Schule – quo vadis?. Peter Maier
Von außen nämlich, das legt die von ihm angeführte Empirie nahe, lassen sich bessere Lernergebnisse nicht organisieren; ganz sicher nicht in ein oder zwei Legislaturperioden. Solange Bildungspolitik nur die Oberfläche von Schule erreicht, nicht aber die Tiefenstruktur verändert – also den konkreten Unterricht –, geht sie ins Leere.“49
Bleibt noch nachzutragen, dass in Hatties Rangliste „Förderklassen für Hochbegabte“ Platz 87, die in Mode gekommene „Inklusive Beschulung“ Platz 92, die vielbeschworene „Individualisierung“ (jeder Schüler hat sein eigenes Lerntempo) nur Platz 100, „Umfassende Unterrichtsreformen“ Platz 105, das „Co-Teaching“ (zwei Lehrer in einer Klasse) Platz 111, „Webbasiertes Lernen“ (Nutzung des Internets) Platz 112, das Unterrichten in „Jahrgangsübergreifenden Klassen“ lediglich Platz 131, sowie „Freiarbeit“ Platz 132 einnehmen, um nur einige Einflussfaktoren auf den Unterrichtserfolg zu erwähnen. Dabei ist bei den beiden letztgenannten Faktoren zu sagen, dass sie mit einer „Effektstärke“ von nur 0,04 dem Lernerfolg zwar gerade noch nicht schaden, aber praktisch überhaupt keinen positiven Effekt mehr haben.50 Erwähnenswert ist noch, dass selbst der computergestützte Unterricht, auf den so viele Bildungsreformer größten Wert legen und in dem sie „den“ Unterricht der Zukunft sehen, nur Platz 71 auf der Skala der 138 Einflussfaktoren hat.
Die Bedeutung des Lehrers für den Lernerfolg seiner Schüler:
Sehr interessant ist, was die Hattie-Studie mit ihrem ganzen „Datengebirge“ bezüglich der Rolle des Lehrers für einen erfolgreichen und effektiven Unterricht zu Tage gefördert hat. Hatties zentrale Botschaft: „Was Schüler lernen, bestimmt der einzelne Pädagoge. Alle anderen Einflussfaktoren – die materiellen Rahmenbedingungen, die Schulformen oder spezielle Lehrmethoden – sind dagegen zweitrangig. Auf den guten Lehrer kommt es also an.“51 Nun könnte man einwenden: Das ist doch ein alter Hut, das weiß doch jeder, das klingt doch banal. Doch offensichtlich läuft diese Binsenweisheit heute an vielen Bildungspolitikern und Kultusbehörden vorbei, die meinen, laufend etwas Neues, Anderes, vermeintlich Besseres oder Tolleres präsentieren zu müssen. Dies geht oft zu Lasten der Lehrer, die ihre professionelle und qualifizierte Arbeit machen wollen und der Schüler, die sich nicht selten als Versuchskaninchen vorkommen müssen. Martin Spiewak spricht mir aus der Seele, wenn er dazu bemerkt:
„Warum glaubt die Politik noch immer, Lernergebnisse mit Strukturreformen verbessern zu können? Wieso blüht gerade in der deutschen Schuldebatte ein Methodenglaube? Und wie kommt es, dass ausgerechnet Pädagogen ihre Bedeutung kleinreden? … Hatties Forschungsergebnisse dementieren solche Einflusslosigkeit (der Lehrer, Anmerkung d. A.). Gleichzeitig widerspricht er allen Ansinnen, den Lehrer im Unterricht zu marginalisieren. Für Hattie darf ein Lehrer kein bloßer Lernbegleiter sein, kein Architekt von Lernumgebungen. Will er etwas erreichen, muss ein Lehrer sich vielmehr als Regisseur verstehen, als 'activator', der seine Klasse im Griff und jeden Einzelnen stets im Blick hat.“52
Die Hattie-Studie liefert hierzu ein klares Bild, was den Einfluss des Lehrers auf den Lernerfolg bei seinen Schülern betrifft: In der Hattie-Rangliste nehmen die „Klassenführung“ immerhin Platz 42, die „Direkte Instruktion“ Platz 26, die „Lehrer-Schüler-Beziehung“ Platz 11 (!) und die „Klarheit der Lehrperson“ sogar Platz 8 (!) ein.
Die „Direkte Instruktion“ darf jedoch nicht mit dem Lehrermonolog des häufig kritisierten herkömmlichen „Frontalunterrichts“ verwechselt werden. Hattie versteht darunter vielmehr die leitende und steuernde Rolle eines guten Lehrers, der über ein breites Repertoire von Unterrichtsstilen und Methoden verfügt, die er je nach Klasse einsetzt, ausprobiert, überprüft und wieder verwirft, wenn sie nicht zur Klasse passen.
Dazu gehört auch eine stringente Klassenführung. „Ein guter Lehrer darf keine Zeit mit unwichtigen Dingen verschwenden, und er muss rasch erkennen, wann er auf eine Störung mit Strenge und wann er mit Humor reagiert. Noch höher auf der Hattie-Skala rangiert die 'teacher clarity', dass Schüler also verstehen, was der Lehrer von ihnen will. Beide Erfolgsbedingungen für einen gelungenen Unterricht werden stark unterschätzt.“53
Schließlich kommt Hattie nach Auswertung vieler Untersuchungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Lehrern und Schülern zu folgendem Ergebnis: „Die Wirkfähigkeit der positiven Lehrer-Schüler-Beziehung ist entscheidend dafür, dass Lernen stattfinden kann. Zu dieser Beziehung gehört, dass den Lernenden gezeigt wird, dass den Lehrpersonen ihr Lernen als Schülerinnen bzw. Schüler wichtig ist ... Dann werden die Kräfte zur Entwicklung eines wärmeren sozio-emotionalen Klimas im Klassenzimmer, das fördernde Bemühen und damit das Engagement für alle Lernenden aktiviert.“54
Damit soll aber nun der kühle Blick des Statistikers Hattie auch wieder verlassen werden. Immerhin kann er dazu beitragen, dass in der gegenwärtigen Bildungsdebatte die „Kirche im Dorf“, das heißt der Lehrer im Klassenzimmer gelassen und die Struktur- und Methodenreformen wieder dahin gestellt werden, wo sie hingehören: an die Peripherie des Unterrichts. Die Hattie-Studie, die nur die Einflussfaktoren auf die reine Wissensvermittlung untersucht hat, macht bereits klar, dass das Entscheidende im Unterricht über die Beziehung zwischen dem Lehrer und seinen Schülern geschieht.
Noch wichtiger ist diese Beziehungsebene jedoch, wenn es um die Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler, um ihre Charakterbildung und Werteerziehung geht – gerade und vor allem in der Pubertät. Dazu sagt die Hattie-Studie nichts explizit. Vor dem Hintergrund dieser Aufgabe darf die Klassenstärke nicht zu groß sein, die bezüglich der reinen Wissensvermittlung nach Hattie noch keine so wichtige Rolle spielt. Damit beide Ziele – Wissensvermittlung und Begleitung bei der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen – erreicht werden können, wird eine starke und gefestigte Lehrerpersönlichkeit vorausgesetzt. Dass sich diese aber auch erst selbst entwickeln und dann immer weiter entfalten und im Alltag des Klassenzimmers bewähren muss, soll im folgenden Kapitel am Beispiel des eigenen Werdegangs als Pädagoge exemplarisch aufgezeigt werden.
(5) Zusammenfassung
1.
Der österreichische Kulturkritiker Konrad Paul Liessmann übt beißende Kritik an der gegenwärtigen Bildungspolitik. Seiner Ansicht nach werde Bildung heute nur noch an wirtschaftlicher Effizienz ausgerichtet, sie hat keinen Wert mehr in sich.
2.
Liessmann kritisiert zudem, dass Schulbildung heute nur noch durch die Brille des Kompetenzbegriffs gesehen wird – eine fatale Entwicklung, die sich spätestens an der Universität bitter rächt. Denn nach wie vor ist fachliches Wissen selbst gefragt, nicht nur die bloße Fähigkeit, es sich anzueignen.
3.
Herr Liessmann bemängelt, dass Schulen von staatlichen Behörden immer mehr zu bildungspolitischen Experimenten auf dem Rücken von Lehrern und Schülern missbraucht werden. Außerdem glauben heute viel zu viele tatsächliche oder nur selbsternannte Experten von außerhalb, in der Schulpolitik mitreden zu können.
4.
Schüler sind in erster Linie Menschen, nicht Lernmaschinen. Darum dürfen sie niemals zu bloßen Nutzobjekten der Bildungspolitik gemacht werden. Die Fachlehrpläne sollten daher nicht nur auf Kompetenzen und auf wirtschaftlichen Nutzen ausgerichtet sein. Schulen sollten auch in Zukunft Orte der Bildung sein, an denen die Schönheit des Wissens eine Rolle spielt.
5.
Der Pisa-Schock von 2001 hat von Seiten der Bundesländer und ihrer Schulbehörden eine umfangreiche Reformtätigkeit ausgelöst – in der Schulstruktur und in den Unterrichtsmethoden. Wesentlich verstärkt wird diese Entwicklung durch die zunehmende Digitalisierung, die auch vor den Schulen nicht Halt machen darf.
6.
Es ist jedoch ein fundamentaler Fehler, wenn im ganzen Reformgetöse in der Bildungspolitik übersehen wird, dass sich die Schüler in einer beständigen Entwicklung ihrer Persönlichkeit befinden. An ihnen und an ihren Bedürfnissen muss jede Reform ausgerichtet sein.
7.