BeTwin. Martha Kindermann
Die Ermittler gehen davon aus, dass der Entführer gewarnt wurde, bevor die Einsatzkräfte am Tatort eintrafen und so diverse medizinische Geräte und andere wichtige Beweise in letzter Sekunde verschwinden lassen konnte. Der Verdächtige und sein Bruder streiten jedoch vehement alles ab und beharren auf ihre Unschuld. Die Polizei hat die beiden trotzdem in Gewahrsam genommen und hofft auf neue Hinweise aus der Nachbarschaft und so weiter.« Ich habe die beiden nie gesehen und kenne deren Lebensgeschichte nicht. Vielleicht wurden sie in ihrer Kindheit misshandelt. Vielleicht wollten sie ihre perversen Fantasien ausleben. Vielleicht sind sie auch nur zwei arme Schweine, die auf’s Übelste verarscht wurden.
»War der Typ Arzt oder so?«
»Wie?«
»Ob er eine medizininische Ausbildung hatte?« Warum fragt sie das. Ich muss Fenjas Frage mit einem Schulterzucken beantworten und zum hundertsten Mal in mein feuchtes Taschentuch schniefen. »Wenn er weiß, wie man einen jungen Kerl monatelang intravenös ernährt und einschläfert, ohne ihn zu töten, dann hat man vermutlich einen gewissen medizinischen Background, oder nicht?«
»Ja, vermutlich hast du recht.« Warum ist mir das nicht eingefallen? »Rafael meinte, der Typ sei LKW-Fahrer. Mehr wissen wir nicht.«
»Dein Checkerbruder ist ziemlich gut informiert für einen Underdog.«
»Zum Glück! Hätte Rafael nicht so gute Beziehungen zum Krankenhaus, dann wären meine Füße vermutlich nie über Tristans Türschwelle getreten. Eine Stunde, nachdem sie ihn in der Garage gefunden haben, rief Rafael mich bereits an. Die Nacht über hätten sie uns nicht zu ihm gelassen, also harrte ich mit dem Vorsatz aus, kein Auge zuzumachen.« Ein zaghaftes Lächeln huscht über mein Gesicht. »Hat keine fünf Minuten gedauert und ich bin in der Akademie aufgewacht.«
»Du hättest ja eh nichts tun können.« Fenja streicht mir beschwichtigend über die Hand.
»Leider! Nicht einmal Telemachos war da, um seinem Sohn die Hand zu halten. ›Geschäfte‹. Es hat einen ganzen Tag gedauert, bis er sich die Zeit nahm und mit Pfefferhauser und Moreno Tristans Situation besprach.« Dieser Typ ist einfach unglaublich.
»So ähnlich hat es Tam bereits erzählt.«
»Tam? Woher weiß der denn Bescheid?«
»Er war im Krankenhaus, als du schliefst, und traf sich anschließend mit seinem Vater, der eine Erklärung erwartete. Bis dato wusste er tatsächlich nichts von der Vertauschung der Brüder.«
»Die Geschichte würde ich ja zu gern hören. Wie hat Tam ›erklärt‹, dass sie vor seinen Augen die Plätze getauscht haben und der psychisch kranke Sohn über Wochen nicht in seinem Krankenhausbett lag? Schlimm genug, dass der Herr Mustervater es nicht einmal bemerkt hat.« Fenja schlägt mir eine Hand auf den Oberschenkel.
»Ha, wem sagst du das? Er hat Tam schreckliche Vorwürfe gemacht und all sein Fehlverhalten auf ihn abgewälzt. Er wirft ihm sogar vor, mitschuldig an der ganzen Entführungsgeschichte zu sein.« Meine Hand wandert auf Fenjas Hand und ich fahre mit hochgezogenen Augenbrauen und todernstem Blick fort.
»Er hat vermutlich nicht ganz Unrecht. Weißt du, warum Tristan nicht zum BePolartreffen gekommen ist?«
»Klar, Tam bekam einen Anruf, dass Tristan verhindert ist und die Stadt verlassen müsse. Tam wollte die Situation retten und hat seinen Platz eingenommen.«
»Und das glaubst du ihm?« Meine Muskeln verkrampfen sich und ich schütte den ganzen Smoothie auf einen Schluck hinunter, um mich abzulenken.
»Was willst du damit andeuten, Roya?« Fenja scheint ernsthaft besorgt.
»Er schob an jenem Abend einen Zettel für Tristan unter unseren Abstreicher. In meinem Namen!« Ich muss mich kurz sammeln, um nicht in Tränen zu zerfließen. »Telemachos wäre ihnen auf die Schliche gekommen und wollte Tristan erneut einsperren. Wie er schlussendlich in der Garage gelandet ist, weiß keiner. Vielleicht brauchte er nur einen Unterschlupf und ist diesem kranken Mistkerl in die Hände gefallen.«
»Ja, vielleicht.« Ihre Stimme klingt nachdenklich. Ich lasse ihr Raum zum Grübeln und sinke ohne einen einzigen Gedanken im Kopf in die bequemen Kissen der Sofalandschaft. »Wie, sagtest du, hast du den Unterschied zwischen den beiden bemerkt?«
»Ich sagte gar nichts. Er ist ein Meister der Tarnung, genau wie sein Ebenbild.« Die Szene im Bürgerhaus läuft im Zeitraffer vor meinen Augen ab: sein fordernder Blick, die Kraft, mit der er mich gegen die Wand drückte, das fehlende Sichelmahl auf dem Schlüsselbein und all die Lügen.
Ich springe auf und halte Fenja eine helfende Hand entgegen. Zögerlich greift sie zu und lässt sich von mir in die Senkrechte ziehen.
»Was hast du?« Meine Freundin blickt nachdenklich auf die Holzplatte des Stubentisches.
»Ein ungutes Gefühl habe ich. Wir übersehen etwas und das lässt mich nicht los. Ist es wirklich ausschließlich ein Machtspiel der Brüder um deine Gunst, oder bist du nur Mittel zum Zweck? Schließlich sollte euch die geheuchelte Romanze dabei helfen, die Warte als Sieger zu verlassen.« Ich hoffe inständig, dass sie diese Worte nicht ernst meint und schüttle schweigend den Kopf. Tam traue ich seit dieser Nacht keinen Meter über den Weg, obwohl sich die anfängliche Wut in pures Desinteresse zu verwandeln beginnt. Soll er doch machen, was er will. So lange er Tristan und mich in Ruhe lässt, wird mich seine Anwesenheit in der Warte nicht tangieren. Ach, was rede ich da? Fenja hat mich mit ihren Zukunftsmelodien schon total eingelullt. Mein Name ist im Fernsehen aufgetaucht und Schluss. Keine Garantie für die nächste und entscheidende Runde.
Schweigend nehmen wir den Bus zurück und starren aus unterschiedlichen Fenstern auf die langsam ergrünende Umgebung. Es ist Frühling und allmählich zieht Leben in unser kleines Städtchen ein. Die Vögel singen ihre Liebeslieder, die Bäume zeigen das hellgrüne Blätterkleid und immer mehr Menschen gehen pfeifend durchs Leben. Alles erwacht, alles außer Tristan.
»Roya, kommst du kurz?« Moreno steckt seinen Kopf zur Tür hinein und augenblicklich nehme ich Haltung an. Er steht immer noch an zweiter Stelle auf meiner Traue-Niemandem-Liste und hat mir bisher noch keinen Anlass gegeben, ihn davon zu streichen. Der Tod meiner Schwester ist den Behörden weiterhin ein Rätsel und rechtfertigt mein stetes Misstrauen ihrem angeblichen Freund und Vater des ungeborenen Lebens, gegenüber.
»Äh, ja, Moment.« Schon wieder breche ich mein Versprechen, nicht von Tristans Seite zu weichen, und verlasse mit schlechtem Gewissen und hängenden Schulter das Zimmer.
Wir nehmen die Treppe ins Untergeschoss, durchqueren einen schwach beleuchteten Kellergang und den Heizungsraum, um ein weiteres BePolargeheimnis zu lüften. Hier unten haben sich die Mediziner und Techniker der Gruppe ein beschauliches Fleckchen geschaffen. Akten, Rechner, mehrere Pritchen mit Überwachungsmonitoren und eine winzige Kochnische mit Kaffeemaschine und Miniofen.
»Ist es das, wonach es aussieht?«, frage ich wenig überrascht und erhalte das erwartete Kopfnicken.
»Setz dich doch.« Er weist mir den drehbaren Stuhl eines chaotischen Schreibtisches zu und nimmt gegenüber Platz: »Hast du eine Ahnung, warum ich dich heute sprechen möchte?« Na ja, es wird wohl etwas mit den bevorstehenden Testergebnissen zu tun haben, nehme ich an.
»Nein«, lüge ich kurz und knapp.
»Wir setzen große Hoffnung in dich, Roya, und sind derzeit ein wenig besorgt, was dein Pflichtbewusstsein angeht, Tristan…«
»Darf ich Sie bitte gleich unterbrechen?« Wieder nickt er. »Mein Freund wurde über Monate vermisst und neben Rafael hat keiner etwas unternommen, um diesen Umstand zu ändern.«
»Roya, niemand außer Rhea wusste von der Vertauschung. Was sollten wir…« Ich stoße mich mit den Füßen ab und rolle einige Meter nach hinten. Nur weit weg von ihm.
»Wie konnte sie es bemerken, wo andere blind waren?«
»Wir sind sämtliche Aufzeichnungen deiner Schwester durchgegangen und auf ein Notizbuch gestoßen, in welchem sie Tams Verhalten während der Zephaloisierung beobachtet