BeTwin. Martha Kindermann

BeTwin - Martha Kindermann


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Ich habe eine Aufgabe zu erledigen, ich bin noch viel zu jung, um mich von der Erde zu verabschieden, und vor allem gibt es Menschen da draußen, die mich brauchen. Ich habe noch so viele Fragen und zu wenige Antworten. Nein, ich will nicht gehen!

      Ich schließe die Augen und lasse meine Situation in Gedanken immer und immer wieder ablaufen. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen und habe in Panik wertvollen Sauerstoff verschwendet?

      Das Loch, schießt es mir in den Kopf. Das hereinfallende Licht ist der Beweis dafür, dass ich nicht unter der Erde, sondern lediglich in einem weiteren Raum gefangen bin. Meine Hände suchen in den Hosentaschen nach etwas Brauchbarem, um das Löchlein in einen Notausgang zu verwandeln. Nichts. Meine Brille taucht in der Akademie nicht auf und – die Haare. Nachts trage ich doch diesen seltsamen Dutt auf dem Kopf. Da müsste es doch – Yes! Zwei unscheinbare Haarnadeln kommen zum Vorschein. Ich benutze die Zähne, um das hilfreiche Metall von der schützenden Plastikschicht zu befreien, und starte meinen Rettungsversuch.

      Eine Nadel sticht ins Holz, die andere hebelt das betreffende Stück ab.

      Eine Nadel sticht ins Holz, die andere hebelt das betreffende Stück ab.

      Eine Nadel sticht ins Holz, die andere hebelt das betreffende Stück ab…

      Eine Unendlichkeit später passt eine Hand durch die Öffnung, irgendwann sind es zwei, irgendwann schiebe ich die Ellenbogen hinterher und schaffe es, von einem wütenden Kraftschrei begleitet, den Sargdeckel zu sprengen.

      Reglos bleibe ich liegen. Das künstliche Licht blendet und mein Puls rast immer noch mit bedrohlicher Geschwindigkeit. Langsam, ganz langsam stemme ich die Arme gegen die Seitenwände der Kiste und erhebe mich. Erst jetzt bemerke ich den schmerzenden Rücken und meine zerkratzen Finger und Unterarme. Der Adrenalinspiegel hielt diese Schmerzen zurück und gab mir die nötige Kraft, mich aus dem Gefängnis zu befreien.

      »He, Roya.« Eine mir vertraute Stimme erklingt blechern in unmittelbarer Nähe und lässt mich herumfahren. Ich steige aus der Kiste und sehe mich mit offenem Mund um. Zu meiner Rechten steht Tam hinter einer Plexiglasscheibe und betätigt einen schwarzen Knopf, um mit mir in Kontakt treten zu können. Mit fragenden Augen und trockener Kehle bemerke ich die anderen Kabinen aus Plexiglas, die sich zu beiden Seiten erstrecken.

      »Wir sind bisher die Einzigen«, sagt er. »In Kiste Nummer Fünf regt sich etwas und die Sieben hämmert immer wieder gegen den Deckel. Alle anderen sind still.«

      Das hier ist ein Scherz, oder? Die große Halle und die damit verbundene Freiheit scheinen zum Greifen nahe und doch sind sämtliche Schläfer wie Gefahrengut oder steinalte Reliquien in doppelwandigen Kokons eingesargt.

      »Du warst schnell«, vernehme ich aus der Nachbarkabine.

      »Du warst schneller«, entgegne ich und starre weiterhin ahnungslos um mich. Ich kann meine – unsere Situation noch nicht fassen. Der Schock sitzt zu tief in meinen Knochen, obwohl ich nun weiß, dass wieder einmal alles nur ein Spiel war. Wenigstens bin ich nicht allein in meiner Verzweiflung, auch wenn ich mir selbstverständlich einen anderen Schläfer zur Unterhaltung gewünscht hätte. Tam deutet auf einen identischen schwarzen Knopf auf meiner Seite der Zelle. Er hat mich nicht verstanden.

      »Du warst schneller«, wiederhole ich mit gedrückter Sprechanlage und neige misstrauisch den Kopf.

      »Ich habe spitze Knie, die wohl bis an mein Lebensende eine dunkelblaue Färbung behalten werden.«

      »Haarnadeln«, sage ich und zeige ihm meine verbogenen Lebensretter. »Was machen wir jetzt?« Tam zuckt die Achseln.

      »Abwarten, bis sie die Show abbrechen und uns hier rauslassen. Spätestens morgen früh ist eh alles vorbei, also entspann dich.« Der ist gut. Unsere Freunde und Mitstreiten bangen weiterhin um ihr Leben und ich soll entspannt dabei zusehen?

      »Wie geht es Tristan?« Toll, er will mich ablenken. Ich lasse mich wortlos zu Boden sinken und zeige Tam die kalte Schulter des Desinteresses. Er nutzt die Gunst der Stunde, um mich in ein weiteres sinnloses Gespräch zu verwickeln, nachdem ich, verwirrter als zuvor, doch wieder schwach geworden bin. Jetzt nicht, denke ich. Die nächsten fünf Minuten bleibt es still auf der anderen Seite.

      Irgendwann beginnt die Verzweiflung und Hilflosigkeit immer mehr an mir zu nagen. Ich drehe mich um und setze unsere Konversation fort.

      »Können wir ihnen nicht irgendwie helfen?« Tam zieht lachend die Augenbrauen nach oben und legt eine Hand an die Scheibe.

      »Wie denn, willst du mit deiner Haarnadel so lange kratzen, bis du jeden Käfig durchbohrt hast?« Er lacht, doch ich hoffe, dass ein letzter Funken Anstand in ihm schlummert und er diese Nummer zum reinen Selbstschutz abzieht.

      Reglos bleibt er stehen und beobachtet mich. Ein Schauer gleitet über meine Haut und ich stehe wütend auf. Mit voller Kraft schlage ich gegen Tams Hand hinter der schützenden Wand, doch dieser rührt sich keinen Zentimeter.

      »Gut so, lass deine Wut raus. Möglicherweise kannst du dann immerhin diese Kabine zerstören.« Das Lachen ist aus seinem Gesicht gewichen und hat Platz für einen anderen bekannten Ausdruck gemacht. Sehnsucht und Traurigkeit liegen in den blauen Augen, als er mich in seinem Fokus gefangen nimmt.

      Die Minuten fliegen dahin und keiner bringt die Kraft auf, dem anderen Blick zu entkommen. Der Kloß in meinem Hals und die heiße Luft, welche meine Nasenlöcher stark aufbläht, haben die Oberhand über meine Emotionen, doch irgendwo darunter schlummert ein ganz anderes Gefühl. Ich möchte auf Zurückspulen drücken und mich in die Zeit unserer ersten Begegnung beamen. So viel hat sich seit diesem Tag im Park verändert. Ich habe mich verändert. Wir haben uns verändert. Unsere Beziehung ist nicht zu definieren. Das Liebespaar kann ich klar ausschließen. Freundschaft sollte auf Vertrauen basieren, welches ich derzeit nicht aufbringen kann. Hass ist zu hoch gegriffen, wenn ich mich in Momenten wie diesen in seinen Augen verliere und ihm völlig willenlos ausgeliefert bin. Was wird das hier?

      »Lass los.« Tam hält den Schalter der Sprechanlage nicht gedrückt und trotzdem kann ich seine Worte klar und deutlich verstehen. Loslassen. Ich ihn? Mein Vorhaben, den anderen zu helfen? Tristan, der wahrscheinlich nie wieder der Alte sein wird?

      »Roya, ich bin es, Tam. Du kannst mich anschreien, du darfst die Scheibe einschlagen, um danach wütend gegen meine Brust zu schlagen, aber lass los. Es geht hier nicht um die anderen. Du bist von einer Tragödie in die nächste gerutscht und hast dir keine Zeit zum Luftholen gelassen. Deine Schwester ist tot. Wann hast du wirklich und wahrhaftig trauern dürfen, ohne abgelenkt zu werden? Tarik war dein bester Freund und nach seinem Unfall hast du dich ausschließlich um Fenja gekümmert. Tristan schwebt irgendwo zwischen Leben und Tod und für dich gibt es nichts als Krankenhauszimmer und Kantinenfraß. In wenigen Wochen steht dir die wohl größte Herausforderung deines Lebens bevor. Bis dahin solltest du Ordnung in deinen hübschen Kopf voller Traurigkeit und Verzweiflung gebracht haben.« Seine Stimme klingt dumpf, aber sehr greifbar. »Diese Warterei kann auch etwas Gutes haben. Sieh mich als deinen Rammbock an. Ich bin dafür qualifiziert, glaub mir. Ich leih dir mein Ohr und du siehst mich nicht mehr so an, als zerbrächest du jeden Moment in tausende, glänzende Glassplitter. Danach vergessen wir dieses Gespräch und ich werde nie wieder einen Ton darüber verlieren.« Er spricht schnell und ich brauche einen Augenblick, um seine Worte sacken zu lassen. Tam ist der letzte Mensch, dem ich meine Sorgen und Ängste anvertrauen will und doch überwiegt das Gefühl, ihm mein ganzes Herz zu offenbaren und kein Detail auszulassen. Er ist ein wichtiger Teil meiner Verwirrtheit und sollte solch intime Details nicht hören müssen. Was also tue ich?

      »Ich werde mich jetzt auf den Boden setzen, also fall nicht um, sobald ich meine Hand löse.« Er lächelt verspielt und nähert sich in Zeitlupe dem kühlen Boden. Mit einer Sache hatte er recht – ich beginne zu schwanken, als er sich entfernt, obwohl unsere Hände nur eine scheinbare Verbindung aufgebaut haben. Langsam gleite auch ich nach unten und lehne mich, ihm zugewandt, an die uns trennende Front.

      Und doch sitzt er hier

      Die Welt um mich herum beginnt sich zu


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