Schule – quo vadis?. Peter Maier

Schule – quo vadis? - Peter Maier


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hat man nämlich in der Vergangenheit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet – beeindruckt vom Pisa-Schock und von Forderungen von Wirtschaftsverbänden, die möglichst viele Gymnasialabsolventen in möglichst kurzer Zeit für Berufsausbildung oder Studium haben wollen. Reformen im Bildungsbereich waren notwendig, weil sich alles in der Welt mit hoher Geschwindigkeit weiterentwickelt. Die Schulen, die ja unsere Jugendlichen „fit for the job“ machen möchten, müssen sich dieser globalen Entwicklung auch in Zukunft stellen, gerade weil Deutschland das „Land der Ingenieure“ bleiben will, um es einmal plakativ zu formulieren. Deutschland ist ein Bildungsland und muss Schritt halten können mit der Weltentwicklung – mit der Entwicklung in den anderen Industrieländern oder in Schwellenländern wie etwa China, dem aufstrebenden Riesen.

      Wenn dabei aber etwa mit einem unausgegorenen Turbo-Gymnasium die eigentlichen Bedürfnisse der Schüler übersehen oder gar die Seele der Jugendlichen verraten wird, hat dies mittel- und langfristig fatale Konsequenzen. Jugendliche brauchen genügend Freiraum für ihre Entfaltung und Persönlichkeitsentwicklung. Schülern in der Unter- und Mittelstufe ist vor allem die Beziehung zum Lehrer wichtig, erst in zweiter Hinsicht geht es um das Fach, das er vertritt. Die Verantwortlichen in Gesellschaft, Wirtschaft und Bildungspolitik hingegen haben offensichtlich nur ein Ziel: Sie wollen die Schüler in möglichst kurzer Zeit an unsere Leistungs- und Konsumgesellschaft heranführen. Um eine Persönlichkeitsentwicklung oder gar um eine Herzensbildung geht es immer weniger, auch wenn überall von „individueller Förderung“ die Rede ist.

      Persönlichkeitsentwicklung braucht Zeit

      Anders als etwa in Bayern wurde in Hessen 2013 eine landesweite echte Wahlmöglichkeit zwischen dem G-8- und dem G-9-Gymnasium eingeführt. Die Hessische Landesregierung unter Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) ermöglichte diesen Schritt, weil sie Stimmenverluste bei der Landtagswahl 2013 befürchtete.34 Die Leiterin der Schillerschule in Frankfurt, Karin Hechler, die zunächst mit großer Begeisterung das Gymnasium G 8 eingeführt hatte, ist mit ihrer Schule als eine der ersten wieder zum G-9-Gymnasium zurückgekehrt. Ihre Argumente dafür sind von Bedeutung, weil sie wieder ganz die Schüler und ihre Bedürfnisse in den Blick nehmen:

      „Wir mussten lernen, dass man in acht Jahren nicht dasselbe machen kann wie in neun Jahren – selbst dann nicht, wenn die Kinder auch nachmittags an der Schule sind und die Zahl der Unterrichtsstunden aufgestockt wird. Vieles, etwa die zweite Fremdsprache, wurde im G 8 nach vorne verlagert. Dadurch mussten die Kinder in der fünften bis siebten Klasse plötzlich viel mehr Stoff bewältigen. Die Kinder wurden gestopft und reiften nicht. Und zur Bildung gehört eben auch ein Reifungsprozess ... Wir haben festgestellt, dass die Schüler im G 8 fast nur noch auf die nächste Prüfung gelernt haben. Die Nachhaltigkeit hat sehr stark gelitten. Nach der Prüfung war vieles sofort wieder vergessen ...

      Die Schüler haben sich immer seltener für kreative Fächer angemeldet, die nicht Pflicht waren. Es gab eine regelrechte Abhak-Mentalität. Die Schüler haben nur noch das gemacht, was unbedingt erforderlich war, und zwar nicht aus Interesse, sondern um es hinter sich zu bringen. Die Schulkultur ist dadurch sehr glatt gebügelt worden ...

      In einer Umfrage haben sich die Schüler beklagt, dass sie keine Zeit mehr für Sport und Musik außerhalb der Schule haben, dass selbst an den Wochenenden keine Zeit bleibt, Freunde zu treffen ... Sehr viele Kinder wünschen sich freie Zeit für sich, in der sie autonom bestimmen können, was sie tun.“35

      Frau Hechler hat sich zusammen mit ihrem Kollegium Gedanken gemacht, was das eigentliche Ziel von Bildung und Schule sein sollte und was ein Jugendlicher braucht, um in der immer komplexer werdenden heutigen Welt leben und bestehen zu können: „Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Schule Bildungsreichtum vermitteln muss. Hochschulreife bedeutet, über den Tellerrand hinauszuschauen. Aber um das zu vermitteln, braucht man Zeit.“36 Dennoch ist Frau Hechler der Meinung, dass sie nicht zurück zum G 9, sondern vorwärts zum G 9 gegangen ist, weil viele positive Erkenntnisse aus dem G-8-Modell beibehalten wurden – zum Beispiel die intensive Hausaufgabenbetreuung.

      Achtjähriges Gymnasium – eine Schule der Angst?

      Zu diesen Überlegungen über die Schulstruktur und ihre Konsequenzen soll noch eine ganz andere Stimme zu Wort kommen: die des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Im März 2014 titelte die SZ anlässlich des 20. Jugendkongresses des BVKJ in Weimar: „Schule der Angst. Achtjähriges Gymnasium – der Druck macht immer mehr Schüler krank ... Depressionen seien schon häufiger als Masern und Mumps ... Fast jeder dritte Schüler hat Kopfschmerzen, Schlafprobleme oder Niedergeschlagenheit.“37 In diesem Zusammenhang wird auch der Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann zitiert, der einen deutlichen und engen Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Störungen vieler Schüler im psychischen und psychosomatischen Bereich mit dem System Schule sieht: Die verkürzte Gymnasialzeit und der damit verbundene gestiegene Leistungsdruck führen zu immer mehr Verhaltensauffälligkeiten und eben zu Erkrankungen.38

      Lehrermangel, Inklusion und vor allem das Gymnasium G 8 sind auch nach Meinung vieler Ärzte des BVKJ die Hauptursachen, dass das seelische Leid der Schüler immer mehr zunimmt. Viele von ihnen sind wie in einem Hamsterrad gefangen und können nicht mehr richtig abschalten: Die Gedanken kreisen dann womöglich zwanghaft um den nächsten Termin, die nächste Klausur, die nächsten Noten. Viele Schüler machen sich diesen Druck selbst, weil sie gut sein und ihre Eltern nicht enttäuschen wollen. Sie wollen sich auf keinen Fall als Versager fühlen – nicht selten ein Teufelskreis von Leistungsdruck, Angst und infolgedessen von psychosomatischen Symptomen. Für die Kinder- und Jugendärzte des BVKJ sind dies alarmierende Zeichen. Zudem kämpfen landesweit Elternverbände seit Jahren um die Abschaffung des G 8, weil ihre Kinder in diesem Schulsystem mit mehrfachem Nachmittagsunterricht zu wenig Freizeit haben, um sich entspannen und ihre Persönlichkeit besser ausbilden zu können.39

      In dem G-8-Gymnasium ist es die Regel, dass Schüler etwa der Mittel- und Oberstufe an zwei oder sogar an drei Nachmittagen die Woche herkömmlichen (!) Unterricht haben. Dabei kann es passieren, dass sie an einem Tag acht, neun oder sogar zehn Unterrichtsstunden bewältigen müssen, unterbrochen nur durch eine 45-minütige Mittagspause. Viele Schüler sind dann in den Nachmittagsstunden nicht mehr in der Lage, den unterrichteten Stoff wirklich gut aufzunehmen und sind abends nur noch total erschöpft. Wenn sie so lange in der Schule verweilen, bräuchten Sie Freizeit, Ausgleich, Sport, Hausaufgabenbetreuung, aber nicht immer neuen Stoff – auch am Nachmittag. Diese Art von Schulsystem kann noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein, höchstens eine Übergangsphase, die noch einer sinnvollen Weiterentwicklung bedarf. Die Gefahr ist groß, dass solch ein Schulsystem zunehmend nur noch rational ausgerichtete „Hirnkinder“ hervorbringt, denen eine wirkliche Herzensbildung fehlt.

      Außerdem gerät das zweite schulische Bildungsziel neben der reinen Stoff- und Kompetenzvermittlung gerade im G-8-Gymnasium immer mehr unter die Räder: die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler sowie der Prozess ihrer Initiation, das heißt ihres Erwachsenwerdens. Dies braucht Zeit, die es für viele Jugendliche im G 8 nicht mehr oder nicht ausreichend gibt. Die Hauptintention dieses Buches ist es, vor allem diesem vernachlässigten zweiten Bildungsziel Raum zu geben und in den nachfolgenden Kapiteln den eigentlichen Schlüssel der Pädagogik zu finden. Doch zunächst sollen in diesem ersten Kapitel noch einige Aspekte der berühmten „Hattie-Studie“ genannt werden, die in einem Buch über Schule nicht fehlen darf, weil sie eine wichtige Orientierung in Bildungsfragen geben und ein wohltuendes Korrektiv zur gegenwärtig so aufgeheizten Bildungsdiskussion darstellen kann.

      Seit 2009 erregt das Werk des Neuseeländers John Hattie weltweit großes Aufsehen in der Bildungsdiskussion. Dazu titelt Martin Spiewak in DIE ZEIT: „Ein neuer Name geht um in der Pädagogik. Man liest Aufsätze und hört ihn in Vorträgen. Einige der wichtigsten deutschen Schulforscher kommen ohne ihn nicht mehr aus. Und schon bald, das sei prophezeit, werden es alle sein. Vom 'Hattie-Faktor' und vom 'Hattie-Ranking' ist die Rede. Und man fragt: 'Was steht bei Hattie dazu?'“40

      John Hatties Werk


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