Blut für Gold. Billy Remie
holte mit dem Kopf aus und schlug ihm die Stirn mitten ins Gesicht. Er zuckte selbst zusammen und spürte den pochenden Schmerz in seinem Schädel, doch wie der Wichser zurücktaumelte und sich das Gesicht hielt, erfüllte ihn mit Genugtuung.
Wie zu erwarten, hagelte es von den Handlangern links und rechts ein paar Fausthiebe in seine Nieren, bis er nur noch keuchend und sabbernd vorn überhing. Das war es dennoch wert gewesen.
»Temperamentvoll.« Der Rattenkönig wischte sich das Blut von der aufgeplatzten Lippe. »Stolz und unbeugsam. Du bist ´nen wohlhabender Fratz, was?«
Darcar spuckte ihm einen Speichelklumpen entgegen, doch der Rattenkönig wich aus, lachte vergnügt.
»Du Miststück!« Er grinste breit, schien Spaß an Darcars Gegenwehr und Hilflosigkeit zu haben. »Wie ist dein Name?«
Darcar bohrte seinen Blick nur voller Genugtuung in seinen. Er würde nichts sagen.
Doch das amüsierte den anderen nur. »Ich weiß, wer du bist. Kommst mit deinem Bruder hierher, aus dem hübschen, reichen Viertel der Stadt. Oh ich weiß, wer du bist.«
»Du weißt gar nichts«, gab Darcar zurück und erschrak selbst über seine kratzige, schwache Stimme.
Ein milder Ausdruck trat auf das Gesicht des Rattenkönigs, er legte den Kopf im gespielten Bedauern schief. »Wird dein Papi nicht heute hingerichtet?«
Darcar erbleichte. Woher in aller Welt wusste der Wichser wer er war? Wie konnte das sein?
Er verstand nicht, was hier gespielt wurde.
»Ins Schwarze getroffen.« Zufrieden legte der Rattenkönig den Kopf nun von der einen auf die andere Seite, seine Augen blitzten schelmisch. »Bist du nicht traurig, dass du nicht dabei sein kannst?«
Darcar sagte nichts, erwiderte nur weiterhin voller Hass den Blick des anderen.
Dieser lachte leise in sich hinein, zugegeben war dieser Laut beinahe zu wohlklingend für dieses Scheusal. Beinahe melodisch. Seine Stimme besaß etwas… Kunstvolles, er wäre unter anderen Umständen vielleicht ein guter Opernsänger geworden.
Er ging vor Darcar, der nur noch dadurch stand, dass er festgehalten wurde, ein Stück in die Knie und zog eine Schnute, als würde er mit einem Kleinkind sprechen. »Möchtest du es sehen?«
Darcar sank das Herz in die Hose, er konnte es nicht verstecken, sein Gesicht gab seine tiefsten Gefühle gegen seinen Willen preis.
Der andere grinste wieder. »Ich kann es dir zeigen.« Er blickte demonstrativ nach oben. Darcar folgte seinem Blick, schluckte hart. Der Uhrenturm erhob sich bedrohlich über dem Viertel – und der gesamten Stadt.
Der Rattenkönig sah Darcar wieder süffisant an. »Bereit, für einen letzten Blick auf Papi?«
Darcar schüttelte wild den Kopf, die Augen angstgeweitet, obwohl er bereits wusste, dass es die Mühe nicht wert war.
Kapitel 6
Er knallte mit dem Rücken gegen das Eisengerüst und hatte plötzlich die eigene Klinge an der Kehle.
»Muss ich mich wiederholen?«, zischte der Rattenkönig ungeduldig. »Entweder gehst du jetzt brav mit nach oben, oder ich schicke meine Männer los, deinen kleinen, wunderschönen Bruder zu suchen, und dann mache ich vor deiner wütenden, machtlosen Fresse, all die Dinge mit ihm, die ich doch eigentlich mit dir tun wollte.«
»Fick dich!«, spie Darcar ihm entgegen. »Ich töte dich, wenn du ihn auch nur ansiehst!« Es war das erste Mal, dass er so eine Drohung überhaupt aussprach, und er meinte sie aus tiefstem Herzen ernst. Für Veland würde er alle Todsünden begehen. Es gab nichts, was er nicht für ihn tun würde.
Der Rattenkönig lächelte hämisch. »Bevor oder nachdem ich euch aufgeschlitzt habe?«
Darcar war sich sicher, dass er so oder so nach Veland suchen lassen würde, trotzdem fruchtete die Drohung immer wieder. Er wollte es nicht riskieren. Aber er wollte auch nicht dieses Gerüst hinaufsteigen und wehrte sich deshalb wie ein wildbockendes Pferd. Beinahe hätte er einen der Handlanger über die Brüstung und somit in den Tod gestoßen. Leider nur beinahe…
»Vorwärts!« Der Rattenkönig packte ihn grob am Arm, verdrehte ihn, sodass Darcar aufschreiend nach vorne sank und ein paar Schritte taumelte. »Geh!« Er drückte ihm die Klinge in den Rücken. Darcar ging vorwärts. Er wollte nicht, aber er ging. Auf zittrigen Beinen und mit einem dicken Kloß im Hals stieg er die schmale, gewundene Treppe im inneren des Uhrenturmes hinauf, bis ganz nach oben in die Spitze, wo ein Torbogen hinaus in die kalte Luft auf ein weiteres Gerüst führte.
So weit oben auf einem wackeligen Eisengitter schwindelte es Darcar. Er hasste Höhe, immer schon, ihm wurde ganz komisch, als ob der ganze Turm schwanken würde. Der Wind war in diesen Höhen deutlicher, schneidender. Kälter. Er peitschte Darcar die Schneeflocken ins Gesicht, sodass sie sich auf seinen Wangen wie fliegende Kristallsplitter anfühlten.
Doch der Wind trug noch mehr als Schnee zu ihm heran, auch das Stimmengewirr aus der Stadt. Nahe dem Elendsviertel befand sich der Scharfrichterplatz. Der Galgen, das Schafott. Auf dem runden Platz hatte sich eine Traube Menschen versammelt, der Pöbel und der Adel, die gesamte Stadt war herangetreten, sodass die Straßen rund um den Ort des Geschehens dunkel durch unruhige Schatten waren. Die Menschenmassen tummelte sich in jeder Ritze. Von oben konnte Darcar niemanden speziellen erkennen, sie sahen aus wie Insekten. Ameisen, die die Straßen fluteten. Ein schwarzbrauner Teppich, der sich unruhig wellte.
Er war froh, dass er keine Einzelheiten erkennen konnte, doch er sollte noch feststellen, dass es selbst aus dieser Entfernung nur durch Erahnen erschreckend genug werden würde.
Darcar wehrte sich gegen die Griffe der anderen, doch es war zwecklos. Er drehte den Kopf weg, da trat der Rattenkönig so dicht an seine Seite, als wollte er ihn umarmen, packte sein Kinn mit zwei knochigen Fingern und zwang es herum, sodass er hinsehen musste. Darcar jedoch wusste, dass niemand seine Augen festhalten konnte, als starrte er an der Hinrichtungstribüne vorbei.
Der Boden unter seinen Füßen war vom Wetter zerfressen, rostig und löchrig, hauchdünn. Der Turm schien durch den Wind zu schwanken. Es war selbstmörderisch hier oben zu stehen. Er konnte durch die Löcher hinabblicken, der Boden war so weit entfernt, dass er nur noch verschwommen zu erkennen war. Nur noch eine Ahnung. Und Darcar hatte plötzlich ein ganz seltsames, beengtes Gefühl in der Brust, sowie Schwäche in den Knien und seiner Blase. Er schluckte nervös.
Als die Stadt in Buh-Rufe ausbrach und das Stimmengewirr so laut anschwoll, dass es keines Windes benötigt hätte, um sie dort oben auf dem Turm zu hören, schossen Darcars Augen wie von selbst zum Platz. Er wollte nicht hinsehen, wirklich nicht. Er hatte sich die ganze Zeit damit getröstet, dass er, wenn er seinen Vater nicht sterben sah, sich immer noch vormachen konnte, dass er noch lebte. Dass man ihn und Veland vielleicht nur angelogen hatte, dass es eine Art Intrige gab und ihr Vater nur totgesprochen wurde, aber insgeheim irgendwohin verschleppt werden würde. Dass er lebte, in irgendeiner Zelle, und nicht getötet wurde!
Darcar konnte ihn nicht erkennen, nicht seine vertrauten Gesichtszüge, sein Kopf war nur ein heller Punkt mit dunklem Schopf. Mit wild schlagendem Herzen sah er, wie zwei Männer eine Gestalt durch die Menge zerrten. Die Menschen teilten sich und gaben den Weg frei, schrien und bewarfen den Gefangenen mit faulem Obst und Gemüse. Darcar konnte die Geschosse nur als dunkle, winzige Schatten erkennen, aber trotzdem wusste er, dass sie da waren. Ebenso wie er wusste, dass dieser arme Mensch, der dort in Lumpen gehüllt völlig entkräftet zum Schafott gezerrt wurde, sein Vater war, ohne dessen Augen zu erkennen. Er wusste nicht, woher er diese Gewissheit nahm. Er wusste es einfach. Es war in Stein gemeißelt.
Darcar wollte wegsehen, konnte aber nicht, war wie festgefroren. Plötzlich vergaß er sogar seine Angst vor der Höhe, spürte weder die Kälte noch den bösartigen, zufriedenen Blick des Rattenkönigs.
Wie in Trance schüttelte er den Kopf. Er wusste gar nicht, wie sein Vater hingerichtet werden würde, ob er gehängt oder ihm der Kopf abgeschlagen