BeTwin. Martha Kindermann
Tag 242
»Liebe Schüler, heute habt ihr hoffentlich eine weitere wichtige Stufe auf der Leiter des Lebens erklommen und wusstet die mannigfachen Fähigkeiten, welche die Akademie euch angeeignet hat, einzusetzen. Ich bin sicher…« Ja, ja, sicher ist nur der Tod, aber quatsch ruhig weiter, du eingebildeter Gockel. Die Art, wie Moreno selbstgefällig auf der Bühne der Akademieaula auf und ab stolziert, geht mir mächtig auf den Zeiger. Er tut gerade so, als seien unsere Fortschritte ganz allein sein Verdienst und wir sollten ihm die Designerschuhe küssen, um unsere tiefe Dankbarkeit ausdrücken zu können. Lackaffe! Ich hasse ihn mehr als irgend jemanden sonst auf dieser Welt. Er ist nicht nur mein Dozent, der Unfehlbarkeit von seinem hohen Roß herunterpredigt, sondern hat meine Schwester verführt, in düstere Machenschaften hineingezogen, sie geschwängert und nicht verhindert, dass sie in dieser Nacht am Bahnhof einsam und allein stirbt. Es ist so verdammt ungerecht. Ich habe keine Beweise für seine Mitschuld und vermutlich gibt es auch keine, aber die Tatsache, dass er Frau und Kind allein in ein Auto steigen ließ, werde ich ihm nie verzeihen. Der ach-so-beschäftigte Doktor der Neurowissenschaften – ha, Pustekuchen. Nacht für Nacht ertrage ich seine Visage, weil ich es besser weiß. Zieh dich warm an ›Entin‹, denn ich werde dich früher oder später mit deinen eigenen Waffen zu Fall bringen.
»Fräulein Navrotilova und ihr Team haben den Nachmittag damit verbracht, eure Interviews auszuwerten und sind nun bereit für eine kurze Präsentation. Ich übergebe das Wort.« Oh verdammt! Mir war es gerade gelungen, meinen ersten Kameraauftritt nicht mehr pausenlos im Kopf abzuspulen, um die Patzer wieder und wieder zu durchleben. Mein Groll gegen Valentin Moreno fühlt sich um einiges angenehmer an als dieses beklemmende Gefühle einer sich nahenden Panikattacke. Gut, ›angenehm‹ ist vielleicht das falsche Wort, schließlich kommt mir beim bloßen Gedanken an dieses Schwein die Galle hoch, aber ich bewege mich auf bekanntem Terrain und muss nicht im Trüben fischen. Wie wird es sein, das eigene Gesicht vor der ganzen Schläferklasse zu entblößen? Werden sie lachen? Mich vorschnell in eine Schublade schieben? Keine Ahnung. Warum müssen wir diese Interviews überhaupt im großen Auditorium durchgehen? Ein Einzelgespräch hinter verschlossenen Türen wäre doch sicher produktiver, oder nicht?
»Meine Damen, meine Herren, zuerst möchte ich ein zaghaftes Lob anbringen.« Okay? Das kam jetzt unerwartet. Unsere vielgeschätzte Dozentin für Stilsicherheit, die Königin der Etikette und die wohl bestgekleidete Frau Polars, schenkt uns ein stolzes Lächeln. Monatelang hatte sie uns über den Lauftsteg gejagt, die Haltung korrigiert, uns klar gemacht, wie tiefbegabt wir sind und uns gedemütigt. Wir alle wussten, dass sie aus einem Haufen hässlicher Entlein Schwäne machen wollte und wir haben ihr diese Aufgabe nie leicht gemacht.
Sie klatscht ein paar Mal verhalten und sehr grazil in die Hände, bevor sie den weißen Lederminirock glatt streicht und ihre Rede fortsetzt.
»Als sie im letzten Sommer zum allerersten Mal in meinem Unterricht saßen, sah ich dieses Projekt mit jedem ihrer peinlichen Auftritte mehr und mehr scheitern. Zu aufgesetzt, zu trampelig, zu arrogant, zu gelangweilt – eine endlose Liste an Fauxpas, auf denen ich allwöchentlich herumreiten musste, um sie in die richtige Bahn zu lenken. Heute sehe ich acht junge Leute vor mir, die auf unterschiedliche Weise genau richtig sitzen auf ihrem Stuhl.« Ihre ernstgemeint rührige Rede geht auch an mir nicht spurlos vorbei und als ich meinen Blick über die Köpfe der Mitschüler kreisen lasse, sehe ich in viele glasige Augen und grinsende Gesichter.
»Taranee – so selbstsicher und ehrgeizig. Ebba – so gerecht und hartnäckig. Lana – liebevoll und kreativ. Roya – stark und selbstlos. Sehen Sie sich nur an – zu mir brachte man schüchterne Mädchen und verzogene Gören, heute sind Sie alle mehr Frau als so manch eine in wichtigen Ämtern.« Erneut applaudiert sie und treibt uns die Röte ins Gesicht. Sogar die Jungs klatschen Beifall. In wenigen Wochen werden sich unsere Wege auf unbestimmte Zeit trennen. Wer weiß schon, wie viele Schläfer es in die Reihen der Eleven schaffen? Wer weiß schon, ob überhaupt einer unserer Klasse bis in den Regierungspalast gelangt? Wer weiß schon, was uns nach der Akademie erwartet? Einmal mehr wird uns allen bewusst, dass auch diese anstrengende und doch so kostbare Zeit bald zu Ende gehen wird. Anfang Juni erhalten wir die Testergebnisse und dann trennen sie die Spreu vom Weizen. Jeder wird zum Einzelkämpfer, jeder muss seinen eigenen Stiefel finden und jeder die liebgewonnenen Freunde vergessen, Freunde, aber auch Gegenspieler.
Tam beobachtet mich, seit wir in der Aula Platz genommen haben, und erhält nun endlich die geforderte Aufmerksamkeit. Eliska nannte mich stark und genau diese Stärke lässt mich seinem Blick standhalten. Seine Augen scheinen mich zu verschlingen, meine schicken ihm Kälte. Er möchte an die schönen Momente anknüpfen und ich verspüre nichts als Verachtung. Im Grunde genommen hat er mir nichts getan und möglicherweise ist eine Verkettung dummer Zufälle der Grund für Tristans Verschwinden, aber daran kann ich derzeit nicht glauben. Ich weiß nicht, warum alle Welt in ihm den Sunnyboy sieht und sein wahres, soziopathisches Ich verborgen bleibt. Ich weiß nicht, ob ich ihn je wieder mit anderen Augen betrachten kann.
»Kuno – so strahlend und fesselnd. Berd – so klug und kompetent. Sly – der warmherzige Illusionist. Tam – der strategische Schwiegermutterliebling.« Da, schon wieder. Immer ist er der Gute, Schöne, Nette, Kluge… Und weil er auch noch Gedanken lesen kann, grinst er mich jetzt dämlich an. Eineiige Zwillinge sind eine Naturkatastrophe, die die Menschheit nicht gebraucht hätte. Die Ähnlichkeit der Brüder macht es mir unnötig schwer. Sein Äußeres lässt Gedanken in mir wach werden, für die ich mich schäme, und das charmante, wenn auch falsche Lachen, bringt mich um den Verstand. Es ist so anstrengend. Ich möchte mich in diesen blauen Augen verlieren, aber es sind die falschen. Ich wünsche mir die Wärme dieser Hände, doch sie werden sich kalt anfühlen. Ich sehne mich nach diesen Lippen, gehörten sie doch nur einem anderen.
»Jetzt möchte ich Sie nicht weiter auf die Folter spannen und zum eigentlichen Grund der heutigen Sitzung kommen.« Danke! »Aus unterschiedlichen Teilen des Landes konnten wir Aufnahmen der Fernsehteams ergattern, um jeden einzelnen Kandidaten etwas genauer unter die Lupe zu nehmen und Tipps für Ihre zukünftige mediale Arbeit zusammentragen. Ich werde nun den ersten Beitrag einblenden und erwarte auch Ihr Feedback.« Bitte nicht ich! Bitte nicht ich!
»Entschuldigung, dürfte ich Sie um ein kleines Statement bitten?« Die Kamera fängt eine herannahende Kleingruppe ein und ich verkrieche mich in meinem Sessel. Im Hintergrund ist klar und deutlich die Aufschrift: ›Gesamtschule NW/74‹ zu erkennen, bevor die Gesichter der beiden Mädchen im Vordergrund auf scharf gestellt werden.
»Selbstverständlich ist meine Freundin Roya offen für all Ihre Fragen.« Fenja schubst mich geradezu in die Arme des Journalisten und mir bleibt nichts anderes übrig, als in die Rolle der perfekten Elevin zu schlüpfen.
»Roya also«, entgegnet der schlaksige junge Mann mit schwarzem Poloshirt und Mikrofon. »Freut mich!« Ich nicke ihm höflich zu und rücke die Brille noch einmal gekonnt zurecht. »Wie fühlen Sie sich nach den Strapazen der letzten Stunden und können Sie bereits Aussagen über ihre Ergebnisse machen?« ›Im Gedächtnis bleiben, Interesse beim Zuschauer wecken, echt sein.‹ Eliskas Worte dröhnen so prägnant in meinen Ohren, dass es ein Leichtes ist, die geübten Floskeln überzeugend anzubringen.
»Verraten Sie mir Ihren Namen?«, konterte ich selbstbewusst.
»Julius«, entgegnete der überraschte Pressemann, der keine fünf Jahre älter zu sein scheint.
»Also Julius.« Ich setze ein keckes Lächeln auf und spiele sämtliche weibliche Trumpfkarten gleichzeitig aus. »Ich habe Hunger, keine Ahnung, warum ich die Toilette im Schulgebäude übergangen habe und werde Sie eigenhändig erwürgen, sollten Sie die Löcher in meinen Schuhen zum Thema Ihres Beitrages machen.« Wenn du deinem Gegenüber sagst: ›denk nicht an rosa Flamingos‹, wird ihm natürlich genau dieses Bild durch den Kopf jagen. Wie erwartet rückte der Kameramann also meine Füße in den Fokus der Aufnahme und zwingt mich zum Handeln.
»Julius, ich hatte Sie gewarnt.« Die Kamera schwenkt auf mein Gesicht und ich deute belustigt einen Würgegriff mit den Händen an. »Da ich heute morgen nichts anderes