Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
Dinge und der damit verbundenen Erinnerungen. Meine Mutter war zeitlebens – und sie wurde 94 – eine unermüdliche Briefschreiberin, und bewahrte ihre Korrespondenz sorgfältig auf. Ihre beste Freundin, noch aus Berliner Jugendtagen, war Jenny Aron. Sie schrieben sich zum Teil mehrmals pro Woche, sodass im Laufe der Jahre Hunderte von Briefen zusammenkamen. Jenny hatte nach Elbing in Westpreußen geheiratet. Ihr Mann, Paul Aron, war dort Rechtsanwalt. Nach unserer Flucht nahmen sie meine Mutter und mich eine Weile lang bei sich auf. Wir hatten nur ein paar Koffer dabei, in denen lediglich Platz für das Notwendigste gewesen war. Jenny spürte, wie traurig meine Mutter über den Verlust ihrer gesammelten Briefe war und machte ihr deshalb ein ganz besonderes Geschenk. Sie schrieb per Hand jede einzelne Zeile ab, die sie von meiner Mutter seit dem Jahr 1890 erhalten hatte und band die Blätter zu einer Art Tagebuch zusammen, damit sie wenigstens etwas von den verlorenen persönlichen Erinnerungen zurückbekäme. Dieses Buch hütete meine Mutter fortan wie einen Schatz. Es hieß bei uns das ›Kindertagebuch‹, weil man darin alles nachlesen kann, was uns Kinder und unser Familienleben in Petersburg betrifft, fast 25 Jahre lang, bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, als der zivile Briefverkehr zwischen Deutschland und Russland unterbrochen wurde.
Meine drei Brüder wurden kurz nacheinander geboren: Paul 1891, Alfred – genannt Fredy – 1892 und Robert – genannt Bobby – 1894. Das war für meine Eltern eine große Freude, aber besonders meine Mutter hatte die nächsten Jahre alle Hände voll zu tun. Eine Schar von drei Jungen mit so kurzem Altersabstand war nicht einfach zu bändigen. Als sie dachte, mit den Jungs aus dem Gröbsten raus zu sein, sie selbst war schon 42, kündigte auf einmal ich mich an. Davon war sie nicht begeistert. Aber dann wurde ich das Nesthäkchen der Familie und sowohl von meinen Eltern als auch meinen drei großen Brüdern sehr geliebt und verwöhnt. Mein Vater nannte mich – bis zu seinem Lebensende – ›mein Herzzipfel‹.
Meine Mutter genoss es, Kinder zu haben. Sie beschäftigte sich viel mit meinen Brüdern und später mit mir. Sie gab uns viel Freiheit – was nicht selbstverständlich war in dieser Zeit. Viele Mütter überließen die Erziehung komplett irgendwelchen Kindermädchen oder Gouvernanten und widmeten sich ganz der Repräsentation nach außen. Aber so etwas lag meiner Mutter nicht.
Natürlich hatte sie, wie damals üblich, Unterstützung durch eine Köchin und ein Kindermädchen, die ihr im Alltag Arbeit abnahmen, einkauften und mit uns spazieren gingen. Aber um alle wesentlichen Aspekte der Erziehung und Bildung kümmerte sie sich selbst. Meine Brüder unterrichtete sie in den ersten Jahren zu Hause. Paul ging erst im Alter von neun Jahren zur Schule, gemeinsam mit dem ein Jahr jüngeren Fredy. Das hatte unter anderem damit zu tun, dass man wegen der in St. Petersburg immer wieder grassierenden Seuchen sich davor scheute, die Kinder zu früh in die öffentlichen Schulen zu schicken.
Meine Mutter war eine erstaunlich gebildete Frau. Sie wäre gern Lehrerin geworden, was aber in ihrer Jugend als unschicklich galt – da werde sie keinen Mann bekommen. Während unserer gesamten Schulzeit überwachte sie unsere Hausaufgaben mit Strenge und Humor. Eines ihrer Lieblingswortspiele – sie liebte Wortspiele – war: ›Früh krümmt sich, was ein Häckelchen werden will‹, in Anspielung auf unseren Familiennamen. Sie hatte ihre eigene Meinung über Sinn und Unsinn dessen, was in der Schule gelehrt wurde, und sie diskutierte mit uns viel über philosophische und sogar politische Fragen.
Wir wuchsen zweisprachig auf, Russisch und Deutsch. In den ersten Jahren konnten wir besser Russisch, das lernten wir von den Kindermädchen und im Umgang mit anderen Kindern. Aber meine Eltern sprachen zu Hause meist Deutsch mit uns, und meine Mutter führte uns, sobald wir lesen konnten, an Literatur heran. Kinderbücher gab es damals nicht, sodass sie mit uns deutsche Klassiker las, Schiller, Goethe oder Heine, die sie alle sehr schätzte. Oft konnten wir ganze Passagen auswendig, lange bevor wir den Sinn der Worte verstanden. Ein besonderes Faible hatte sie für den niederdeutschen Mundartdichter Fritz Reuter, den wir später im Familienkreis oft auf gemeinsamen Leseabenden rezitierten. Viele Literaturzitate wurden zum festen Repertoire unserer Familie. Wenn wir uns an bestimmte Situationen unserer Petersburger Kindheit erinnerten, kamen sie in unseren Briefen und Gesprächen zum Einsatz.
Auch die russische Literatur und das Theater lernten wir früh kennen und lieben. Russisches Theater war eine besondere Leidenschaft meines Vaters, und er nahm meine Brüder und später mich von klein auf mit in die Aufführungen. Das damals sehr populäre Stück ›Der Revisor‹ von Nikolai Gogol, eine Satire auf die in Russland allgegenwärtige Korruption und den Schlendrian der Obrigkeit, konnte mein Bruder Bobby bereits mit sieben fast komplett auswendig. Was politisch im Zarenreich nicht gesagt werden konnte, ließ sich auf der Bühne in mancher Hinsicht doch ausdrücken. St. Petersburg war damals eine der bedeutendsten europäischen Theaterstädte. Russische Regisseure und Schauspieler waren weltberühmt. Ich erinnere mich lebhaft, wie es war, wenn mein Vater mit meinen Brüdern spätabends aus der Vorstellung nach Hause kam. Meine Mutter lag gewöhnlich schon im Bett, aber alle vier stürmten geradewegs ins Schlafzimmer, um ihr von der Inszenierung bis ins kleinste Detail zu berichten.
Ebenfalls die Sache meines Vaters war es, mit uns in die berühmten Museen und Bildergalerien zu gehen, hauptsächlich in die Eremitage. Das war unser sonntägliches Ritual nach dem Frühstück. Mein Vater kannte sich mit Malerei und Bildhauerei erstaunlich gut aus und konnte wunderbar von den Kunstwerken erzählen. Ich könnte heute noch sagen, wo seine Lieblingsbilder hingen. Wenn er nicht Kaufmann hätte werden müssen, wäre er vermutlich gern Kunsthistoriker geworden. Er gab uns Kindern immer den Rat: ›Geh sooft du kannst ins Museum, aber nie länger als zwei Stunden. Sonst verdirbst du dir den Spaß!‹ Ich beherzige das noch heute.
Zum damaligen Bildungsanspruch gehörte auch, dass wir Klavierunterricht bekamen. Paul und Bobby waren sehr musikalisch, sie lernten gut Klavier spielen. Bei Fredy und mir hat es nicht viel genützt.
Als wir größer waren, erhielten wir zusätzlich zur Schule Fremdsprachenunterricht: Englisch, Französisch und ein bisschen Italienisch. Wir mussten auch in den Ferien regelmäßig üben. Die Kindermädchen wurden, als wir älter waren, durch junge Damen aus Frankreich oder Italien ersetzt, die für ein Jahr zu uns kamen und uns – wie heute vielleicht Au-pair-Mädchen – die entsprechenden Sprachen und daneben gute Manieren beibringen sollten, mal mehr und mal weniger erfolgreich. Je nachdem, wie hübsch sie waren, fanden meine Brüder es mitunter interessanter, mit ihnen anzubandeln. Aber meine Mutter kriegte es raus und sorgte für manch schmerzhafte Trennung.
Wir gehörten einer Schicht an, die man die ›Intelligenzija‹ nannte – der Begriff stammt daher, dass in Russland die große Masse der Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnte. Wer zum Bürgertum gehörte, hatte Zugang zu Bildung. Materiell gab es innerhalb der Intelligenzija eine große Spannweite. Unsere Familie war nicht reich – wie etwa Beckers in späteren Jahren –, aber wir hatten ein sorgloses Leben. Unseren Verhältnissen entsprechend wohnten wir im ›Admiralitätsviertel‹ in einer geräumigen Mietwohnung. Mein Vater arbeitete viel, und uns Kindern wurde von klein auf beigebracht, dass man sich anstrengen muss, wenn man im Leben Erfolg haben will. Mein Vater stammte aus bescheidenen Verhältnissen in der Provinz und hatte sich hochgearbeitet. Er war sehr stolz auf das, was er erreicht hatte. Wenn meine Brüder schlechte Noten nach Hause brachten, machte er aus seiner Missbilligung keinen Hehl. Er hielt ihnen vor, sie könnten bald nur noch ›dworniki‹, d. h. Straßenkehrer werden. Bildung, Fleiß und Bescheidenheit waren für ihn die höchsten Tugenden. Es galt meinen Eltern als selbstverständlich, dass meine Brüder, sobald sie mit der Schule fertig waren, sich zum Studium selbst Geld hinzuverdienten, durch Nachhilfestunden oder in den Ferien als Hauslehrer bei reichen Familien.
Mein Vater verbrachte die meiste Zeit der Woche in seinem Kontor, das mit importierten Textilien – vor allem Wollstoffen – handelte. Es lag nicht allzu weit von unserer Wohnung entfernt, er ging zu Fuß, den Weg am Kanal entlang liebte er sehr, und manchmal besuchten wir ihn dort. Ab und zu fuhr er zu Messen im Ausland, nach London oder Paris, um neue Ware zu kaufen. Von dort brachte er feine Stoffe mit, aus denen meine Mutter für uns etwas schneiderte – sie hatte sich das Nähen in ihrer Jugend selbst beigebracht und nähte ihre und unsere Kleider alle selbst.
Meine Mutter, die gern und viel gereist war, musste davon Abstand nehmen, mit kleinen Kindern war es zu beschwerlich. Eine Bahnfahrt nach Deutschland dauerte mehrere