November 1902
In der Schule [war] Tanzabend für die großen Schüler von sechs bis zehn Uhr, und Bobby hat so lange gebettelt, bis er mitgenommen wurde. Bruno [ältester Sohn von Benno und Sophie Becker] der Arrangeur und wir Alten alle dabei. Sehr hübsch. Bobby sehr tanzlustig, aber leider in all den Tänzen nicht bewandert. Paul und Fredy waren im Tanzsaal nicht sichtbar, zogen es vor, sich in den Korridoren Schlachten zu liefern.
März 1903
Die Babyfrage ist wieder einmal bei uns auf die Tagesordnung gesetzt, und alles, was du in diesem Augenblicke denkst, denke ich schon seit Wochen. Ich hab einen ordentlichen Hass auf die Leute, die mir immer zu einem Mädel so freundschaftlich zugeredet haben, obgleich die sozusagen ja nicht die Schuld tragen. Gustav ist noch mehr außer sich wie ich, wir hatten uns das Altwerden schon so bequem zurechtgelegt, und nun sollen wir wieder jung werden. Sophiechen findet das sehr hübsch; ich bin einerseits zu träge dazu, andererseits tut mir das Baby leid, das unfehlbar verzogen werden wird. Bitte davon niemandem etwas verlauten zu lassen, ich liebe es nicht, wenn acht Monate vor der Geburt des Kindes von ihm schon die Rede ist.
Sophiechen spielt im Schweiße ihres Angesichts Klavier, täglich 2 Stunden. Und ich? Lerne wieder Babys wickeln.
An dem Wohnungswechsel ist übrigens nicht Baby schuld, sondern in erster Linie Bobby, der uns im Schlafzimmer beschwerlich wird, obgleich er, wie aus dem Erfolg zu ersehen, das Eheleben nicht gestört hat.
Ich bin beeindruckt über die Offenheit, mit der Flora ihren Gefühlen hier freien Lauf lässt. Als Sonja dann glücklich auf der Welt ist, ist sie wieder mit dem Schicksal versöhnt:
Ihr glaubt gar nicht, wie einem zu Mute ist, wenn man den Berg hinter sich hat, und so ein kleines Wesen mit gesunden Gliedern vor sich. Das ist wirklich ein Wunder, so oft man es von neuem erlebt. Und wenn man dazu in guter Pflege ohne Zwischenfälle der Genesung entgegen geht, und der Gatte strahlend, wie er nur strahlen kann, sich mit Mutter und Kind freut, und wenn man die Tausend, vorläufig kleinen Sorgen und Mühen mit Feuereifer übernimmt, dann vergisst man schnell die ausgestandenen Beschwerden und wundert sich nur, dass man sich nicht schon neun Monate auf das Kind gefreut hat.
Paul, Fredy, Bobby, St. Petersburg, um 1900
Sonja, St. Petersburg, um 1912
Floras Ansichten über Erziehung sind wahrscheinlich geprägt von ihrer eigenen Kindheit, in der sie – für die damalige Zeit und die Gesellschaftsschicht, der sie angehörte – ungewöhnlich viel Freiheit besaß:
Ich genieße die Kinder ordentlich und finde sie interessanter als meinen sonstigen Verkehr. Dein Lob, dass ich mit den Kindern in gesunden Tagen nicht ängstlich bin, verdiene ich nur bedingt. Im innersten Herzen bin ich’s und zwar in der tollsten Weise, alle möglichen Ängste ausdenkend. Aber ich beschränke die Kinder deshalb nicht in ihrer Freiheit, wohl wissend, dass ihnen, wenn man sie an der Leine führt, auch alles Unglück zustoßen kann. Mit anderen Müttern aber herumzuunken, Krankheitsgeschichten auszutauschen et cetera, finde ich die größte der zahllosen Geschmacklosigkeiten, an denen unsere Gesellschaft so reich ist.
[…]
Wir hatten kürzlich ein Schulerlebnis; gottlob nicht mit unseren Kindern, sondern mit Franks [einer befreundeten Familie] ältestem, 14-jährigen. Der Junge hat unanständige Bilder in die Schule gebracht und ist ausgeschlossen worden. Zu streng nach unser aller Urteil, da er nicht, wie der Direktor annimmt, den Knaben damit etwas Neues gezeigt hat, vielmehr etwas, von dem sie alle wussten. Als wir unsere Jungen ins Gebet nahmen, zeigten sie sich sehr wohl unterrichtet und behaupteten ›es‹ zu wissen, seit sie die Schule besuchen. Ich sagte, ich wolle gar nicht wissen, was auf den Bildern gewesen, ich könne mir denken, es hänge damit zusammen, wie die Kinder geboren werden. Ja, wie es anfängt, lautete Fredys klassische Antwort.
[…]
Klavierunterricht der Kinder, [davor] graue ich mich umso mehr, als ich dabei gar nicht helfen kann, und die Lust meiner Söhne zum Spiel gewiss nicht größer sein wird als in anderen Häusern. Falls sich die Jungen als ganz talentlos oder ganz unlustig erweisen, gebe ich nach zweijähriger Probe das Spiel auf. Soviel Genuss die Musik bietet, hab ich doch nie verstanden, warum gerade sie zur Kunst für alle bestimmt sein soll, warum ein heranwachsender Mensch die wenigen freien Stunden, die ihm das Lernen lässt, gerade darauf verwenden muss.
Über eine Affäre, die Paul mit einer der Gouvernanten anfing, schreibt sie:
Mademoiselle est de retour, aber ich nehme sie nicht mehr wieder, ich glaube, ich schrieb dir schon, dass Paul ihr im vorigen Jahr hinter unserem Rücken Besuche gemacht hat. Große Frage: A-t-il déjà quelque chose à déclarer?11 Er sagt Nein.
Flora sieht die Verhältnisse