Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Daniel Levin Becker
target="_blank" rel="nofollow" href="#ulink_67f5933d-db6d-5875-b817-1c180c9670e6">18Russisch: ›Das Wort‹ – gemeint ist mit Sicherheit ›Russkoje Slovo‹, die damals größte russischsprachige Tageszeitung, die seit 1895 in Moskau erschien und 1917 von den Bolschewiki verboten wurde.
19Der ›St. Petersburger Herold‹ war eine von zwei deutschsprachigen Tageszeitungen und erschien von 1871 bis 1914, dann wurde er verboten, weil mit Kriegsbeginn aller deutsche Einfluss aus Russland verbannt werden sollte. Der Herold war die Konkurrenz der älteren ›Petersburger Zeitung‹, vertrat politisch einen liberalen Standpunkt und legte zu dieser Zeit vor allem Wert auf eine kritische Berichterstattung gegenüber der konservativen Zarenmacht. Er brachte täglich unter dem Motto Unsere Presse eine exklusive Presseschau über die Top-Nachrichten der damals größten russischen Tageszeitungen. Weitere Inhalte waren Stadtnachrichten, Wichtiges aus dem Deutschen Reich, Wirtschaftsnachrichten, Romane sowie monatliche Beilagen zu Mode und Landwirtschaft.
20Gemeint ist die Marmorskulptur von Voltaire von Jean-Antoine Houdon, noch heute eines der vielen Glanzstücke der Eremitage.
21Danae von Tizian, 1930 von der Eremitage verkauft, seither National Gallery of Art, Washington DC.
22Gemeint ist offenbar der polnische Ringkämpfer Stanislaus Zbyszko, der um 1905 in ganz Europa und später in den USA sehr erfolgreich wurde. 1906 gastierte er für eine Saison in St. Petersburg. Eine amerikanische Website listet alle Matches auf. Sie verzeichnet: Sieg über Alexander Saikin, am 2. August, am 7. und 14. August, und nochmals am 1. September. An einem dieser Tage muss Gustav dem Kampf zugeschaut haben.
Revolution
Nach acht, Bonn 1987
»Unser geruhsames Leben in Petersburg endete schlagartig mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Meine Brüder, die inzwischen alle die Schule beendet hatten, die älteren beiden studierten bereits, mussten in den Krieg. Zum Glück nicht gleich, aber 1916 wurden alle drei eingezogen. Als Angehörige der ›Intelligenzija‹ wurden sie Nachwuchsoffiziere. Das machte die Sache für sie insofern besser, als sie nicht als Kanonenfutter verheizt wurden wie die Leute aus dem einfachen Volk, aber die Befürchtungen meiner Mutter, ihre Jungen ›zu irgendjemandes höherer Ehre‹ opfern zu müssen, rückten in den Bereich des Möglichen.
Russland war auf den Krieg miserabel vorbereitet, sowohl militärisch als auch im zivilen Leben. In den Geschäften gab es kaum noch etwas zu kaufen, für Lebensmittel zahlte man horrende Preise. Auf den Feldern und in den Fabriken fehlten die Arbeiter. Die meisten arbeitsfähigen Männer waren an der Front, wo sie wegen der schlechten Ausrüstung wie die Fliegen starben. Die Familien der Gefallenen stürzten oft in bodenloses Elend.
St. Petersburg wurde in Petrograd umbenannt – die Stimmung richtete sich zunehmend gegen alles Deutsche, und man tat besser daran, nicht in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen. Viele in Russland lebende Deutsche wurden ausgewiesen oder sagten sich, dass es besser sei, zu gehen. Wir waren davon nicht unmittelbar betroffen. Mein Vater hatte die russische Staatsbürgerschaft, meine Mutter war Deutsche, aber ihre Ehe mit einem Russen schützte sie vor der Ausweisung. Wir Kinder waren in Petersburg geboren und daher auch Russen. Aber selbst deutsch klingende Namen waren verdächtig. Zur Sicherheit setzte mein Vater seinem Vornamen damals ein e hinzu, Gustave, damit man es für Französisch halten konnte.
Schon lange war es bergab gegangen mit der Macht der Zaren. Nikolai II., der letzte Zar, interessierte sich kaum für die Regierungsgeschäfte. Er zog sich lieber in seine Sommerresidenz nach Zarskoje Selo zurück. Gelegentlich hatte er ein paar fähige Minister, die er aber beim nächsten Aufstand wieder davonjagte.
An seinem Hof gab es viele Günstlinge und andere finstere Gestalten, die auf die Politik Einfluss nahmen. Unter diesen war ein ganz Besonderer, das war Rasputin, ein sibirischer Wanderprediger und Wahrsager.
Mit der Zarenfamilie, den Romanows, war es ja so, dass sie an der Bluterkrankheit litten. Besonders der Thronfolger, der Zarewitsch. Er war noch ein Kind, für ihn war das lebensbedrohlich. Vor der Öffentlichkeit wurde die Sache geheim gehalten. Medizinisch gab es damals kaum Möglichkeiten, die Krankheit zu behandeln. Es hieß nun, dass Rasputin der Einzige gewesen sei, der mittels Hypnose die Blutungen des Jungen habe stoppen können. Dadurch gewann er großen Einfluss auf die Zarin Alexandra Fjodorowna. Es hieß, Rasputin hypnotisiere auch sie. Er muss unglaubliche Augen gehabt haben! Ihm wurden allerlei magische Kräfte zugeschrieben. Wahrscheinlich war das Hokuspokus, aber im damaligen Russland war Aberglaube sehr verbreitet. Weil er Macht über die Zarenfamilie hatte, machte Rasputin sich viele Feinde. Je schlechter die Lage wurde, umso mehr glaubte man, er habe die Zaren verhext. Eine Gruppe von Adligen überlegte sich, Rasputin zu beseitigen. Zum Jahresende 1916 organisierten sie eine Verschwörung, in einem Haus gleich in unserer Nachbarschaft. Man lud Rasputin dort zu einem Bankett ein, wo man ihn mit vergiftetem Nachtisch umbringen wollte. Der Plan schlug aber fehl23 und Rasputin entkam ins Freie. Die Verschwörer liefen ihm hinterher, erschossen ihn schließlich auf der Straße – die Schießerei konnten wir zu Hause hören – und steckten ihn anschließend in ein Eisloch, um sicherzugehen, dass der Teufelskerl auch wirklich tot war.
Kurz nach der Sache mit Rasputin wurde in der Februarrevolution 1917 der Zar abgesetzt. Kerenski24 von der Partei der gemäßigten Sozialrevolutionäre wurde Regierungschef. Aber Russland steckte da schon so tief im Schlamassel, dass er sich nicht lange halten konnte. Schuld daran war letztlich die deutsche Regierung. Sie hatte die Idee, Lenin nach Russland einzuschleusen, um das Chaos beim Kriegsgegner noch größer zu machen. Eigentlich war damals schon klar, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Um aber noch etwas herauszuschlagen, holten die Deutschen Lenin aus seinem Exil in der Schweiz, setzten ihn in einen verplombten Eisenbahnwagen, fuhren ihn durch halb Europa über Finnland nach St. Petersburg – diese Geschichte ist ja bekannt. Damit begann dann die Oktoberrevolution. Die Schüsse, die vom Panzerkreuzer Aurora das Startsignal dazu gaben, konnten wir ebenfalls zu Hause hören.
Als die Bolschewiki die Macht übernahmen, hat kaum einer sie richtig ernst genommen. Mein Vater sagte immer: ›In ein paar Wochen ist der Spuk vorbei‹ – na ja, diese Erwartung hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Die Lage war sowieso schon chaotisch, aber es wurde nur noch schlimmer. Es gab nichts mehr zu kaufen – höchstens auf dem Schwarzmarkt für astronomische Preise. Die Menschen hungerten, auf den Straßen ging es gewalttätig zu. Das waren die Vorboten des Bürgerkriegs, der im Sommer 1918 ausbrach. Irgendwann in dieser Zeit wurden dann sämtliche Geschäfte, Fabriken usw. enteignet. Alle Geschäftsleute, so auch mein Vater, verloren ihre Existenzgrundlage.
Ob dies den Anlass gab oder etwas anderes, weiß ich nicht – meine Eltern sprachen über solche Dinge nicht mit mir –, aber im Oktober 1918, ein Jahr nach der Revolution, beschlossen sie ziemlich plötzlich, dass wir jetzt fliehen müssten. Ich erinnere mich, dass das für mich überraschend kam. Meine Eltern hatten so gut es ging versucht, die Schrecken der Zeit von mir fernzuhalten. Auf einmal musste alles ganz schnell gehen. Wir packten eilig zusammen, was wir tragen konnten, und verließen die Wohnung. Es hieß, dass die Abriegelung der Grenze kurz bevorstehe. Meinem Vater war es gelungen, Fahrkarten für den letzten Zug zu ergattern, der noch die Grenze passieren durfte. Damit es nicht so sehr nach Flucht aussah, gaben wir die Reise als Fahrt zur Datscha unserer Verwandten aus. Das stimmte fürs Erste sogar. Unser Ziel war die Datscha von Beckers in Libau25, südlich von Riga an der Ostseeküste. Viele Menschen fuhren damals aufs Land, um sich besser versorgen zu können. Es kann sein, dass meine Eltern zu diesem Zeitpunkt ahnten, dass wir vielleicht nicht mehr zurückkehren könnten, aber das hielten sie vor mir verborgen.
Die Fahrt mit dem Zug dauerte viele Stunden. Es war Krieg, und entsprechend waren die Verhältnisse. An irgendeiner Stelle war die Bahnlinie unterbrochen, dort lag die militärische Demarkationslinie. Wir mussten