BeTwin. Martha Kindermann
Impressum
»BeTwin«
Band 2 der »BePolarTrilogie«
Text © Martha Kindermann 2019
An der Vogelweide 88, 04178 Leipzig
Coverdesign © Kurt Stolle, Martha Kindermann
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»Schreiben ist wie Träume fangen –
Lesen das Beste an der Geschichte.«
Mein Teil ist erledigt. Jetzt bist du an der Reihe.
Viel Spaß beim Träumen, Zittern, Schmachten, Weinen, Lachen und Überraschtwerden. Auf nach Polar!
Prolog
So schnell mich meine zittrigen Beine tragen können, laufe ich dem rettenden Fahrstuhl entgegen. Nicht zurückblicken. Das Ziel fest im Visier verschwimmt meine Umgebung und ich bemerke den Verfolger erst, als die Stahltür sich vor seiner Nase schließt. Erleichtert sacke ich gegen das Geländer und lasse die angestaute Luft aus der Lunge entweichen. Glück gehabt – vorerst. Nun muss ich darauf vertrauen, dass der Fahrstuhl die drei Etagen schneller überwindet, als Tam die Stufen hinuntersteigen kann. Sollte er mich einholen, garantiere ich für nichts.
Er ist ein Fremder. Ein Fremder ohne Narbe auf dem Schlüsselbein. Ein Fremder, der mir Angst macht. Ein Fremder, der mich geküsst hat, ohne seine wahre Identität zu offenbaren. Ein Fremder, der den eigenen Zwillingsbruder hinter Schloss und Riegel bringt, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Fremder und ein riesiges Arschloch.
Wo ist Tristan und was hat er mit ihm gemacht, um seinen Platz einnehmen zu können? Dieses BePolar-Treffen war eine saublöde Idee. Warum nur habe ich darauf bestanden, Tristans Vater kennenzulernen? Warum nur habe ich mich in die Höhle des Löwen gewagt und vorgegeben etwas zu sein, dass ich nicht bin? Ich will so unbedingt hinter die Geheimnisse dieser Organisation kommen, dass ich die wirklich wichtigen Dinge außer Acht gelassen habe.
Ich habe mich selbst verleugnet, um jetzt vor einem Menschen davonzurennen, der mein Herz im Sturm erobert und dann in tausend Stücke gerissen hat. Ich habe mich entschieden – zu schnell – zu unüberlegt und doch richtig. Mein Bauchgefühl hat mich an die Hand des guten Zwillings geführt. Tristan ist nicht der Psychopath, für den ihn alle halten, sondern ein großartiger Mensch, den ich für seine Selbstlosigkeit über alles bewundere. Diese Erkenntnis hat mich Fenjas Loyalität gekostet und das ist scheiße. Sie hat Tam damals aufgenommen, halbnackt und unterernährt. Ihr Beschützerinstinkt vernebelt ihre sonst so scharfen Sinne und das macht mich unendlich traurig.
Bling. Die Tür öffnet sich. Panisch sehe ich mich nach allen Seiten um, bevor ich einen Schritt aus dem Fahrstuhl wage. Der Schein der Straßenlaterne lässt keine Schatten in der Eingangshalle erkennen und so verschwinde ich lautlos durch den Hauptausgang. Mit rasendem Puls und Tränen in den Augen laufe ich ziellos in die Dunkelheit. Ich blicke nicht zurück – ich kann nicht zurückblicken. Bitte, Tam, lass mich in Ruhe! Folge mir nicht! Sprich mich am besten nie wieder an und sorge dafür, dass dein Bruder zu mir zurückkehrt!
Zwanzig Minuten später erreiche ich trotz der vorherrschenden sieben Grad völlig durchgeschwitzt das elterliche Heim. Ich drehe den Schlüssel in der rothschen Haustür und breche auf der Bastmatte im Flur zusammen. Wenn meine große Schwester noch am Leben wäre, müsste ich nicht vereinsamt meine Tränen zurückhalten und den Kloß im Hals herunterschlucken. Sie würde neben mir knien und mich zwingen die Wut freizulassen. Ich vermisse Rhea wahnsinnig und das wird mir an diesem furchtbaren Abend einmal mehr bewusst. Ich war ungerecht und egoistisch. Ich habe sie dafür gehasst, dass sie mich auf dieser Welt alleine zurückgelassen hat. Dafür, dass sie mich in die Akademie und damit in die Fänge von BePolar geführt hat. Ich liebe sie und diese Liebe sollte alles verzeihen können. Die letzten Wochen waren so ereignisüberflutet, dass es kein Zauberstück war, die Schuldgefühle und die nicht enden wollende Trauer zu verdrängen. In all dem Trubel blieb kaum Zeit, über ihren angeblichen Unfall und die Umstände ihres viel zu frühen Todes nachzusinnen. Ich werde die Verantwortlichen finden, auch wenn ich damit ganz allein dastehe. Tristan ist wer weiß wo abgeblieben, Fenja ein Tabuthema und ich muss die Stellung bei BePolar halten, ohne zu wissen, was mich dort erwartet. Ich will hier sitzen und heulen, meine Schwester vermissen, mich um Tristan sorgen, meine Freundin brauchen, Tam in den Wind schießen und mein Leben wiederhaben. Hier allein in der Dunkelheit, mit klappernden Zähnen und salzigen Wangen bleibt mir jedoch nur eins – eine scheiß Angst.
1. April, Tag der Auswahltests
Wie verabredet stehe ich um 7:15 Uhr an der Rathausecke und warte. Fenja zieht es vor, mit ihrem Freund Elvis in die Schule zu fahren und heimlich den Rücksitz unsicher zu machen. ›Hallo!‹ ›könntest du mir bitte einen Stift leihen?‹ und ›Bis morgen‹, fassen alles zusammen, was wir uns derzeit zu sagen haben. In all meiner Wut und Trauer war es praktisch, einen Prellbock zu haben und ihr die Schuld an meinem gebrochenen Herzen zu geben. Doch wenn ich ehrlich bin, weiß ich, dass sie rein gar nichts für mein ganz persönliches Liebeschaos kann. Ich fühle mich seit Wochen wie ein lebloses, graues Fleischpatty – zwischen zwei Burgerhälften gequetscht – die unterschiedlicher kaum sein könnten. Sesam, oder nicht Sesam – beide Zwillinge machen mir Angst auf ihre eigene Weise, beide Brüder lösen Gefühle in mir aus, denen ich noch nicht gewachsen bin und beide lassen mich zu diesem emotional verwirrten Fleischbatzen werden, der ich gerade zu sein scheine. Tristan ist fort und die Sorge zerreißt mich – leiert mein Herz durch den Fleischwolf, um es wieder und wieder zu Pattys zu verarbeiten. Fenja weiß von alledem nichts. Sie hat sich in einem unbedachten Moment auf dem Friedhof gegen mich und für Tam entschieden und seither lasse ich es sie büßen. Das ist dumm, ich weiß, und ich bin ihren traurigen Blick und das kindische Schweigen so leid. Ich war unfair und fühle mich schrecklich. Jeden Tag schickt sie Nachrichten, jeden zweiten Tag telefonieren unsere Mütter und einmal in der Woche liegt ein Brief mit neuen Erkenntnissen in unserem Briefkasten. Sie gibt mich nicht auf, sie gibt die Nachforschungen um den Tod meiner Schwester Rhea nicht auf und ich kann ihr einfach nicht verzeihen. Meine beste Freundin fehlt mir so schrecklich. Gleich morgen werde ich diese heikle Angelegenheit in Angriff nehmen und auf Vergebung hoffen. Doch heute muss ich die geballte Konzentration auf die bevorstehenden Tests lenken. Das Polarjahr wird eingeläutet und in jedem Winkel des Landes stehen die Lichter heute auf ›Zukunft‹. Unsere Geschichte, das politische System, herausragende Persönlichkeiten Polars, unsere ganz eigenen Vorstellungen von Frieden und Gesellschaftsstrukturen und ein psychologischer Abschnitt werden Teil der Prüfung sein. Alle Schüler, die bis zum 1. August das achtzehnte Lebensjahr erreichen werden, unterziehen sich heute dieser vierstündigen Tortur. Vier Stunden, die eine Zukunft bestimmen; vier Stunden, um mich dem Ziel eines Ministerpostens in der Hauptstadt näher zu bringen; vier Stunden, um von den nächtlichen Studien in einer fiktiven Akademie zu profitieren und das Unterfangen ›BePolar‹ voranzutreiben; vier Stunden, um sich gegen Tausende Jugendliche des Polarjahrganges durchzusetzen; vier Stunden, um das Vermächtnis meiner Schwester fortzuführen und sie auch nach ihrem Tod stolz zu machen; vier Stunden ohne einen Gedanken an meinen verschollenen Freund; vier Stunden im selben Raum mit seinem geistesgestörten Zwillingsbruder; vier Stunden, die einfach alles bedeuten und vier Stunden, für die ich noch lange nicht bereit bin. Prof. Pfefferhauser, Moreno – der Penner, Eliska, Dr. Gregorio und all die anderen Dozenten der Akademie haben mich seit Monaten auf diesen Tag vorbereitet