Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
geschehen. Der dortige Pfarrer war der Einzige, der bereit war, konvertierte Juden und deren Angehörige zu taufen – auf Französisch, sodass kaum jemand ein Wort verstand.
Ob die Taufe, unser nicht jüdisch klingender Familienname und unser so gar nicht jüdisch-religiöser Lebensstil ausreichend sein würden, uns vor dem Antisemitismus zu schützen, daran kamen meiner Mutter angesichts der Ereignisse immer neue Zweifel. Sie machte sich Sorgen, dass wir ›zu jüdisch‹ aussehen könnten und freute sich, dass ich als kleines Mädchen blond und blauäugig war – na ja, das gab sich dann später.
Trotz aller düsteren Vorahnungen und politischen Unruhen war unsere Kindheit in St. Petersburg eine herrliche Zeit, die meine Brüder und mich für unser ganzes Leben geprägt hat. Die Erinnerung daran, an die Stimmung in dieser herrlichen Stadt und unser behütetes und inspirierendes Elternhaus hat uns später über vieles getröstet.«
Spurensuche, Berlin 2017
Sonjas Erzählung klingt mir nach drei Jahrzehnten noch gut im Ohr, aber ich bin doch etwas skeptisch gegenüber meiner eigenen Erinnerung und zugleich neugierig darauf, mehr herauszufinden über Personen und Orte der Geschichte.
Da ist zunächst Sonjas Vater Gustav Hackel und seine jüdisch-orthodoxe Familie aus Mitau, heute Jelgava in Lettland.3 Vor meinem inneren Auge stelle ich mir, wenn Sonja von der ärmlichen Herkunft ihres Vaters und der Wanderschaft des Großvaters erzählte4, ein ostjüdisches Schtetl vor. Im Laufe meiner Recherche muss ich dieses Bild revidieren. Auf alten AufnahmenI ähnelt Mitau – mit herzoglichem Schloss, humanistischem Gymnasium und baumbestandenem Marktplatz mit klassizistischen Fassaden – eher einer deutschen Provinzstadt.5
Im Mitauer Adressbuch von 1892 finde ich den Eintrag J. M. Hackel, Große Straße 39. J. M. könnte für Jacob Moses stehen, so hieß Gustavs Vater – vielleicht wurde seine Mutter Leah, geb. Lewiss, noch unter dem Namen ihres (damals bereits lange verstorbenen6) Mannes geführt? Hier ist diese Spur leider zu Ende. Es müssen außer Gustavs Mutter noch weitere Verwandte in Mitau gelebt haben, denn Flora erwähnt in einem Brief aus dem Jahr 1905: »… haben unseren Neffen aus Mitau zu Besuch, der eben sein Abiturium macht und unsere Jungen während der Sommermonate beschäftigen soll.« Dies muss ein Sohn von Gustavs einziger Schwester sein, denn seine drei Brüder lebten alle inzwischen in St. Petersburg. Leider wird sein Name nicht angegeben, wie auch von Gustavs Schwester in den Familienannalen weder Name7 noch Geburtsdatum je erwähnt werdenII. All dies sind wohl Indizien, dass die Beziehung nach Mitau nicht allzu eng war, wenn nicht sogar von bewusster Distanz geprägt. Ich erinnere mich nicht, dass Sonja je erzählt hätte, sie sei in Mitau gewesen, noch findet sich in Floras umfangreichen Aufzeichnung irgendein Hinweis darauf. Vielleicht ist hier ein – damals unter assimilierten Juden durchaus verbreitetes – Verhaltensmuster erkennbar, die als rückständig empfundenen Wurzeln abzustreifen.III
Auch über die von Sonja – dann doch mit etwas Stolz – erwähnten Vorfahren der Hackels, die Rabbiner wurden, kann ich nichts Gesichertes herausfinden. Offenbar muss diese Tradition bereits mindestens zwei Generationen zurückgelegen haben.8 IV Gustav und seine Geschwister wuchsen jedenfalls bereits in einem Milieu auf, das stark von bürgerlich-weltlichen Einflüssen geprägt war. Seine drei jüngeren Brüder machten alle am Mitauer Gymnasium Abitur. Die beiden jüngeren, Ludwig und Arthur9, besuchten jeweils für ein Jahr die Universität in Dorpat und eröffneten 1895 in St. Petersburg gemeinsam eine Apotheke.V JeannotVI, der zweitälteste, schloss in Dorpat ein Medizinstudium ab und wurde Arzt, ebenfalls in Petersburg.10 Seine 1891 abgeschlossene Doktorarbeit ›Ein Beitrag zum Erhängungs- und Erstickungstode im engern Sinn‹ finde ich in der Staatsbibliothek Berlin. Die Universität Dorpat war die einzige deutschsprachige Universität im zaristischen Russland. Die Beibehaltung von Deutsch als Lehrsprache gehörte zu den Privilegien, die Russland den Provinzen Kurland und Livland gewährt hatte, als diese Teil des russischen Reiches wurden. In den 1880er-Jahren fand eine umfangreiche Russifizierung statt, von der die auf Deutsch abgefasste Dissertation von Jeannot Hackel jedoch noch nicht betroffen gewesen zu sein scheint. Auf dem Vorblatt steht: ›Meinem Vetter Doctor Edward Lewiss aus Petersburg in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.‹ Wahrscheinlich hatte dieser Verwandte mütterlicherseits ihn während seiner Ausbildung finanziell unterstützt. Offenbar beruhte dies auf einer umfassenderen Abmachung der Familien Lewiss und Hackel. Flora berichtet in ihren Erinnerungen, Gustav habe ihre Mitgift benötigt, um seinem Bruder Jeannot die ›Kaltwasserheilanstalt von Dr. Lewiss‹ zu kaufen.
Gustav Hackel, St. Petersburg, um 1910
Bei meiner Recherche finde ich einen weiteren Hinweis zur kulturellen Sonderrolle Kurlands. Aus den Privilegien, die der kurländischen Bevölkerung bei der Einverleibung ins Zarenreich zugestanden wurden, ergab sich auch innerhalb des Ostjudentums eine Sonderstellung: Ein ›Kurischer‹ war kulturell nach Deutschland ausgerichtet und hatte üblicherweise eine deutsche Schulbildung erhalten, der Gebrauch des Jiddischen war auf dem Rückzug. Zugleich fühlten sich die kurischen Juden Russland besonders verbunden, als Treuebezeugung für die relative Unabhängigkeit innerhalb Kurlands – oder als Schutzmechanismus, um angesichts des erstarkenden Nationalismus den Vorwurf des ›vaterlandslosen Gesellen‹ zu entkräften, der den Juden in Zeiten der Verfolgung immer wieder gemacht wurde.VII
Sonja charakterisiert ihren Vater so: seines kulturellen jüdischen Hintergrundes bewusst, dabei stark in der deutschen Sprache und Kultur verwurzelt, zugleich glühender russischer Patriot – vielleicht hätten seine Zeitgenossen Gustav als typisches Beispiel für einen ›Kurischen‹ angesehen.
Zum Schluss frage ich mich, was aus möglichen in Mitau verbliebenen Verwandten geworden sein mag. Im Mitauer Adressbuch finde ich den Eintrag: ›Hebräischer Friedhof, an der Ruhenthal-Bauska-Straße, 4 Werst von der Stadt, vis-à-vis der Strautneek-Buschwächterei‹. Es gibt in Lettland ein Projekt zur Abschrift jüdischer Grabsteine. Aber Jelgava/Mitau ist aus irgendeinem Grund nicht dabei. Schließlich finde ich eine Quelle, die Aufschluss gibt: Beim Einmarsch der Deutschen nach Lettland 1941 war Mitau einer der ersten Orte, an denen die jüdische Bevölkerung zusammengetrieben und an Ort und Stelle von Erschießungskommandos getötet wurde. Dies geschah unter anderem auf dem jüdischen Friedhof, der anschließend vernichtet wurde.VIII Die Welt der Mitauer Hackels und Gittelsohns existiert nicht mehr.
Einfacher als bei Gustav Hackel stellt sich die Quellenlage bei Sonjas Mutter dar. Hunderte von ihr verfasste Briefe finden sich in Sonjas Nachlass, ebenso ein langer Text, in dem sie für ihre Kinder und Enkel Erinnerungen an ihre Jugend in Berlin festhält. Sie erzählt darin auch von ihrer im Kindbett verstorbenen Mutter und dem Vater, der kurz danach die Familie verließ und der erst wiederauftauchte, als sie erwachsen war:
Meine Mutter war 1830 geboren, sie war 27 Jahre alt, als sie heiratete. Zart, feinknochig und feinnervig, mit wunderschönen Händen und einem hübschen Gesicht, welches durch das gescheitelte über die Ohren frisierte Haar noch schmaler erscheint, muss sie nach damaligen Ansprüchen »charmant« gewesen sein. Die Handschrift hatte absolut Sophiechen von ihr geerbt. Wir hatten als einziges Andenken von ihr ein Poesiealbum, in denen Goethesche und Heinesche Gedichte in der Mehrzahl waren.
Es war nicht zu ihrem Glücke, dass sie den Schlossermeister Isidor Blumenthal heiratete. Zwar war er durchaus nicht das, was man sich unter einem Schlossermeister vorstellte. Doch war es durchaus charakteristisch für ihn, dass er gerade dieses Metier erwählt hatte. Als die Eltern (in Friedeberg in der Neumark) sich seinem glühenden Wunsch zu studieren, widersetzten und einen Kaufmann aus ihm machen wollten, erklärte er trotzig, er wolle Handwerker werden und zwar das schwerste Handwerk erlernen. Das war in damaliger Zeit für jüdische Begriffe ein Rückschritt in niedere Sphären! Er selbst erzählte aber später mit Freude und Humor von seinen Wanderjahren als sangesfroher Geselle, und wenn wir im Harz oder Thüringen waren, knüpfte er mit jedem Handwerksburschen teilnehmende Gespräche an.
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