Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink

Das grüne Gesicht - Gustav Meyrink


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Hooigracht Nr. 47

       und verließ, noch immer ein wenig betäubt, den Vexiersalon.

      Zweites Kapitel

      Seit Monaten war Holland überschwemmt von Fremden aller Nationen, die, kaum daß der Krieg beendet war und

       beständig wachsenden inneren politischen Kämpfen den Schauplatz abgetreten hatte, ihre alte Heimat verließen und

       teils dauernd Zuflucht in den niederländischen Städten suchten, teils sie als vorübergehenden Aufenthalt wählten, um

       von dort aus einen klaren Überblick zu gewinnen, auf welchem Fleck Erde sie künftighin ihren Wohnsitz aufschlagen

       könnten.

       Die billige Prophezeiung, das Ende des europäischen Krieges werde einen Auswandererstrom der ärmeren

       Bevölkerungsschichten aus den am härtesten mitgenommenen Gegenden zur Folge haben, hatte gründlich geirrt, und

       reichten auch die verfügbaren Schiffe, die nach Brasilien und andern als fruchtbar geltenden Erdteilen fuhren, nicht hin,

       die vielen Zwischendeckspassagiere zu befördern, so stand doch der Abfluß der auf ihrer Hände Arbeit Angewiesenen

       in keinem Verhältnis zur Zahl derer, die entweder wohlhabend waren und überdrüssig, sich ihre Einkünfte durch den

       immer unerträglicher werdenden Druck der heimischen Steuerschrauben zusammenpressen zu lassen – also der

       sogenannten Unidealen – oder zur Zahl derer, die bisher in intellektuellen Berufen tätig gewesen, keine Möglichkeit

       mehr vor sich sahen, mit ihrem Verdienst den unerhört kostspielig gewordenen Kampf um das auch nur nackte Leben

       weiterzuführen.

       Hatte schon in den verflossenen Zeiten der Friedensgreuel das Einkommen eines Schornsteinfegermeisters oder

       Schweinemetzgers das Gehalt eines Universitätsprofessors weit überstiegen, so war doch jetzt die europäische

       Menschheit bereits auf dem Glanzpunkt angelangt, wo der alte Fluch "im Schweiße deines Angesichts sollst du dein

       Brot essen" buchstäblich und nicht nur im übertragenen Sinne aufgefaßt werden mußte; – die "innerlich" Schwitzenden

       sahen sich dem Elend preisgegeben und gingen aus Mangel an Stoffwechsel zugrunde.

       Der Muskel des Armes griff nach dem Szepter der Herrschaft, die Ausscheidungen der menschlichen Denkdrüse

       sanken täglich tiefer im Kurs, und saß Gott Mammon auch noch auf dem Throne, so war seine Fratze doch recht

       unsicher geworden: – die Menge schmutziger Papierfetzen, die sich um ihn herum angehäuft hatte, verdroß seinen

       Schönheitssinn.

       Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, bloß der Geist der Handlungsreisenden konnte

       nicht, wie früher, auf dem Wasser schweben.

       So war es gekommen, daß sich die große Masse der europäischen Intelligenz auf Wanderschaft befand und von den

       Hafenstädten der vom Kriege mehr oder weniger verschont gebliebenen Länder nach Westen spähte, ähnlich dem

       Däumling, der auf hohe Bäume kletterte, um nach einem Herdfeuer in der Ferne auszuschauen.

       In Amsterdam und Rotterdam waren die alten Hotels bis auf das letzte Zimmer besetzt, und täglich entstanden neue;

       ein Mischmasch von Sprachen schwirrte durch die besseren Straßen, und stündlich gingen Extrazüge nach dem Haag,

       gefüllt mit ab- und durchgebrannten Politikern und Politikerinnen aller Rassen, die beim Dauerfriedenskongreß ein

       immerwährendes Wort mit dreinreden wollten, wollten, wie man der endgültig entflohenen Kuh am sichersten die

       Stalltür verrammeln könnte.

       In den feineren Speisehäusern und Kakaostuben saß man Kopf an Kopf und studierte überseeische Zeitungen, – die

       binnenländischen schwelgten noch immer in den Krämpfen vorgeschriebener Begeisterung über die herrschenden

       Zustände, – aber auch in ihnen stand nichts, was nicht auf den alten Weisheitssatz herausgekommen wäre: "Ich weiß,

       daß ich nichts weiß, aber auch das weiß ich nicht sicher."

       * * *

       "Ist denn Baron Pfeill noch immer nicht hier? Ich warte jetzt schon eine volle Stunde", fuhr im Café "de vergulde

       Turk", einem dunkeln, winkligen und verräucherten Lokal, das versteckt und abseits vom Verkehr in der Cruysgade

       lag, eine ältere Dame mit spitzen Gesichtszügen, zerkniffenen Lippen und fahrigen, farblosen Augen, – der Typus der

       gewissen entmannten Frauen mit dem ewig nassen Haar, die mit dem fünfundvierzigsten Jahre ihren galligen Rattlern

       anfangen ähnlich zu sehen und mit dem fünfzigsten bereits selber die geplagte Menschheit ankläffen – wutentbrannt auf

       den Kellner los: "'pörend. Pe. Wahrhaftig kein Vergnügen, in der Spelunke zu sitzen und sich als Dame von lauter

       Kerlen anglotzen zu lassen."

       "Herr Baron Pfeill? – Wie soll er denn aussehen? Ich kenne ihn nicht, Myfrouw", fragte der Kellner kühl.

       "'türlich bartlos. Vierzig. Fünfundvierzig. Achtundvierzig. Weiß nicht. Hab' seinen Taufschein nicht gesehen. Groß.

       Schlank. Scharfe Nase. Strohhut. Braun."

       "Der sitzt doch schon lange da draußen, Myfrouw" – der Kellner deutete gelassen durch die offene Tür auf den

       kleinen, durch Efeugitter und berußte Oleanderstauden gebildeten Vorraum zwischen Straße und Kaffeehaus.

       – "Garnaale, Garnaale", dröhnte der Brummbaß eines Krabbenverkäufers an den Fenstern vorüber. "Banaantje,

       Banaantje", quietschte ein Weib dazwischen.

       "Pe. Der ist doch blond! Und kurzgeschnittenen Schnurrbart. Zylinder. Pe." – Die Dame wurde wütender.

       "Ich meine den Herrn neben ihm, Myfrouw; Sie können ihn von hier nicht sehen."

       Wie ein Jochgeier stürzte die Dame auf die beiden Herren los und überschüttete den Baron Pfeill, der mit betretener

       Miene aufstand und seinen Freund Fortunat Hauberrisser vorstellte, mit einem Hagel von Vorwürfen, daß sie ihn

       mindestens zwölfmal vergebens angeklingelt und schließlich in seiner Wohnung aufgesucht habe, ohne ihn anzutreffen,

       und das alles bloß, – "pe" – weil er natürlich wieder mal nicht zu Hause gewesen sei. "Zu einer Zeit, wo jeder Mensch

       beide Hände voll zu tun hat, um den Frieden zu befestigen, Präsident Taft die nötigen Ratschläge zu geben, den

       Heimatsflüchtigen zuzureden, wieder an ihre Arbeit zu gehen, die internationale Prostitution zu unterbinden, dem

       Mädchenhandel zu steuern, Gesinnungsschwachen das moralische Rückgrat zu stählen und – Sammlungen von

       Flaschenstanniol für die Invaliden aller Völker einzuleiten", schloß sie, empört ihre Pompadour aufreißend und mit einer

       seidenen Schnur wieder erdrosselnd, "ich dächte, da hat man zu Hause zu bleiben, statt – statt Schnaps zu trinken." –

       Sie schoß einen bösartigen Blick auf die beiden dünnen Glasröhren, die, gefüllt mit einem regenbogenfarbigen Gemisch

       aus Likören, auf der marmornen Tischplatte standen.

       "Frau Consul Germaine Rukstinat interessiert sich nämlich für – Wohltäterei", erläuterte Baron Pfeill seinem Freunde,

       den Doppelsinn seiner Worte hinter der Maske scheinbar ungeschickt


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