BeTwin. Martha Kindermann
mich tausendfach, um danach in den Sofakissen zu verschwinden. Was sollte das denn gerade? Tam lässt mich nicht aus den Augen und versucht in meinen Gedanken zu lesen. Ein verständnisvoller Blick folgt und die Schamesröte in unserer beider Gesichter zieht sich langsam zurück. Das ist so verdammt peinlich. Hassen will ich ihn und ich gebe mir alle Mühe, diesen Vorsatz einzuhalten, aber für den Bruchteil einer Sekunde sah ich seinen Zwilling neben mir sitzen und mein freudiges Hirn setzte aus. Sly ist ein gemeinsamer Freund, doch meine Loyalität Tristan gegenüber sollte über all dem stehen. Ich schäme mich. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, wäre es eine Zeitmaschine, mit der ich diese Blamage rückgängig machen und mein Gewissen erleichtern könnte.
Auch wenn Julius und seine Kollegen einen Jugendlichen nach dem anderen interviewen und jeder einzelne von ihnen Starpotential mitzubringen scheint, zieht die Show wie im Nebel an mir vorbei. Ich spüre heiße Tränen auf meiner Wange und lasse sie meinen Hals hinunterlaufen, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Selbst wenn ich das Ticket in die nächste Runde ergattern sollte, ist alles sinnlos, solange Tristan irgendwo da draußen ist und ich keine Gewissheit habe, dass es ihm gut geht. Ich kann nicht noch einen geliebten Menschen verlieren, auf Elvis Sofa sitzen und seinen Bruder umarmen. Mein weißes Shirt wird an einigen Stellen bereits durchsichtig, als Fenja plötzlich aufschreit.
»Roya, Roya, guck, guck!« Sie dreht sich zu mir und erstarrt. »Süße, was hast du denn?« Ich kann nicht reagieren. Auf der Mattscheibe prangt mein Bild, Tam und Elvis klatschen sich mit großem Stolz ab, Fenja würde mich womöglich am liebsten abknutschen und ich zerfließe vor Sehnsucht, Angst, Liebeskummer und Selbsthass.
»Feiert noch ein wenig ohne mich, ich bin gerade zu überwältigt.« Nicht von meinem Erfolg, nicht von all dem Ruhm, der nun auf mich wartet, sondern von der Ungeheuerlichkeit meines Tuns – Ich bin eine schreckliche Person.
»Na klar bist du das.« Gut, dass Fenja keine Gedanken lesen kann. »Es ist wundervoll, dich in XXL auf der Leinwand zu sehen. Daran können wir uns schon mal gewöhnen. Geh heim zu deinen Eltern. Die werden wahrscheinlich im Kreis hüpfen.« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn und lässt mich ziehen.
Nachdem ich meine tatsächlich hüpfenden Eltern beruhigt habe und mich auf den Weg ins Bett mache, klingelt das Handy in meiner Tasche. Ich bleibe auf halber Treppe stehen, um den Anruf mit unterdrückter Nummer entgegenzunehmen und lasse mich vor Rheas Zimmer auf den Boden fallen. Die Wasserfälle fließen aus meinen ohnehin schon verquollenen Augen und wissen nicht, wer ihnen den Anlass dazu liefert. Sorge? Freude? Angst? Morgen früh weiß ich mehr – adieu erholsamer Schlaf!
Tag 243
Ich bin hier und auch wieder nicht hier. Ich träume und bin trotzdem hellwach. Ich liege nicht in meinem Bett und doch schlafe ich. Mein Kopf sollte sich auf die nächste Stunde vorbereiten, mein Herz will den Zepho lösen und ins Krankenhaus rennen.
Ferngesteuert trete ich den Weg ins Atelier an. Auf dem Ascenseur sind sämtliche Mitschüler versammelt und warten auf mein Erscheinen.
»Haben wir heute gar keinen Fachunterricht, Ebba?« Ich war davon ausgegangen, dass ich wie nahezu jede Nacht vor meinem virtuellen Lernprogramm lande und das Gesundheitswesen studiere.
»Nö, Ceyda hat uns abgefangen und für einen außerplanmäßigen Notfall ins Atelier gerufen.« Na wenigstens bleibt der Ort eine Konstante.
»Toll, dass es so viele von uns ins Abendprogramm geschafft haben, oder?«
»Wie bitte, nochmal?« Ich habe nur Rauschen vernommen.
»Na ja, da ist Sly, Kuno selbstredend, Fräulein Roya und – ich kann es immer noch gar nicht fassen…« Ebba vollführt einen Siegestanz. »Und ich! Yeah! Klatsch ein!« Sie hält mir ihre Hand auf Augenhöhe, ich schlage dagegen und verziehe den Mund zu einem künstlichen Lachen. Ja, ganz toll für dich. Wäre das gestrige Telefonat nicht gewesen, könnte ich mit den anderen ausgelassen feiern, doch meine Gedanken entgleiten und lassen keinen Platz für Partystimmung.
»Du hättest Taranee sehen sollen, als du den Ascenseur betreten hast. Laserstrahlen kamen aus ihren Augen, da bin ich ganz sicher. Es muss ein unbekanntes Gefühl für sie sein, einmal nicht im Mittelpunkt zu stehen.«
»Mmh.« Gebe ich kopfnickend zu und richte den Blick auf das herannahende Brückengeländer. Als wir stoppen, spüre ich eine Hand auf meiner rechten Schulter und bleibe stehen.
»Lass mich bitte, Tam.« Es ist nicht Wut, die da aus mir spricht, sondern Erschöpfung und Traurigkeit.
»Ich habe eine Botschaft von Fenja und Elvis.«
»Ach ja?« Er schließt mich in seine Arme. Vor der ganzen Klasse umarmt er mich und macht keine Anstalten, diese Umarmung auch wieder zu lösen.
»Danke, ich hab’s verstanden.« Ein wenig schmunzeln muss ich schon. Ich sehe meine Freundin vor mir, wie sie Tam diesen Auftrag erteilt mit dem Wissen, dass er ihn mit großer Ernsthaftigkeit in die Tat umsetzen wird und zudem einen eigenen Nutzen daraus zieht. Die Kupplerrolle kann sie einfach nicht abschütteln.
»Sonst alles soweit okay bei dir?« Es ist wirklich nett, dass er fragt, aber auf eine erzwungene Unterhaltung hab ich gerade überhaupt keinen Bock.
»Ja, alles bestens. Wir sehen uns dann.« Ich presche mit schnellen Schritten voran, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern. Sein Mitleid in allen Ehren, aber ich möchte und ich brauche es nicht.
Als Ebba, Taranee, Lana, Kuno, Berd, Sly, Tam und ich Platz genommen haben, fördert der Dozentenascenseur Herrn Lehmann zu Tage und versetzt uns Acht in Staunen. Notfall – Lehmann – das kann nur eines bedeuten: neue Erkenntnisse im Fall CARIS.
»Herr Lehmann, haben Sie sie gefunden?« Das gerade der zurückhaltende Sly die Neugierde schwer bremsen kann, überrascht mich kein bisschen. Nachdem er seinen Irrtum – Caris Entführung sei nur ein Fake, um uns eine Lektion zu erteilen – eingesehen hatte, überkamen ihn die Schuldgefühle. Neben der Schule und seinen Verpflichtungen der Akademie gegenüber machte er es sich zu seinem persönlichen Anliegen Caris zu finden.
»Da liegen Sie ganz richtig, Sly.« Ein Schwall der Erleichterung huscht durch das Atelier und geht auch an mir nicht spurlos vorüber. Es gibt Hoffnung – nach monatelanger Ungewissheit, ob sie nach der Entführung durch die Regierung überhaupt noch unter den Lebenden weilt.
»Gestern wurde sie in Begleitung einer Frau mittleren Alters in Midden gesichtet. Die beiden betraten das Geschäft eines Innenausstatters und kamen vierzig Minuten später schwer beladen wieder hinaus. Danach fuhren sie in Richtung des Regierungsareals. Hier verliert sich die Spur. Leider ist es unserer IT-Abteilung bisher noch nicht gelungen, in die Überwachungsanlage einzudringen und somit die Kameras im Inneren der Gebäude anzuzapfen. Wir gehen davon aus, dass es ihrer Mitschülerin gut geht und haben die Eltern des Mädchens über ihren vermeintlichen Aufenthaltsort informiert. Frau Jünger wird sich natürlich zurückhalten müssen, was die Belange ihrer Tochter Caris anbetrifft, jedoch…« Wie bitte? Nein, was?
»Moment, haben Sie Tochter gesagt?« Sly spricht aus, was uns allen durch den Kopf schießt. Centa Jünger soll Caris Mutter sein und wusste nicht, dass die eigenen Leute diese entführt und vor ihren Augen versteckt haben?
»Wieder richtig. Womöglich sollten wir Ihnen die genauen Details vorenthalten, jedoch definiere ich es als einen Vertrauensvorschuss und hoffe, dass Sie dieses Vertrauen nicht missbrauchen werden.« Um ein wenig Ruhe in die Klasse zu bringen, setzt er sich locker auf das Lehrerpult und legt die Hände entspannt in den Schoß, bevor er fortfährt. »Centa Jünger brachte im zarten Alter von sechszehn Jahren ein blondgelocktes Mädchen zur Welt. Um ihre Bestimmung zu erfüllen, ließ sie das Kind bei dessen Vater aufwachsen und brach jeglichen Kontakt ab. Sie selbst schleuste Caris ins Schläferprogramm, um ihr während der Zeit der Initiation nahe zu sein und die verlorene Zeit aufzuholen. Vor einigen Wochen arrangierten wir mit Cornelius Engels Hilfe ein geheimes Treffen zwischen Centa und ihrer Tochter, um die Wahrheit zu beichten und ihre Identität preiszugeben. Die Aktion wurde verhindert und Caris daraufhin entführt. Die Behörden wollten Cornelius Informationen