Voller Misstrauen geliebt. Lara Greystone
sagte er, ohne auch nur für eine Sekunde darüber nachzudenken.
Jo starrte ihn schockiert an, während der Himmel über ihnen seine Schleusen öffnete und sich ein heftiger Schauer über sie ergoss. Während sie sich gegenüberstanden und der Regen sie beide in Sekunden durchnässte, wurde ihm bewusst, was er da gerade gesagt hatte: Im Zweifelsfall hätte Jo eine Kugel von ihm zwischen den Augen, bevor er nachfragen würde, was sie in Händen hielt. Ein ausgeliehenes Badetuch und eine Entschuldigung würden dann auch nicht mehr helfen.
Als wäre die Zeit eingefroren, stand er da, sah zu, wie der Regen über Jos Gesicht lief, an ihren Wimpern hängen blieb und dann heruntertropfte.
Was war nur aus ihm geworden?
Vielleicht hatte Agnus recht und er war wirklich außer Kontrolle.
Und Vampire, die die Kontrolle verloren und Menschen töteten, mussten eliminiert werden – durch Wächter wie ihn.
Er brachte kein Wort mehr heraus.
Kapitel 10
Jo konnte zuerst gar nicht glauben, was dieser Quint da gesagt hatte. Anscheinend ging es ihm ebenso, denn wie sie war er sprachlos und starrte sie einfach nur an.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich.
War das Schock, Reue oder Selbstzweifel? Vielleicht alles auf einmal?
Es war ziemlich extrem, gleich auf jemanden zu schießen, ohne zu fragen …
Aber würde ich nicht auch sofort schießen, wenn mitten in der Nacht jemand in mein Schlafzimmer einbricht?
Woher kam denn dieser Gedanke auf einmal? – Und ja, vermutlich würde sie das. Schließlich hatte sie nicht ohne Grund eine Waffe unterm Kopfkissen.
Es gab eine Zeit in ihrem Leben, da hätte sie sich nicht vorstellen können, so zu reagieren. Und Quint war vielleicht auch nicht immer so gewesen, irgendwie spürte sie das.
War sie am Ende gar nicht so viel anders als Quint?
Misstraute sie nicht auch jedem Fremden?
Und enge Freude hatte sie sowieso nicht, durfte sie nicht haben, bei dem Geheimnis, das sie verbergen musste.
Der Schauer hörte so plötzlich auf, wie er begonnen hatte.
Quint streckte seine Hand nach ihrem Gesicht aus und entgegen jeder Vernunft wich sie nicht zurück.
„Bitte“, sagte er seltsam leise und wischte mit seinem Daumen verblüffend sanft ein paar Tropfen von ihrer Wange. „Bring nie, nie eine Wasserpistole mit oder ein Messer oder sonst irgendetwas, das aussieht wie eine Waffe – nie, hörst du?“
Ihr fiel auf, dass er sie jetzt duzte. Sie ließ ihn gewähren und würde es ihm gleichtun, weil das Gefühl sie beschlich, dass es Ausdruck eines Wandels war. Womöglich sah er jetzt nicht mehr einen anonymen Feind in ihr, den man auf Abstand hielt, sondern einen Menschen mit Persönlichkeit und Gefühlen.
Um die sonderbare Stimmung zu durchbrechen, steckte sie endlich ihre Pillen in den Mund und schluckte sie mit viel Wasser hinunter.
Zum Glück war der Rucksack, in dem sich ihre von einer gewissen Sarah netterweise getrocknete Kleidung befand, so gut wie wasserdicht.
Im Stehen zwang sie ihre Füße wieder in die immer noch feuchten Arbeitsschuhe und schwankte dabei. Quint hielt ihren Ellenbogen fest, sonst wäre sie wohl hingefallen.
Dieses Mal fühlten sich seine Hände nicht mehr wie Schraubzwingen an, sondern stark und dazu berufen, jemanden zu halten, zu beschützen und für ihn zu sorgen. Ihr sorgsam unterdrückter, aber unstillbarer Wunsch flammte auf, nicht mehr allein zu sein, sondern gehalten zu werden, beschützt zu werden vor den Kreaturen, die sie am meisten fürchtete.
Um ihr hoffnungsloses Wunschdenken zu beenden, fing sie an, Quint zu erklären, welche Arbeiten noch zu erledigen waren. Er hörte aufmerksam zu und wirkte zum ersten Mal nicht mehr wie eine Handgranate, die in ihrer Gegenwart jeden Augenblick explodieren könnte.
Vielleicht würde ihr Quint diesen Auftrag von nun an auch nicht mehr zur Hölle machen. Mit diesem Gedanken fuhr sie nach Hause.
Daheim angekommen, hätte sie gern die Blutspuren vor ihrem Haus genauer untersucht und auch ihren Sohn um seine Meinung gebeten, doch der heftige Regenschauer hatte jeden Hinweis fortgeschwemmt.
***
Während Quint schlammbeschmiert die Arbeit von Jo verrichtete, herrschte Chaos in seinem Kopf.
Die ganze Zeit grübelte er, wie hoch das Risiko war, das von Jo ausging, und wie groß die Gefahr war, die er selbst darstellte. Immerhin hatte sein Gespräch mit ihr gezeigt, dass er womöglich im Affekt einen Unschuldigen tötete.
Wenn er Jo nicht sehr genau im Auge behielt, wäre sie durchaus in der Lage, das Hauptquartier in die Luft zu sprengen. Alles, was dazu nötig wäre, ließ sich in ein paar Säcken Gartenerde verstecken. Andererseits bräuchte sie vermutlich nur aufmerksam alle Informationen über das Anwesen und seine Bewohner sammeln, um einem Blutfürsten entscheidende Details für einen erfolgreichen Angriff zu liefern … Aber vielleicht war Jo ja doch einfach nur eine Landschaftsgärtnerin, die ihren Job erledigte, und er würde sie bei der ersten, zweideutigen Aktion möglicherweise über den Haufen schießen …
Später, als er nach getaner Arbeit über den Flur zu seinem Quartier lief, war er immer noch nicht weiter: Er brauchte mehr Informationen, um Jo genauer einzuschätzen. Am besten er folgte ihr nach Feierabend. So könnte er herausfinden, was sie in ihrer Freizeit tat, und ihrem Zuhause noch mal einen Besuch abstatten. Die Fingerabdrücke hatte er ja noch und würde sie auf alle Fälle von Elia überprüfen lassen, davon brauchte Agnus ja nichts erfahren.
Als sein Anführer wie aus dem Nichts vor ihm stand, fühlte er sich regelrecht ertappt.
„Du siehst aus wie ein Schwein, dass sich gerade gesuhlt hat, Quint! Geh dich gefälligst waschen! Sogar Amalia beschwert sich bereits über dich und die sitzt mir schon genug im Nacken …“
Agnus hatte ihm auf dem Flur noch Druck gemacht, diesen Vampir zu finden, der seinen Opfern nicht das Gedächtnis löschte - wenn es denn ein Vampir war und nicht nur ein abgedrehter Mensch. Also konnte er Jo nicht auskundschaften, sondern musste den Rest der Nacht in die Stadt. Dort durchkämmte er mehrere Diskotheken und suchte die dunklen Gassen ab, in denen üblicherweise Drogen verkauft wurden.
Leider wirkten Vampire äußerlich wie normale Menschen und waren weder an ihrem Geruch, noch an ihren Augen zu erkennen. Aus diesem Grund glich diese Aufgabe der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Um weniger aufzufallen, kleidete er sich von oben bis unten in ein schwarzes Motorradoutfit inklusive Helm mit verspiegeltem Visier, unter dem er auch seine auffälligen Haare verbarg.
Er beobachtete viele junge Männer an diesem Abend und ein paar davon, die sich Liquid Ecstasy oder K.o.-Tropfen bei den Dealern besorgten hatten, folgte er sogar. Keinen erwischte er jedoch mit ausgefahrenen Fangzähnen oder wie er später aus der Kehle eines Menschen trank.
Kurz vor Sonnenaufgang absolvierte er noch eine letzte Runde um die bekannten, dunklen Ecken und landete doch noch einen Treffer.
In der Nähe einer beliebten Disco, draußen im Industriegebiet, stand ein junger Mann, der sich eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. In seinen Armen hielt er in beinahe romantischer Art eine blutjunge Frau, geradeso als wollte er sie küssen. Nur dass die Frau völlig benommen wirkte und die ausgefahrenen Fangzähne keinen Kuss verhießen.
Aber hatte er es hier auch mit dem Gesuchten zu tun?
Immerhin brauchten Vampire zum Überleben ja frisches Blut direkt aus der Quelle, da konserviertes Blut in Beuteln leider nicht funktionierte. Deswegen war seine Art nun einmal gezwungen, auf die Jagd zu gehen – wie sie es nannten – und das allein war nicht strafbar. Aber töten durften sie dabei nicht und die Erinnerung daran musste aus dem Gedächtnis der unfreiwilligen Spender