Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker

Die drei Emigrationen der Sonja Berg - Daniel Levin Becker


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immer stehen, um uns einen festen Schwung zu geben, und wartete, bis wir wieder herunterkamen.

      Unter den vielen Papieren aus Sonjas Nachlass finde ich schließlich noch ein paar Schreibmaschinenseiten, auf denen Alfred (Fredy), der zweitälteste Bruder, ein paar kleine Szenen aus seiner Kindheit festgehalten hat. Sie lassen den Alltag der Hackels um die Jahre 1906/1907 lebendig werden:

       Szene eins

      Schließlich gehen wir heim. Auf dem Nachhauseweg gehen wir mit Papa noch für ein paar Minuten in die französische Bäckerei. Papa will einen anständigen Laib Brot. Was ist ein sonntägliches Mittagessen ohne einen Laib Brot? Schließlich, Brot in der Hand, gehen wir triumphierend nach Hause. Viele vertraute Gesichter auf der Straße, sie kommen aus der Kirche zurück. Begrüßung, manchmal bleibt man stehen, manchmal nur ein Lächeln. Über die Brücke am Kanal, und wir sind zu Hause. Sonjetschka war draußen spazieren, sie hat rote Bäckchen von der Kälte. Es ist unwahrscheinlich weich, ihre leicht gefrorenen, samtigen Wangen zu küssen. Der Esszimmertisch ist schon gedeckt. Heute gibt es Blätterteig mit Kohl, ein wunderbares Gericht von Katja, der Köchin. Dann Eintopf und schließlich einen leichten Kuchen. Papa lässt es sich schmecken. Jeder Bissen ein Geschenk. Jeder Schluck Bier ein Genuss. Die Kunst, das Essen und ein gutes Schlückchen dazu, das ist die Sonntagssinfonie. Natürlich ist Kunst kein Fleisch, sie lässt sich mit Katjas Blätterteig nicht vergleichen, aber trotzdem ist sie seine allgegenwärtige Freude. Das lehrt er uns nicht mit Worten, sondern als Vorbild, durch sein eigenes, erfülltes Leben.

       Szene zwei

      Das Leben geht seinen Gang, geschmeidig wie Butter. Die Zeit vergeht, jeder Tag folgt einer bestimmten Routine. Im ruhigen Fluss der Zeit manchmal Pausen und Sprünge, Konzerte, Theater oder Partys zu Hause oder bei Freunden.

      Abend: Ich lerne; die Prüfungen bringen mich noch um. Paul sitzt mir gegenüber und liest. Auf dem Tisch steht Schnaps, den wir in einem Bücherschrank verstecken. Der Schnaps steht hinter den französischen Büchern. ›Wie wär’s mit etwas französischer Dichtung?‹ In unserer Räubersprache bedeutet das ›Wie wär’s mit einem kleinen Drink?‹. Mama ist im Bett, Papa im Theater, und Bobus ist ausgegangen, natürlich irgendwo zum Tanzen. Plötzlich das vertraute »ehem, ehem«, Papas Hüsteln. Er ist zurück. Wir laufen ins Wohnzimmer, aber er ist bei Mama. Laute Stimmen sind zu hören, Papa ist offenbar aufgebracht. Er spricht schnell und aufgeregt. Vielleicht ist er im Theater bestohlen worden? Wir kommen rein. Papa steht am Bett und spricht wie in Trance. Nein, er ist nicht ausgeraubt worden. Im Gegenteil, er ist überwältigt von dem, was er gesehen und erlebt hat. In seinen Augen leuchtet eine Spur von etwas, das ich nie bei ihm gesehen habe. Seine Nasenflügel beben wie bei einem Vollblutpferd. Er ist irgendwie verwirrt, überwältigt. Stockend spricht er darüber, über das Theater, über ewige Liebe und den Tod. Der Samowar auf dem Esszimmertisch zischt. Dort stehen ein kleiner Imbiss und Obst. Aber Papa redet weiter. Manchmal versagt seine Stimme. Er gestikuliert hilflos mit den Händen und lächelt schuldbewusst. Mama legt sich hin und strahlt. Es tut ihr nicht leid, dass sie nicht dabei war. Sie freut sich, dass er da war, und sie versteht und fühlt, dass seine Seele aufgewühlt ist.

      Es ist wieder Abend. Wir sind um den Tisch versammelt. Mama und die Kinder. Wie immer unterhalten wir uns lange. Und es gibt Tee aus dem Samowar, dazu Marmelade. Papa ist nicht da. Er ist einen Ringkampf anschauen gegangen zwischen den beiden Welt-Champions. Das ist ein bisschen merkwürdig. Papa ist kein Ringer, und an solch einen Ort zu gehen, der nach Tabak und Schweiß riecht, ist schon etwas unangenehm. Aber Papa ist trotzdem hingegangen.

      Papa packt mich fest mit seinen Händen und hebt mich hoch. Meine Hose reißt. Die Knöpfe fallen ab. Aber Papa ist voll bei der Sache. Und dann lief es genau so … das tut weh, kein Witz. Papa setzt mich auf dem Teppich ab. Er schnappt mich. Jetzt steigt auch bei mir die Spannung. Wir ringen. Mama und alle anderen lachen. Und so hat Zaikin ihn gepackt, aber Zbitko … Ich merke, wie meine Hosenknöpfe in den Kamin springen. Aber Papa ist voller Erregung. Er ist in Hochform, unter Volldampf. Und er steckt uns alle damit an.

       Szene drei

      ›Weihnachtsbaum‹

      Draußen


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