Blut für Gold. Billy Remie
einem der vielen Hintereingänge der Manege blieb er stehen und zerrte Veland an sich. Der Kleine hatte keine andere Wahl, als dicht bei ihm zu bleiben, obwohl sein kindliches Staunen ihn für einen Moment von seiner Angst abgelenkt hatte.
Darcar warf nur einen flüchtigen Blick nach drinnen. Dort war es schummrig und es roch nach einer Mischung aus Schweiß und schweren, süßen Parfums. Der exotische Duft biss in seiner Nase, bis er Kopfschmerzen davon bekam, dabei verwehte der Wind draußen bereits die Geruchsnoten. Da war noch etwas, was er erschnüffelte, aber nicht zuordnen konnte. Vielleicht war es dieses Opium, vor dem Vater ihn immer ausdrücklich gewarnt hatte, und das die Freier, die die Manege besuchen kamen, berauschen sollte. Es glühten Lampen im Inneren, rote Tücher waren über sie gelegt, sodass es gar kein richtiges Licht gab, nur eine rötliche Dämmerung, künstlich erzeugt. Es handelte sich um einen schlichten Durchgang, und mehr als ein paar zigarettenrauchende Gestalten mit verschmierter Schminke und abgesetzten Perücken konnte er nicht erspähen. Aber die Menschen, die sich in den Straßen vor der Manege tummelten, genügten ihm bereits. In bunte Lumpen gehüllt lehnten oder saßen sie an den teils bis zur Hälfe eingestürzten Hauswänden und sahen mit leeren, menschlichkeitsfernen Blicken in seine Richtung, wie Geister aus der Dunkelheit. Sie sahen ungepflegt aus, regelrecht heruntergekommen, viele waren missgestaltet oder ihnen fehlten Gliedmaßen. Die Wände waren mit bunten Plakaten zugekleistert, jede Woche prangte ein anderes Gesicht darauf. »Die beinlose Lolita, die auf ihren Händen tanzt«, verkündete eine Überschrift aus roten Zahlen über einer Zeichnung einer beinlosen Frau, die mit dicken und roten Lippen ihre Brüste nach vorne drückte. »Nach der Show könnt ihr sie im Séparée buchen!«
Auf einem anderen stand: »Charly, der Goldjunge! Seht, wie schnell er sich aus seinen Ketten befreit – nach der Show befreit er euch gerne von euren Hosen.«
Es war auf den ersten Blick deutlich, dass das hier ein buchstäblich hartes Pflaster war. Bunt, aber in Darcars Augen trostlos. Ein Leben, das er nicht antreten wollte, nicht würde.
Ein Obdachloser saß unter seinem improvisierten Zelt aus braunen Leinen, kraulte einen dreibeinigen Hund, um den die Fliegen selbst im Winter schwirrten, und grinste zahnlos zu Darcar herüber. Sein rechtes Ohr fehlte und war durch eine Art bronzenen Trichter ersetzt worden.
Beklommen wandte Darcar das Gesicht ab, obwohl der Mann freundlich gewirkt hatte. Er drückte Veland enger an sich, da er plötzlich Angst hatte, ihn zu verlieren.
»Mein Junge…« Vic kam mit drei großen Schritten auf ihn zu, augenblicklich baute Darcar sich stolz auf. Der Sheriff beugte sich zu ihm herab und senkte seine freundliche Stimme, als fürchtete er, Darcar könnte die Umstehenden gegen sich aufbringen. »Hier habt ihr es wenigstens warm und ein Dach über dem Kopf. Essen!« Vic lächelte Veland an und wollte ihm das Haar verwuscheln, aber Darcar hielt seinen Bruder weg, starrte böse. Der Sheriff seufzte schwer und ging in die Hocke. »Darc…«
»Nenn mich nicht so. Wir sind keine Freunde. Nicht mehr.« Es war leichter, wütend zu sein, als traurig.
Vic wirkte bedauernd, ließ ihm aber seinen Willen. »Darcar«, betonte er dann, »das hier ist das Beste, was euch in dieser Situation passieren kann. Ich habe dafür gesorgt, dass ihr hier ein Zimmer habt, du wirst es mit Putzen abarbeiten können, wenn du Älter bist, kannst du hinter die Bar oder Rausschmeißer werden.«
Darcar verzog angeekelt das Gesicht. »Du hast Leute geschmiert, um uns in ein Hurenhaus zu bringen!«
Vic senkte betroffen den Blick, schüttelte kurz den Kopf, dann sah er wieder auf, versuchte es mit neuem Mut: »Das hier ist eine Chance, mein Junge. Glaub mir, was du auch über diesen Ort denkst, er ist im Vergleich zum Rattenloch ein Königshaus. Eine gute Gelegenheit, du hättest Arbeit und könntest sparen, um irgendwann wieder Fuß zu fassen! Und immerhin seid ihr hier sicher!«
»Sicher?«, rief Darcar aus, und der Hund des Obdachlosen zuckte wimmernd zusammen. Nervös sah Vic sich um, aber das kümmerte Darcar einen Scheiß. »Weißt du, wo du Veland hier reinbringst? Oh ich kann mir vorstellen, dass sie uns mit Freuden aufnehmen. Junge, naive Kinder…«
»Darc, bitte…«
»Ich bleibe hier nicht!«
»Denk an Veland!«
»Ich denke sehr wohl an ihn. Lieber schlafen wir unter einem Mantel in der Kälte als in diesem … diesem Sündenpool.« Er spuckte das letzte Wort aus, die Blicke der Umstehenden, die ihn feindselig musterten, kümmerten ihn nicht. »Ich weiß, wie es hier zu geht, und ich lasse V nicht in die Gegenwart von Dirnen und Rauschmitteln und Schwarzmarktgeschäften!«
Vic rieb sich verzweifelt den Nacken. »Ich fürchte, du hast keine Wahl!«
»Man hat immer eine Wahl«, sprach Darcar die Worte seines Vaters nach, »und nur weil wir alles verloren haben, heißt das nicht, dass wir auch noch unsere Würde verlieren müssen!«
»Dein Stolz ist hier nicht angebracht!« Langsam verlor Vic seine Geduld.
»Das hat nichts mit Stolz zu tun«, Darcars Stimme klang erstickt, als sich seine Verzweiflung an die Oberfläche kämpfte, er schniefte schnell, seine Hände zitterten, als er sie in Velands Schultern krallte. »Heute putzen wir noch die Böden, morgen liegen wir auf dem Rücken. Du weißt, dass ich recht habe!«
Schuldbewusst senkte Vic erneut den Blick.
Veland sah verwirrt zu Darcar auf: »Was soll das bedeuten?«
»Nichts.« Darcar legte ihm beruhigend die Hand auf den Kopf. »Schon gut.«
Vic versuchte es weiter mit vernünftigen Argumenten: »Niemand zwingt euch zu etwas.«
»Ach nein?« Darcar konnte nicht glauben, dass der Sheriff ihn für so naiv hielt. »Man muss uns nicht zwingen, wenn uns am Ende jedweder Ausweg verwehrt bleibt. Jetzt habe ich noch die Wahl, hier zu bleiben oder ins Rattenloch zu gehen – und ich gehe lieber ins Loch, als mir hier irgendwelche Schulden zu machen, die sich häufen, bis mir doch keine Wahl bleibt.« Seine Stimme wurde schneidend. »Man kann uns alles wegnehmen, aber niemand wird uns zu Huren machen, lieber gehe ich betteln.«
»Oder stehlen?«, warf Vic ihm vor.
»Wenn du dich mehr sorgst, dass aus Kindern Diebe werden könnten, als darum, dass sie … in der Manege arbeiten könnten, kann ich dich beruhigen. Ich habe nichts dergleichen vor.« Nein, er wusste nämlich gar nicht, was er ansonsten vorhatte, aber er wusste ganz genau, was er nicht tun wollte.
Die Diskussion ging noch eine Weile hin und her, Vic versuchte mit einem warmen Bett und Essen Darcar dazu zu bewegen, hinein zu gehen, es sich wenigstens mal anzusehen. Darcar blieb stur.
Währenddessen bemerkte Veland einen Jungen am Straßenrand, der auf dem Bordstein saß und Plakate malte. Er war etwa in seinem Alter, vielleicht etwas älter, von magerer Statur, schwarzes, schulterlanges Haar, das in einem lockeren Zopf steckte, jemand hatte ihm die linke Seite seines Schädels rasiert und in die Stoppeln ein Muster aus Linien hinein geritzt. Er trug ein schwarzes Hemd und Stoffhosen, die bis zu den Knien abgefressen waren, statt eines Gürtels hatte er sich eine Kordel umgebunden, damit der Bund seiner Hose nicht von seiner mageren Hüfte rutschte. An seinen Ohren klimperten unzählige silberne Ringe, und jemand hatte ihn weiß geschminkt und um seine verschiedenfarbigen Augen mit Kohle schwarze Ränder gemalt, er besaß einen – vermutlich aufgemalten – Schönheitsfleck unter dem rechten Auge. Veland starrte ihn ganz fasziniert an, sodass der Junge irgendwann aufsah und ihm sofort mit einem räuberhaften Lächeln zuwinkte.
Veland hob ebenfalls eine Hand, wollte zurückwinken, da schritt Darcar schnell ein, packte seinen Arm und zwang ihn dazu, sich umzudrehen und zu gehen.
»Wir bleiben hier nicht«, beschloss er unnachgiebig und steuerte den Rückweg an. »Niemals!«
Vic seufzte, er musste sich geschlagen geben und nickte seinen Männern zu, als er sich erhob. Sie holten Darcar und Veland ein und packten sie an den Armen.
»Du wirst es bereuen«, rief Vic Darcar bedauernd nach, »aber bist du erst einmal da drinnen, kann selbst ich dir nicht mehr helfen. Dort…