Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
ergänzte, »aber was man auch lernt, ist Dankbarkeit. Wir wären nicht mehr da, wenn es nicht immer wieder Menschen gegeben hätte, die uns geholfen haben.«
Sonja stimmte zu: »Ja, dafür sind wir sehr dankbar! Auf unserer Flucht aus Russland hat ein Offizier seine Kompetenzen überschritten und einen Passierschein – auf Russisch sagt man dazu Propusk – ausgestellt. Wer weiß, was sonst geworden wäre. Man macht sich nicht klar, welche Rolle das spielen kann! Immer wieder gab es solche Menschen in unserem Leben. Um etwas zurückzugeben von der Hilfe, die wir erfahren haben, setzen wir uns für politische Gefangene in Ländern ein, in denen Menschenrechte nicht geachtet werden. Wir haben eine der ersten Amnesty-International-Gruppen in Deutschland gegründet.«
Sonja und Heinz, wie sie in den 1980er-Jahren ihre Geschichte erzählten
Die ›ganze Geschichte‹ war in der Tat für einen Abend zu lang. Mit meinem ersten Besuch begann eine wunderbare Freundschaft, die bis zum Lebensende von Sonja und Heinz bestand. Alle paar Wochen trafen wir uns abends ›nach acht‹, der Rahmen war immer derselbe. Der Reihe nach bekam ich nun ›die ganze Geschichte‹ zu hören.
Sie war so erstaunlich und verschlungen, dass es bestimmt ein Jahr dauerte, bis ich alle wichtigen Episoden kannte. Manche Teile der Erzählung – deren Stoff, wie Sonja einmal sagte, gut für einen klassischen russischen Roman geeignet gewesen wäre – klingen mir noch heute deutlich im Ohr. Ich schrieb mir nie etwas von dem auf, was die beiden erzählten. Ich glaubte, die Intensität ihrer Geschichte sei ausreichend, um jedes Detail in meinem Gedächtnis zu speichern. Und angesichts ihrer Vitalität hatte ich auch nicht das Gefühl, mich beeilen zu müssen.
Ich erinnere mich an einen letzten sehr vergnügten Abend im September oder Oktober 1989. Sonja und Heinz saßen am Tisch, über Reiseprospekte gebeugt. Sie planten eine Reise nach Israel und erzählten mir, wen sie besuchen und was sie anschauen wollten.
Im Laufe des Abends ging es Sonja nicht gut, ich verabschiedete mich früher als gewöhnlich. Es stellte sich heraus, dass Sonjas Unwohlsein der Beginn einer Krebserkrankung war. Zwar konnte sie erfolgreich operiert werden, aber die anschließende Behandlung verursachte ernsthafte Komplikationen. Sonja war über längere Zeit geistig verwirrt. Heinz kümmerte sich rührend um sie, aber man merkte ihm seine Verzweiflung an, als ihr Zustand sich monatelang nicht bessern wollte. Er schirmte sie nach außen ab, wollte nicht, dass Freunde sie in so elendem Zustand sahen. Im Sommer 1990 schien alles langsam etwas ins Lot zu kommen. Ich erinnere mich an einen Tag im August. Ich kam zu Besuch, wir saßen im Garten, und Sonja war wieder so weit hergestellt, dass sie sich an der Unterhaltung beteiligen konnte. Sie saß im Lehnstuhl, ganz ›Grande Dame‹, und trank Saft aus einem Glas mit Strohhalm.
An diesem Tag sah ich Heinz zum letzten Mal. Ziemlich plötzlich, im September 1990, starb er, erschöpft von der Anstrengung der Monate zuvor. Kurz nach seiner Beerdigung besuchte ich Sonja. Sie war erschüttert von Heinz’ Tod, doch ihr körperlicher und geistiger Zustand war, dieses eine Mal noch, so wie vor ihrer Krankheit. Ich erinnere mich, wie sie auf ihrem Sofa saß in einer für sie typischen Haltung: den einen Fuß unter das Knie des anderen Beines geschoben. Ich fragte mich immer, wo sie diese enorme Beweglichkeit hernahm.
Lange saßen wir zusammen, und sie erzählte mir aus ihrem Leben.
»Ich lese gerade wieder die alten Briefe. Die Korrespondenz mit meinen Brüdern. Viele davon sind auf Russisch geschrieben. Das alte Russisch, von vor der Revolution. In dieser Sprache fühle ich mich mehr und mehr zu Hause, je älter ich werde. Man kann diese Briefe lesen wie einen Roman. Eigentlich müsste jemand all das aufschreiben. Alles, was da drinsteht, was sie und ich erlebt haben. Alle in unserer Familie haben so viel Merkwürdiges erlebt! Viele haben schon mal den Versuch gemacht. Sogar einen Film wollte man draus machen. Oliver Storz1, ein guter Freund meines Neffen Alex, ist Regisseur. Er wollte meine Geschichte verfilmen. Aber bisher ist noch nichts draus geworden …«
Bei meinen folgenden Besuchen hatte sich Sonjas Vitalität wieder verloren. Im ersten Jahr nach Heinz’ Tod stand sie zwar noch auf, war aber oft schwermütig. Ihre Gedanken kreisten mehr und mehr um die Vergangenheit. Ihr Geist war mit Dingen beschäftigt, die sie nicht mehr beeinflussen konnte. Im Laufe der Zeit lag sie meist im Bett, wenn man sie besuchte, rund um die Uhr versorgt durch einen Pflegedienst, für den ihr Neffe Alex aufkam. Meistens war sie in sich gekehrt und sprach kaum etwas, bewegte aber oft, in Gedanken an ferne Zeiten versunken, die Lippen. Wenn man kam, öffnete sie kurz die Augen zu einem dankbaren Blick. Meist saß ich einfach eine Weile bei ihr am Bett und hielt ihre Hand fest, bis sie sagte: »So, und jetzt kannst du wieder gehen.« Bei einem meiner letzten Besuche sagte sie mir: »Es ist schön, wenn Freunde zusammen schweigen können.«
Sonja starb im August 1995, mit fast 92 Jahren. Stephanie, ihre jüngste Tochter, war aus New York gekommen und verbrachte die letzten Wochen mit ihr. So hatte sie es ihrer Mutter versprochen, und Sonja starb in ihren Armen.
Wie vor ihr Heinz hatte Sonja verfügt, eingeäschert zu werden. Ihre Asche sollte verstreut werden, als Symbol für die Heimatlosigkeit, die sie empfanden. All ihre Lieben waren in alle Winde verstreut, dort wollten sie im Tod bei ihnen sein.
Nach der Beerdigung traf ich Stephanie, die die Wohnung auflöste, den Nachlass ordnete und in Kisten verpackte, um ihn nach New York mitzunehmen. Ich setzte mich auf meinen üblichen Platz auf dem Sofa, und wir sprachen lange über Sonja und ihre Geschichte. Auch Stephanie fand, eigentlich müsse man es aufschreiben. Vielleicht werde sie sich daran versuchen.
Mit den Jahren bemerkte ich, dass es ein Irrtum gewesen war, zu glauben, ich würde all das stets im Gedächtnis behalten. Sonjas Geschichte ging mir wieder und wieder durch den Kopf, und darüber freute ich mich. Aber wenn ich gelegentlich Freunden davon erzählte, bemerkte ich, dass ich sie immer schlechter zusammenbekam. Bestimmte Details hatte ich vergessen oder konnte sie nur noch ungefähr wiedergeben, was sehr unbefriedigend war.
Etwa zehn Jahre nach Sonjas Tod wurde mir klar, dass mich diese Geschichte nicht mehr loslassen würde. Ich würde es mir ewig vorwerfen, wenn ich nicht versuchte, die fehlenden Teile zu rekonstruieren, solange sich noch jemand erinnerte. Ich begann, nach Leuten zu suchen, die meine Erinnerung auffrischen könnten. Das war nicht einfach. So präsent Sonja und Heinz zu Lebzeiten gewesen waren, so wenig schien in Bonn von ihnen zurückgeblieben zu sein. Stephanie war inzwischen aus New York weggezogen, ihre neue Adresse hatte ich nicht. Andere Verwandte hatte ich nicht kennengelernt, sie lebten überall auf der Welt. Ich suchte nach gemeinsamen Bekannten aus Bonn. Viele waren verstorben oder nicht mehr ausfindig zu machen. Diejenigen, die ich noch fand, konnten sich wie ich auch nur vom Hörensagen an einzelne Geschichten erinnern.
Lange telefonierte ich mit Frau Risch, in deren Haus Sonja und Heinz gewohnt hatten. Sie war hochbetagt, aber geistig noch sehr rege. Sie freute sich über mein Vorhaben und erinnerte sich, dass da schon mal jemand etwas habe aufschreiben wollen. Der Name sei ihr aber entfallen. Eine junge Slawistin sei das gewesen, mit der sich Sonja gern auf Russisch unterhalten habe. Ich erinnerte mich. Ja, da war jemand gewesen, von dem Sonja immer wieder gesprochen hatte. »Sie ist meine Biografin!«, hatte sie stolz gesagt. Ich hatte sie aber nie kennengelernt und den Namen vergessen.
Eines Tages rief Frau Risch an und sagte, ihr sei der Name der Slawistin wieder eingefallen. Ich fand einen passenden Eintrag im Telefonbuch, rief an – es war tatsächlich Sonjas Freundin. Ich verabredete mich, und siehe da: Sie hatte noch alte Unterlagen, die sie für Sonja aus dem Russischen übersetzt hatte. Zum Teil hatte sie auch Sonjas Kommentare dazu in Fußnoten dokumentiert. Auch sie hatte die Idee gehabt, die Dokumente müssten in ein Buch einfließen, doch dazu war es nie gekommen.
Es handelte sich um drei dicke Ordner mit Briefen und Erinnerungen. Es war, als hätte ich auf einmal Gold gefunden! Über sie bekam ich auch wieder Kontakt zu Stephanie, Sonjas Tochter. Stephanie bot an, mich von Kalifornien aus, wo sie inzwischen lebte, nach Kräften zu unterstützen. Ich führte mit ihr eine Reihe von Telefoninterviews und ergänzte meine eigenen Erinnerungen durch ihre Antworten. Anfang 2015 besuchte ich sie in Kalifornien. In ihrer Garage standen acht riesige Kisten voll