Voller Misstrauen geliebt. Lara Greystone
war seine Mutter stets eine Rebellin gewesen und hatte mit seinem Vater deshalb in dieser Sache oft gestritten, auch noch nach dem Tod seines Bruders.
Jo arbeitete, bis es dunkel wurde, dann machte sie Feierabend und Quint gab ihr vor dem Verlassen des Geländes die Medizin von Alva.
Mit der Kawasaki folgte er ihr unauffällig, hatte extra wieder einen Helm mit verspiegeltem Visier gewählt und erneut seine verräterischen, feuerroten Locken darunter verborgen. Jo fuhr direkt nach Hause und er hatte vor abzuwarten, bis sie schlief, um dann ihr Haus zu durchsuchen. Danach würde er mit seiner Geige in den Wald gehen und seinen Bruders betrauern, denn heute war der Jahrestag seines Todes.
Durch ein gekipptes Fenster hörte er selbst von Weitem, dass die Gärtnerin duschte. Doch anstatt nach harter Arbeit müde ins Bett zu fallen, stieg sie bald darauf in ein Taxi, das vor der Einfahrt hielt.
Traf sie sich etwa mit Raúls Leuten?
Oder hatte Snake sie mit einem Trick irgendwo hingelockt?
Würde sie mit einem Mann ausgehen?
Komischerweise beunruhigte ihn das Letzte am meisten.
Das Taxi hielt vor einem Lokal, dem Scotti's, und die Erinnerung an seinen Bruder lief wie ein Film in seinem Kopf ab …
Samuel stand vor der Tür der Kneipe und winkte ihm zu.
„Komm schon, Quint! Tun wir mal wieder so, als würden wir uns betrinken können. Oder wir suchen einen Dummen, der versucht, uns beide unter den Tisch zu trinken.“
Er hörte sich selbst lachen, während er seinem Bruder folgte …
Anscheinend kannte Jo die Lieblingskneipe seines Bruders mit ihrem ebenso rustikalen wie gemütlichen Ambiente.
Mit der Leichtigkeit seiner Natur verbarg er sich in der Dunkelheit und beobachtete sie genau. Jo setzte sich an die Bar und bestellte einen Drink. Drinnen hatte niemand auf sie gewartet. Auch eine Stunde und zwei Drinks später war noch keiner gekommen und Jo wirkte auch nicht, als würde sie auf jemanden warten.
Suchte sie etwa nach einem One-Night-Stand?
Ein angetrunkener, älterer Kerl, der Jo schon eine Zeit lang von seinem Tisch aus angestarrt hatte, wankte nun auf den freien Barhocker neben ihr zu.
Plötzlich hatte er die Nase voll davon, draußen herumzustehen und rannte in übermenschlicher Geschwindigkeit zur Kneipentür. Vielleicht gelang es ihm ja, sie auszufragen, wenn sie genug Alkohol im Blut hatte, sagte er sich. Oder seine Gegenwart ärgerte sie genug, um nach Hause zu gehen und zu schlafen. Auch gut, dann könnte er sie nochmal in Tiefschlaf versetzen und nach der Hausdurchsuchung doch noch in den Wald gehen und Geige spielen.
Jo saß mit dem Rücken zum Eingang. Als er eintrat, bemerkte sie weder ihn noch den Betrunkenen, der bereits seine Hand nach ihrem Po ausstreckte.
Etwas Neues, Unbekanntes regte sich in Quints Innerem.
Ohne nachzudenken, überholte er den Typ und stieß dabei absichtlich dessen Hand samt dem ganzen Kerl beiseite. Dann pflanzte er sich in aller Seelenruhe selbst auf den Hocker neben Jo. Der verschwitzte Mann taumelte, wollte aber wohl nicht so schnell aufgeben und steuerte den leeren Hocker auf der anderen Seite von Jo an.
„Der ist auch besetzt“, knurrte Quint und bedachte den Kerl mit dem Blick eines Raubtieres, das proklamiert: Das ist meine Beute, versuch es und ich reiß dich in Stücke.
Der Typ hatte wohl einen gesunden Überlebensinstinkt, denn er gab seinen Versuch auf und verließ sogar das Lokal.
Erst durch seinen Kommentar schien Jo ihn bemerkt zu haben und wandte ihm den Kopf zu. Genervt stieß sie die Luft aus.
„Das ist meine Lieblingskneipe, Quint, und ich will mich hier in Ruhe betrinken, also geh woanders hin“, sagte Jo unverblümt.
Anstatt auf sie einzugehen, rief er dem Barmann lediglich zu: „Einen Whisky.“
„Welchen?“
„Einen guten, schottischen – Auriverdes, wenn Sie haben.“
„Kommt sofort.“
„Dann werde ich eben gehen“, meinte Jo mit bitterer Stimme. „Danke, dass du mir den Abend versaut hast.“
Sie wollte gerade vom Barhocker steigen, doch er hielt sie am Oberarm fest.
„Warte!«
»Warum?“, fragte Jo verärgert.
Ja, warum wollte er sie nicht einfach gehen lassen, sondern dass sie mit ihm hier sitzen blieb?
Um sie auszufragen, sagte er sich ignorant und verleugnete den Wunsch nach ihrer Nähe. Fragend sah Jo ihn an. Vermutlich sollte er jetzt etwas sagen, aber was?
„Warum willst du dich betrinken?“
„Um das klarzustellen: Ich mache das nur einmal im Jahr, an genau diesem Tag. Er ist – ich habe“, sie stockte.
Was wollte sie ihm gerade nicht sagen? Misstrauisch musterte er sie und registrierte, dass ihre Augen zu glänzen anfingen. So hatte das neulich auch bei Alice ausgesehen, kurz bevor das Mädchen anfing zu weinen, weil es sich das Knie aufgeschlagen hatte. Würde Jo jetzt auch weinen?
Schon wieder regte sich etwas in ihm, das er nicht deuten konnte, aber gleichzeitig fühlte er sich auch hilflos. Doch anstatt zu weinen schloss Jo kurz die Augen, atmete tief durch und fuhr dann fort: „Ich wollte wie jedes Jahr in Ruhe meinen Southern-Comfort-Trip absolvieren.“
Aus irgendeinem Grund war er froh, dass sie nicht weinte, aber plötzlich war es ihm noch wichtiger, dass sie bei ihm blieb. Vermutlich müsste er jetzt etwas sagen, damit sie nicht ging, aber was?
„Was ist ein Southern-Comfort-Trip?“ fragte er schnell, war aber auch neugierig.
„Ich starte mit dem Southern Trip, dann folgen die Städte: New Orleans, Florida und Manhattan. Und ich war schon bis Florida, bevor du kamst“, fügte sie genervt hinzu.
Stirnrunzelnd sah er den Barmann an, da Jo ihm keine weitere Erklärung gab.
„Das sind verschiedene Mixgetränke mit Southern Comfort“, erklärte der Mann hinter der Theke und stellte ihm den Whisky hin. „Im Southern Trip ist Orangensaft und Sekt drin, New Orleans ist mit Bourbon Whiskey, Amaretto, Zitronensaft …“
Er hatte Jo losgelassen und die griff nun nach ihrer Handtasche auf dem Tresen und wollte schon wieder gehen.
Während der Barmann mit seiner Auflistung fortfuhr, hielt er sie erneut am Oberarm fest.
„Lass mich los, Quint“, sagte sie und murmelte dann weiter: „Sobald ich meine Handtasche aufmache, würdest du mich vermutlich erschießen, also gehe ich lieber gleich.“
Ohne zu fragen, schnappte er sich mit seiner freien Hand ihre Tasche. Er öffnete sie einhändig, lugte hinein und entdeckte neben einem Smartphone auch die Walter PPK, Kaliber .22.
„Ich habe einen Waffenschein“, verteidigte sie sich mit gedämpfter Stimme, als der Barmann mit einer Kiste leerer Flaschen im hinteren Lagerraum verschwand. „Ich fühle mich damit sicherer. Man weiß nie, was in der Dunkelheit lauert.“
„Verständlich“, meinte er trocken.
Und ich weiß sogar ganz genau, welche Kreaturen in der Dunkelheit lauern.
Er ließ sie los und nahm die Pistole heraus. Zwischen seinem Körper und der Bar konnte die Waffe sonst nur Jo sehen.
„Hey, was machst du da?“
So leise, dass ihn die anderen Gäste nicht hören konnten, sagte er: „Aha, eine Walter PPK.“
Das war die perfekte Gelegenheit um herauszubekommen, ob Jo die Spuren bemerkt hatte, die er neulich hinterlassen hatte, also fragte er: „Ist das Magazin voll?“
„Ja, wieso?“
Entweder dachte