Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
immer stehen, um uns einen festen Schwung zu geben, und wartete, bis wir wieder herunterkamen.
Unter den vielen Papieren aus Sonjas Nachlass finde ich schließlich noch ein paar Schreibmaschinenseiten, auf denen Alfred (Fredy), der zweitälteste Bruder, ein paar kleine Szenen aus seiner Kindheit festgehalten hat. Sie lassen den Alltag der Hackels um die Jahre 1906/1907 lebendig werden:
Szene eins
Grauer Morgen, Sonntag in Petersburg. Ich werde wach. Jemand gibt mir einen Kuss. Ich öffne die Augen, lächle im Halbschlaf. Gleich schneide ich eine Grimasse. Sie kichert fröhlich. ›Sie‹ ist Sonjetschka, meine Schwester; ihre Haare sind sorgfältig gekämmt, eine große Seidenschleife darin, sie trägt ein schwarzes Samtkleid, auf der Brust ein Medaillon. Ich strecke den Arm aus, packe zu und ziehe sie heran. Ich will sie schnappen, aber sie macht sich frei, mit Quieken und Geschrei. Eine Stimme aus dem Nebenzimmer: »Na warte, Dir werd’ ich was erzählen!« Die Stimme bringt mich sofort zurück in die Wirklichkeit. Ich strecke mich. Tap-tap-tap den Flur entlang, jemand eilt zum ›Heiligen Örtchen‹, sagt dabei: »Kinder, aufstehen«. Das vertraute leichte Hüsteln, »ehem, ehem«, folgt Papa auf einen Platz, von dem jetzt für lange Zeit das Rascheln einer Zeitung zu hören ist. Denn das ist das ›Heilige Örtchen‹. Es ist der Ort, wo er sich die neuesten Nachrichten und die Theaterkritiken zu Gemüte führt. Mit einem Gefühl der Erleichterung einerseits, andererseits prall gefüllt mit den Berichten aus ›Das Wort‹18 oder dem ›St. Petersburger Herold‹19 IX, kommt er erfrischt wieder heraus und geht geradewegs in die Wanne. Meine Aufgabe ist es, ihm den Rücken zu schrubben, bis er rot wird. Er beugt sich vor, seine weiche Haut und sein muskulöser Rücken glitzern, und ich reibe richtig fest mit einem harten Schwamm. Papa knurrt zufrieden. »Feste rubbeln, feste!« Ich gehorche. Dann eilt er, um sich anzuziehen. Gestern ist er spät nach Hause gekommen, ›in Geschäften‹, nach einem Besuch bei Boris [gemeint ist Benno Becker], zusammen mit Rudi, Felix, Gerson und dem anderen Boris … Gerade jetzt ist er jedenfalls munterer als wir.
Das Frühstück beginnt um 10 Uhr. Bloß nicht zu spät kommen! Die frische Unterwäsche kratzt. Ich bin durcheinander, die Manschettenknöpfe sind irgendwo abgeblieben. Der Hemdkragen lässt sich kaum biegen, so sehr ist er gestärkt. Natürlich bin ich wieder der Letzte. Ich gebe Papa einen Kuss auf die sauber rasierte, leicht duftende Wange. (Gerade gestern hat er bei Louis [einem Friseur] haltgemacht). Ich gebe Mamas Hand einen Kuss, Sonjas Mund. Nicht nötig Paul und Bobus [Bobby] zu begrüßen, wir schlafen alle im selben Zimmer. Bei Tisch geht es lebhaft zu. Der Kaffee duftet, es gibt Honig, Butter, Brötchen. Schmatzgeräusche … lecker und bedeutungsvoll – Essen und Kauen. Papa weiß schon alle Neuigkeiten von der Börse. Es macht ihm Spaß, uns mit Nachrichten aus Slowo [die Zeitung ›Das Wort‹] zu erschrecken. Ich esse schnell, weil ich noch in die Zeitung schauen muss, bevor es losgeht. Zusammen mit Papa gehen wir hinüber zum Museum, natürlich zur Eremitage. Früher war es so: wir machten einen Spaziergang zum Palast, gingen am Ufer spazieren, aber jetzt ist es die Eremitage. Er nimmt uns mit zu ›seinen Lieben‹. Wir gehen die Marmortreppe hinauf zu den ›Drei Grazien‹, zu ›Vol’ter‹20. Vol’ters LächelnX – Satire, Spott. Zieht uns an und stößt uns ab. Aber Papa hat seinen Spaß. Dann geht es weiter zu ›Danaya‹21 und ›Venus vor einem Spiegel‹ von Tizian. Für Papa ist sie die Offenbarung weiblicher Schönheit. Dann zum großen Saal der italienischen Kunst. Papa ist verzückt. Dann ein Porträt eines Fremden, der Papa erstaunlich ähnlich sieht. Dann müssen wir noch einen Moment zu den Franzosen, dann zwei Minuten Rembrandt, dann wieder nach Hause. Aus zwei Minuten wird eine Stunde. Es ist Mittag. Ich schaue mich um, höre noch den Kanonenschuss, der 12 Uhr Mittag anzeigt. Er ist wie ein Zeichen für alle, auf die Uhr zu schauen. Die Fensterscheiben beben. Und jetzt die Musik, der Siegesmarsch. Wie in alten Zeiten möchte ich mitlaufen, den Gardisten folgen. Aber ich reiße mich zusammen, bin kein kleiner Junge mehr, ich bin gekommen, um Rembrandt anzuschauen! Aber mein Herz will nach unten rennen, und dann, anstelle von Rembrandt, anstatt der Gemälde, erscheint ein anderes Bild. Ich horche nach der Garde. Sie holen die Flagge ein, und so, zwischen Rembrandt und dem militärischen Spektakel, ist eine Kinderseele hin und hergerissen.
Schließlich gehen wir heim. Auf dem Nachhauseweg gehen wir mit Papa noch für ein paar Minuten in die französische Bäckerei. Papa will einen anständigen Laib Brot. Was ist ein sonntägliches Mittagessen ohne einen Laib Brot? Schließlich, Brot in der Hand, gehen wir triumphierend nach Hause. Viele vertraute Gesichter auf der Straße, sie kommen aus der Kirche zurück. Begrüßung, manchmal bleibt man stehen, manchmal nur ein Lächeln. Über die Brücke am Kanal, und wir sind zu Hause. Sonjetschka war draußen spazieren, sie hat rote Bäckchen von der Kälte. Es ist unwahrscheinlich weich, ihre leicht gefrorenen, samtigen Wangen zu küssen. Der Esszimmertisch ist schon gedeckt. Heute gibt es Blätterteig mit Kohl, ein wunderbares Gericht von Katja, der Köchin. Dann Eintopf und schließlich einen leichten Kuchen. Papa lässt es sich schmecken. Jeder Bissen ein Geschenk. Jeder Schluck Bier ein Genuss. Die Kunst, das Essen und ein gutes Schlückchen dazu, das ist die Sonntagssinfonie. Natürlich ist Kunst kein Fleisch, sie lässt sich mit Katjas Blätterteig nicht vergleichen, aber trotzdem ist sie seine allgegenwärtige Freude. Das lehrt er uns nicht mit Worten, sondern als Vorbild, durch sein eigenes, erfülltes Leben.
Szene zwei
Das Leben geht seinen Gang, geschmeidig wie Butter. Die Zeit vergeht, jeder Tag folgt einer bestimmten Routine. Im ruhigen Fluss der Zeit manchmal Pausen und Sprünge, Konzerte, Theater oder Partys zu Hause oder bei Freunden.
Abend: Ich lerne; die Prüfungen bringen mich noch um. Paul sitzt mir gegenüber und liest. Auf dem Tisch steht Schnaps, den wir in einem Bücherschrank verstecken. Der Schnaps steht hinter den französischen Büchern. ›Wie wär’s mit etwas französischer Dichtung?‹ In unserer Räubersprache bedeutet das ›Wie wär’s mit einem kleinen Drink?‹. Mama ist im Bett, Papa im Theater, und Bobus ist ausgegangen, natürlich irgendwo zum Tanzen. Plötzlich das vertraute »ehem, ehem«, Papas Hüsteln. Er ist zurück. Wir laufen ins Wohnzimmer, aber er ist bei Mama. Laute Stimmen sind zu hören, Papa ist offenbar aufgebracht. Er spricht schnell und aufgeregt. Vielleicht ist er im Theater bestohlen worden? Wir kommen rein. Papa steht am Bett und spricht wie in Trance. Nein, er ist nicht ausgeraubt worden. Im Gegenteil, er ist überwältigt von dem, was er gesehen und erlebt hat. In seinen Augen leuchtet eine Spur von etwas, das ich nie bei ihm gesehen habe. Seine Nasenflügel beben wie bei einem Vollblutpferd. Er ist irgendwie verwirrt, überwältigt. Stockend spricht er darüber, über das Theater, über ewige Liebe und den Tod. Der Samowar auf dem Esszimmertisch zischt. Dort stehen ein kleiner Imbiss und Obst. Aber Papa redet weiter. Manchmal versagt seine Stimme. Er gestikuliert hilflos mit den Händen und lächelt schuldbewusst. Mama legt sich hin und strahlt. Es tut ihr nicht leid, dass sie nicht dabei war. Sie freut sich, dass er da war, und sie versteht und fühlt, dass seine Seele aufgewühlt ist.
Es ist wieder Abend. Wir sind um den Tisch versammelt. Mama und die Kinder. Wie immer unterhalten wir uns lange. Und es gibt Tee aus dem Samowar, dazu Marmelade. Papa ist nicht da. Er ist einen Ringkampf anschauen gegangen zwischen den beiden Welt-Champions. Das ist ein bisschen merkwürdig. Papa ist kein Ringer, und an solch einen Ort zu gehen, der nach Tabak und Schweiß riecht, ist schon etwas unangenehm. Aber Papa ist trotzdem hingegangen.
Da ist sein »ehem, ehem« im Flur. Er kommt rein, freudestrahlend. Und? Wer hat gewonnen? Papa verwandelt sich. Er beginnt zu erzählen. Über Zaikin, wie er Zbitko zu packen bekam. Nein, gar nicht leicht. »Fredy, komm her.« Ich gehe hin. Papa ist Zbitko und ich bin Zaikin.22 XI
Papa packt mich fest mit seinen Händen und hebt mich hoch. Meine Hose reißt. Die Knöpfe fallen ab. Aber Papa ist voll bei der Sache. Und dann lief es genau so … das tut weh, kein Witz. Papa setzt mich auf dem Teppich ab. Er schnappt mich. Jetzt steigt auch bei mir die Spannung. Wir ringen. Mama und alle anderen lachen. Und so hat Zaikin ihn gepackt, aber Zbitko … Ich merke, wie meine Hosenknöpfe in den Kamin springen. Aber Papa ist voller Erregung. Er ist in Hochform, unter Volldampf. Und er steckt uns alle damit an.
Szene drei
›Weihnachtsbaum‹
Draußen