Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker

Die drei Emigrationen der Sonja Berg - Daniel Levin Becker


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geschehen. Der dortige Pfarrer war der Einzige, der bereit war, konvertierte Juden und deren Angehörige zu taufen – auf Französisch, sodass kaum jemand ein Wort verstand.

      Ob die Taufe, unser nicht jüdisch klingender Familienname und unser so gar nicht jüdisch-religiöser Lebensstil ausreichend sein würden, uns vor dem Antisemitismus zu schützen, daran kamen meiner Mutter angesichts der Ereignisse immer neue Zweifel. Sie machte sich Sorgen, dass wir ›zu jüdisch‹ aussehen könnten und freute sich, dass ich als kleines Mädchen blond und blauäugig war – na ja, das gab sich dann später.

      Trotz aller düsteren Vorahnungen und politischen Unruhen war unsere Kindheit in St. Petersburg eine herrliche Zeit, die meine Brüder und mich für unser ganzes Leben geprägt hat. Die Erinnerung daran, an die Stimmung in dieser herrlichen Stadt und unser behütetes und inspirierendes Elternhaus hat uns später über vieles getröstet.«

       Spurensuche, Berlin 2017

      Sonjas Erzählung klingt mir nach drei Jahrzehnten noch gut im Ohr, aber ich bin doch etwas skeptisch gegenüber meiner eigenen Erinnerung und zugleich neugierig darauf, mehr herauszufinden über Personen und Orte der Geschichte.

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       Gustav Hackel, St. Petersburg, um 1910

      Bei meiner Recherche finde ich einen weiteren Hinweis zur kulturellen Sonderrolle Kurlands. Aus den Privilegien, die der kurländischen Bevölkerung bei der Einverleibung ins Zarenreich zugestanden wurden, ergab sich auch innerhalb des Ostjudentums eine Sonderstellung: Ein ›Kurischer‹ war kulturell nach Deutschland ausgerichtet und hatte üblicherweise eine deutsche Schulbildung erhalten, der Gebrauch des Jiddischen war auf dem Rückzug. Zugleich fühlten sich die kurischen Juden Russland besonders verbunden, als Treuebezeugung für die relative Unabhängigkeit innerhalb Kurlands – oder als Schutzmechanismus, um angesichts des erstarkenden Nationalismus den Vorwurf des ›vaterlandslosen Gesellen‹ zu entkräften, der den Juden in Zeiten der Verfolgung immer wieder gemacht wurde.VII

      Sonja charakterisiert ihren Vater so: seines kulturellen jüdischen Hintergrundes bewusst, dabei stark in der deutschen Sprache und Kultur verwurzelt, zugleich glühender russischer Patriot – vielleicht hätten seine Zeitgenossen Gustav als typisches Beispiel für einen ›Kurischen‹ angesehen.

      Zum Schluss frage ich mich, was aus möglichen in Mitau verbliebenen Verwandten geworden sein mag. Im Mitauer Adressbuch finde ich den Eintrag: ›Hebräischer Friedhof, an der Ruhenthal-Bauska-Straße, 4 Werst von der Stadt, vis-à-vis der Strautneek-Buschwächterei‹. Es gibt in Lettland ein Projekt zur Abschrift jüdischer Grabsteine. Aber Jelgava/Mitau ist aus irgendeinem Grund nicht dabei. Schließlich finde ich eine Quelle, die Aufschluss gibt: Beim Einmarsch der Deutschen nach Lettland 1941 war Mitau einer der ersten Orte, an denen die jüdische Bevölkerung zusammengetrieben und an Ort und Stelle von Erschießungskommandos getötet wurde. Dies geschah unter anderem auf dem jüdischen Friedhof, der anschließend vernichtet wurde.VIII Die Welt der Mitauer Hackels und Gittelsohns existiert nicht mehr.

      Einfacher als bei Gustav Hackel stellt sich die Quellenlage bei Sonjas Mutter dar. Hunderte von ihr verfasste Briefe finden sich in Sonjas Nachlass, ebenso ein langer Text, in dem sie für ihre Kinder und Enkel Erinnerungen an ihre Jugend in Berlin festhält. Sie erzählt darin auch von ihrer im Kindbett verstorbenen Mutter und dem Vater, der kurz danach die Familie verließ und der erst wiederauftauchte, als sie erwachsen war:

      Meine Mutter war 1830 geboren, sie war 27 Jahre alt, als sie heiratete. Zart, feinknochig und feinnervig, mit wunderschönen Händen und einem hübschen Gesicht, welches durch das gescheitelte über die Ohren frisierte Haar noch schmaler erscheint, muss sie nach damaligen Ansprüchen »charmant« gewesen sein. Die Handschrift hatte absolut Sophiechen von ihr geerbt. Wir hatten als einziges Andenken von ihr ein Poesiealbum, in denen Goethesche und Heinesche Gedichte in der Mehrzahl waren.

      Es war nicht zu ihrem Glücke, dass sie den Schlossermeister Isidor Blumenthal heiratete. Zwar war er durchaus nicht das, was man sich unter einem Schlossermeister vorstellte. Doch war es durchaus charakteristisch für ihn, dass er gerade dieses Metier erwählt hatte. Als die Eltern (in Friedeberg in der Neumark) sich seinem glühenden Wunsch zu studieren, widersetzten und einen Kaufmann aus ihm machen wollten, erklärte er trotzig, er wolle Handwerker werden und zwar das schwerste Handwerk erlernen. Das war in damaliger Zeit für jüdische Begriffe ein Rückschritt in niedere Sphären! Er selbst erzählte aber später mit Freude und Humor von seinen Wanderjahren als sangesfroher Geselle, und wenn wir im Harz oder Thüringen waren, knüpfte er mit jedem Handwerksburschen teilnehmende Gespräche an.

      An einer anderen Stelle


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