BeTwin. Martha Kindermann
Midden beginnt. Ein Ausscheiden aus dem Wahlverfahren ist indiskutabel und würde zudem meinen Rauswurf aus der Akademie bedeuten. Es nützt also nichts, den Schwanz einzuziehen und einen Rückzieher zu machen. Nicht, wenn ich hinter das Geheimnis einer Organisation kommen will, die so widersprüchliche Signale sendet, die Ausbildung der Schläfer eingeschlossen. Gut und schön sich eigene Marionetten für eine friedliche Revolte heranzuziehen und die Jugendlichen in allen Bereichen des politischen Lebens zu unterrichten, doch die Art und Weise geht garantiert nicht mit den Rechten der Kinder konform (Morenos Rhetorikseminare scheinen offensichtlich zu fruchten). Doch heute eins nach dem anderen.
»Roya, psst!« Müssen wir uns verstecken, echt? Mein totgeglaubter und seit achtzehn Jahren verschollener Bruder glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass ihn in NW/74 irgendjemand wiedererkennen könnte. Nicht einmal unsere Eltern wissen von seiner Auferstehung, was mich an die Schmerzgrenze meiner schauspielerischen Fähigkeiten treibt. Irgendetwas ahnen die beiden und früher oder später muss sich mein Bruder der Wahrheit stellen, Mama und Papa nach einem ganzen Leben wieder unter die Augen treten und ihnen eines ihrer verstorbenen Kinder zurückbringen.
»Komm raus, Rafael! Ich werde jetzt sicherlich nicht zu dir in die stinkende Hundetoilette namens ›Busch‹ kriechen.« Ächzend und schnaufend befreit er sich aus der Hecke hinter der Rathausmauer und setzt sich plump neben mich. Der Anblick des fast zwei Meter großen Bären, dessen kurze Haarpracht von Blättern und kleinen Ästchen geschmückt ist, ringt mir ein Lächeln ab. Die trampelige Art haben wir definitiv gemeinsam, auch wenn uns optisch absolut nichts eint.
»Na, aufgeregt? Wichtiger Tag heute!« Er schließt mich in seine starken Arme, bis ich nach Luft schnappen muss und die Augen so weit heraustreten, dass ich Angst habe, sie könnten meinen Körper verlassen.
»Mmh, doch wenn ich erstickt bin, braucht dich das nicht mehr zu kümmern.« Sofort lässt er los und blickt mich entschuldigend an. »Schon gut, Rafael, ich hab dich auch lieb!« Diese Worte sind mir in seiner Gegenwart noch nie über die Lippen gekommen, doch sie sprechen die Wahrheit. Das letzte halbe Jahr wäre ohne ihn in einem absoluten Desaster oder auf Station 7, alias der Irrenanstalt, geendet. Nach dem Treffen der BePolaristen im Bürgerhaus war ich wochenlang wie gelähmt. Die verdrängten Gefühle kochten über und meine brüchige Welt stürzte gänzlich zusammen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens – dem Sinn meines Lebens – nagte an mir und versuchte mich in die Untiefen einer Depression zu ziehen. Er bot mir seine Schulter zum Ausweinen an, er half mir bei der vergeblichen Suche nach Tristan und war gleichzeitig der beste Pate, den ich mir bei BePolar hätte wünschen können. Die Anzahl der Schläfer wurde so drastisch reduziert und die Lerninhalte verdichtet, dass es notwendig war, eine Einszueinsbetreuung anzubieten: Lernkumpan, Lehrer, Babysitter, Freund und Bruder in einem – ein Rettungspaket quasi. Obwohl ich ihn liebe und unendlich glücklich über seine Rückkehr bin, so bleibt doch ein Fragezeichen zwischen uns. ›Unsere Eltern haben mit der ganzen Sache nichts zu tun!‹ bestimmt hundert Mal hat er versucht, mir diese Worte einzubläuen und ich zweifle immer noch. Es ist schwer vorstellbar, dass ein sechzehnjähriger Junge seinen eigenen Tod vortäuscht, nur um das Land vor dem Untergang zu bewahren. Rafael ist ein selbstloser und mutiger junger Mann. Na ja, so jung nun auch nicht mehr, und er hat vor vielen Jahren eine Entscheidung getroffen, die meine Existenz zur Folge hatte. Er verschrieb sich der Sache BePolar und brach mit seinem alten Leben, ohne einen Rückfahrschein zu besorgen. Ich war noch nicht einmal der Grund für sein Handeln, sondern lediglich eine günstige Fügung. Genau im siebten Jahr, einem ›Polarjahr‹, das Licht der Welt zu erblicken konnte Fluch und auch Segen bedeuten. Mit meiner Geburt war ein weiterer potentieller Schläfer geboren, der den Machtwechsel in immer greifbarere Nähe rückte und BePolars Tun einen tieferen Sinn gab – Segen. Doch meine Familie droht an dieser großen Bürde zu zerbrechen. Rhea ist tot, gestorben für eine Sache, die ihr älterer Bruder für wichtig genug hielt, um sie zu involvieren und einer ernstzunehmenden Gefahr auszusetzen – Fluch. Wer hat Rafael zu diesem Leben in der Versenkung geraten? Wer hat im Krankenhaus für ihn gelogen und den Totenschein gefälscht? Welcher gesunde Mensch tut einer Familie so etwas an? Rafael schweigt und ich habe das Spekulieren satt.
Seit ich das erste Mal die Augen aufschlug, war der Blick auf den heutigen Tag gerichtet. Es hat mich nie interessiert, aber als Polarbaby trage ich eine Verantwortung. Ich wurde geboren, um möglicherweise in wenigen Jahren ein Land zu regieren oder besser gesagt das, was dann noch von ihm übrig sein wird. Wie auch immer es laufen mag, die Familiengeheimnisse werden warten müssen.
»Es wird schon schiefgehen.« Rafael reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. »Um die schriftlichen Tests mache ich mir bei dir überhaupt keine Sorgen. Interessant wird es, wenn du dir eine Fangemeinschaft aufstellen und Liebling der Nation werden musst. Ohne Tristan an deiner Seite brauchen wir eine neue, totsichere Strategie. Also, ich habe mir da Folgendes über…«
»Hast du tatsächlich geglaubt, dass ich meine Beziehung zu Tristan ausnutze, um das unzertrennliche Pärchen vor der Kamera zu spielen?« Es macht mich traurig, diese List auch nur in Betracht zu ziehen. Seit Tristans Verschwinden im letzten Jahr bin ich nur ein halber Mensch und in ständiger Sorge um ihn. Warum ist er seit dem BePolartreffen wie vom Erdboden verschluckt, ohne ein Lebenszeichen zu geben? Habe ich ihn verstört? Warum ist Tam für ihn eingesprungen an jenem Abend? Wieso konnte er mich nicht in seine Pläne einweihen, bevor er verschwand? Vertraut er mir so wenig? Unsere Möglichkeiten, Tristan zu finden, schwinden von Tag zu Tag und meine Selbstzweifel, Sorge, Wut, Machtlosigkeit und die grausame Ungewissheit machen die Fleischpastete meines traurigen Herzens komplett. Das perfekte Rezept für einen hoffnungslosen Fall? Nein! Hoffnung, ist das Einzige, was mir geblieben ist. Ich werde Tristan finden, mir meine Freundin zurückholen und für BePolar diesen bescheuerten Auswahltest bestehen!
»Verzeih mir bitte, ich wollte dich auf gar keinen Fall verletzen oder Pfeffer in die Wunde streuen.«
»Salz. Salz in die Wunde streuen.«
»Dann eben Salz, Fräulein Überflieger. Die junge, heiße Liebe war zu Anfang einfach ein starkes Argument für dich.«
»Ach, und jetzt gehen mir die Argumente aus, oder was?« Heute Morgen kann ich diese Depriansprache echt nicht gebrauchen. In weniger als einer Stunde werden Hochleistungen von mir erwartet und Coach Rafael wählt die ›Du-bist-ein-absolutes-Nichts-Methode‹, um mich zu pushen – Bravo!
»Ich hab’s kapiert. Wir reden später darüber. Aber sieh dich vor, das Später wird kommen, ob du willst oder nicht. Hast du genügend Wasser?«
»Wie? Ach so – ja.«
»Stifte gespitzt?«
»Rafael, du bist wirklich von gestern. Tests werden digital bearbeitet und somit auch deutlich schneller ausgewertet.« Er bleibt standhaft trotz meiner hochgezogenen Augenbrauen.
»Okay, dann sind die Spickzettel sicher auf dem Mädchenklo verwahrt?« Jetzt nervt er echt. Ich springe von der Mauer und mache mich zum Abgang bereit.
»Lieber Rafael, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich dir höflich mitteile, dass du dir ein Hobby suchen solltest. Ich werde das hinbekommen, gut?« Er landet unelegant auf seinen Füßen und klopft mir auf die Schulter.
»Da du diese Worte nun aus eigenem Antrieb in den Mund genommen hast, betrachte ich meine Aufgabe hier als erfüllt und sehe dich heute Nachmittag zu einer Auswertungsrunde wieder. Auf bald, kleine Schwester. Mach sie fertig!« und schon verschwindet er hinter der nächsten Ecke. Er hat recht – ich werde ihnen zeigen, dass ich so was von bereit für die nächste Etappe bin. Bereit und kampfeslustig! Liebe Mitschüler aus Nah und Fern, zieht euch warm an! Roya Roth ist zurück am Spieltisch. Ich bin wahnsinnig gut vorbereitet, motivierter als ihr alle zusammen und werde diesen verdammten Wettbewerb so was von gewinnen.
Habe ich das gerade laut ausgesprochen?
In der Aula der Gesamtschule NW/74 rauchen fünf Minuten vor dem Stundenklingeln schon die Köpfe. Jeder Auserwählte hat seinen Platz eingenommen und fiebert mit gutem oder schlechtem Gefühl dem Startsignal entgegen. Die Tribüne wurde abgebaut und gegen ein kleineres Podest für die Prüfer und Aufsichtspersonen ersetzt. Mein Klassenlehrer Herr