Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
Mit meinen Zeugniszensuren ist es gut gelaufen. Vielleicht ist es wegen Weihnachten, aber die übliche Vier plus in Algebra ist raufgegangen zu einer Drei minus. Offensichtlich hat der Lehrer ein gutes Herz. Er versteht, dass sonst Papas Weihnachtslaune hin gewesen wäre. Besser nicht an die Schule denken – sinnlos!
[…] Das Arbeitszimmer ist außer Reichweite. Der Weihnachtsbaum steht darin. Er ist wunderschön. Wir haben ihn gestern zusammen mit Papa gekauft. Papa ist in dieser Hinsicht ein Profi. Der Baum muss der Beste sein, und billig dazu. Wenn er sieben Rubel kosten soll, feilscht Papa. Bis es dunkel wird. Aber er verliert nicht, er kriegt ihn für drei. Zwei kräftige Kerle tragen ihn auf den Schultern, wir gehen hinter ihnen nach Hause, während Papa zur Arbeit geht. Aber vielleicht verkaufen die beiden Typen ihn auch weiter, für eine Flasche Wodka?
Als wir gestern dort standen, war es so kalt, dass uns die Tränen in den Lammfellkragen rollten, aber Papa kümmerte das nicht. Sein Spazierstock hat eine Besonderheit: er hat am oberen Ende einen goldenen Knauf. Der Baum muss genau so groß sein, dass, wenn er den Arm mit dem Spazierstock hochstreckt, die Baumspitze über den Knauf hervorschaut. Wir fanden einen genau solchen Baum … das Gefeilsche dauerte eine ganze Weile. Es begann dunkel zu werden, die Straßenlaternen gingen an. Durch sie wurde es sogar ein bisschen wärmer und freundlicher. Die Bäume sahen aus wie mit Zucker überzogen, andere, als ob sie in Baumwolle gewickelt wären.
Wir kamen also zurück nach Hause. Die zwei Burschen schleppten den Baum vor uns her. Interessant, wie sie ihn die Treppe raufbrachten … der Teppich wurde ganz dreckig dabei … Kuprian [der Hausmeister] wurde wütend. Aber uns war’s egal, der Baum ist prima! Auf keinen Fall wollten wir den durch die Hintertür reinholen.
Nur ein kleines Missverständnis gab es. Die Burschen gaben Mama ein Stück Papier. Papas Unterschrift, Papas Handschrift, sieht echt aus – aber teuer … 13 Rubel!! »Nun, meine Dame, der Baum kommt aus Archangelsk.« Keine Chance, wir mussten zahlen … Papa hatte so entschieden. Er hat manchmal leichtfertige Phasen. Die beiden Riesenkerle bedankten sich und kriegten obendrauf noch ein Trinkgeld. Weg waren sie, nur ein säuerlicher Geruch blieb zurück. Papa kam abends zurück und erfuhr von den 13 Rubeln. Er bebte. Es stellte sich heraus, dass die Kerle, die den Baum geschleppt hatten, am Rand eine eins vor die drei geschrieben hatten, mit Bleistift … eigenmächtig, und so wurden 13 daraus. Papa hatte davon keine Ahnung, er hatte ihn für 3 gekauft. Aber schließlich ist es ihm egal, all das Gefeilsche, Geschrei und Gezänk. Er fühlt sich jetzt behaglich und zufrieden. […]
Das Wohnzimmer ist hell erleuchtet. Bronzene Engel mit ausgestreckten Armen halten die Kerzen und stehen dabei auf einem Bein. Der gläserne Kronleuchter glitzert in allen Farben des Regenbogens. Alle sind versammelt. Die Wolle des neuen Matrosenanzugs kratzt. Das Haar ist mit viel Pomade gescheitelt. Paul und Bobka brillieren am Klavier, Sonjetschka trägt ihr schwarzes Samtkleid, ihre Haare werden von einer großen Seidenschleife auf dem Kopf zusammengehalten. Papa und Mama sind im Arbeitszimmer und zünden die Kerzen am Baum an. Endlich das lang ersehnte Glöckchen. Wir sind sehr aufgeregt, und schließlich gehen die Türen auf. Der funkelnde Baum blendet uns. Aus dem Esszimmer kommt der verführerisch köstliche Duft von Gänsebraten. »Alle zu Tisch bitte …!«
2Früher finnisch, seit 1947 russisch, umbenannt in Selenogorsk.
3Jelgava, heute eine Kreisstadt in Lettland, muss in den beiden Kriegen so gründlich zerstört worden sein, dass kaum noch ein altes Haus vorhanden ist. Das Zentrum ist ein sowjetisches Plattenbau-Ensemble aus den 1960er-Jahren. Nur in den Randbezirken erinnern hier und da ein paar windschiefe Holzhäuser an die damalige Zeit.
4Russland erlebte durch Eisenbahn und Dampfschiffe seit den 1840er-Jahren einen Aufschwung des Außenhandels. Davon profitierten zunächst die Küstenstädte, in Kurland waren das Windau und Libau, sodass viele Menschen dorthin übersiedelten. Das war Juden jedoch verboten und wurde streng kontrolliert, sodass in dieser Zeit viele Juden in südliche Regionen ausweichen mussten um Arbeit zu finden. Die Arbeitsmigration von Jacob Moses Gittelsohn nach Tiflis scheint unter kurischen Juden kein Einzelfall gewesen zu sein.
5Das Mitauer Adressbuch von 1892 ist vollständig auf Deutsch verfasst, alle Straßennamen sind deutschsprachig, über 90 Prozent der verzeichneten Einwohner haben deutsche oder eingedeutschte jüdische Namen; auch alle öffentlichen Institutionen scheinen ausschließlich deutsche Namen gehabt zu haben. In Kurland, obwohl seit 1797 russische Provinz, war damals noch Deutsch die Behördensprache und die Sprache der gebildeten Oberschicht. Allerdings erschienen neben der deutschen ›Mitauschen Zeitung‹ auch eine russisch- und zwei lettischsprachige Zeitungen, offenbar waren also mehrere Sprachen im Alltag gebräuchlich.
6Laut Überlieferung starb Gustavs Vater, als dieser noch ein Kind war, weshalb Gustav früh zum Unterhalt der Familie beitragen musste.
7Im Heiratsregister der jüdischen Gemeinde in Mitau gibt es einen Eintrag vom 9. 1. 1883, der wahrscheinlich auf Gustavs Schwester verweist: Eheschließung von Levin Gittelsohn (31, geb. in Mitau, Sohn von Nekhmeje Gittelsohn) mit Julie Hackel (22, geb. in Mitau). Sie wäre somit ein Jahr älter als Gustav gewesen. Möglicherweise bestand mit der Familie des Bräutigams eine entfernte Verwandtschaft.
8In Mitau ist für das 19. Jahrhundert kein Rabbiner mit Namen Gittelsohn nachweisbar. Eine Besonderheit von Kurland war, dass es dort keine Talmudschule (Jeshiva) gab. Deshalb besuchten angehende Rabbiner aus Kurland zur Ausbildung Jeshivot im nahe gelegenen Litauen oder der Ukraine. In US-amerikanischen Rabbinerverzeichnissen taucht der Name Gittelsohn nur einmal auf: Benjamin Gittelsohn, geboren 1853 in Russland und Sohn von Jehuda Gittelsohn. Er studierte an der Talmudschule in Kaunas, Litauen, und wanderte später nach Cleveland, Ohio aus. Nach Alter und o.g. Umständen könnte Jehuda möglicherweise der von Sonja erwähnte ältere Bruder von Gustavs Großvater Moses Gittelsohn aus Mitau sein.
9Arthur Hackel, geb. 1864, Sterbedatum und -ort unbekannt, und Ludwig Hackel (Vater von Eva und Nora Hackel) geb. 1867, gestorben 1936 in Berlin, studierten beide je ein Jahr in Dorpat (ihre Berufsbezeichnung lautete ›Provisor‹) und führten seit 1895 gemeinsam in St. Petersburg die Puschkin-Apotheke. Sie befand sich in der Puschkinskaja 9, das Haus steht heute noch. Ludwigs Wohnung lag ein paar Häuser weiter in der Nr. 19. Er war unter anderem geschäftlich erfolgreich durch Herstellung und Vertrieb eines selbst entwickelten Mittels gegen Hämorrhoiden.
10Jeannot Hackel, geb. 1862 in Mitau, Sterbedatum und -ort unbekannt.
11Frz.: ›Gibt es da schon etwas mitzuteilen?‹
12Wahrscheinlich meinte sie damit Gaststudenten, die sie gelegentlich als Hauslehrer aufnahm.
13Russisch: ›Jetzt wird’s bunt‹, sinngemäß: ›Man sagt, dass es einen Aufstand geben wird.‹
14Teil von St. Petersburg nordwestlich der Newa.
15Nach der Niederschlagung der Unruhen versuchte das Zarenregime, die versprochenen Reformen wieder rückgängig zu machen.
16Siehe Kapitel ›Fredy – Unter dem Radar‹.
17In