Voller Misstrauen geliebt. Lara Greystone
handelte sich zweifelsohne um einen Jungen – das war ihr Begriff für Vampire unter fünfzig Jahren – und der vor ihm war vermutlich gerade erst um die Zwanzig. Die Art, wie der Vampir knurrte, zeigte auch, dass er extremen Hunger hatte, und in seiner Haltung gab es Anzeichen, dass ihn deswegen bereits Krämpfe quälten. Vermutlich befand sich der Junge gerade in der kritischen Wachstumsphase, die irgendwann zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren stattfand. Eine Waffe konnte er an dem Vampir nicht erkennen und in Anbetracht des Alters ließ er seine Pistole und das Kampfmesser stecken.
Leider war es ihm unmöglich, das Gesicht des jungen Vampirs zu erkennen, geradeso als blicke er durch eine Milchglasscheibe. Aber er ließ sich davon nicht irritieren, denn ein paar wenige Vampire besaßen diese Gabe nun mal.
„Wir müssen uns unterhalten“, sagte Quint in unmissverständlichem Ton, wobei das geschlossene Visier seine Stimme verfremdete. „Aus welcher Familie stammst du? Wer ist dein Vater?“
In dieser heiklen Phase sollte der Vater den jungen Vampir unbedingt begleiten und ihm Hilfestellung geben.
Der Junge zuckte mit den Schultern und wirkte verblüfft. Hatte er es hier etwa mit einem Waisenkind zu tun?
„Ich bin ein Wächter. Weißt du überhaupt, was das ist?“
Ein verneinendes Kopfschütteln.
„Du darfst keine Menschen töten. Das ist dir doch klar, oder?“
Der Junge nickte.
Wenn dieser junge Vampir noch nie von den Wächtern gehört hatte, musste er eine Waise sein, anders war das nicht zu erklären. Jeder Vampirvater ermahnte seinen Sohn, dass ihn die Wächter holen würden, falls er jemals gegen die Gesetze verstieß. Das war die ultimative Drohung, mit der man ungezogenen Bengeln von klein auf einen gehörigen Schrecken einjagte.
Sollte der Hunger des jungen Vampirs übermächtig werden, könnte er die Kontrolle verlieren und zu viel Blut von einem Menschen trinken, sodass er ihn umbrachte. Den Jungen fehlte in der Regel noch die Selbstbeherrschung und Erfahrung, richtig damit umzugehen.
Ähnlich wie bei einem normalen Teenager, brauchte auch ein Vampir in der Wachstumsphase exorbitant viel Nahrung. Die Väter hatten dann immer alle Hände voll zu tun. Sie begleiteten ihre Söhne nachts in dieser Zeit, halfen ihnen und brachten ihnen bei, weder Bissspuren noch Erinnerungen zu hinterlassen. Die meisten Waisen verhungerten in dieser Phase oder begannen unter den äußerst schmerzhaften Krämpfen ihre Beute bis zum letzten Tropen auszusaugen, konnten dann sogar zu blutgierigen Bestien werden.
Gott sei Dank gab es selten Waisen, denn für Wächter war es tragisch, wenn sie wegen solcher vermeidbarer Umstände ein viel zu junges Leben beenden mussten.
Quint wollte gerade auf den Jungen zugehen, um ihm seine Hilfe anzubieten, da tauchten drei Gesetzlose mit ausgefahrenen Fangzähnen auf. Ihre gebeugte Angriffshaltung, die mörderischen Augen und der gierige Blick, mit dem sie die Frau ins Visier nahmen, verrieten sie. Man sah ihnen deutlich an, dass sie gleich wie eine Horde Hyänen über die junge Frau herfallen würden. Er musste etwas unternehmen, sonst würde es gleich ein blutiges Massaker geben.
Und dann tat der junge Vampir etwas sehr Bemerkenswertes: Er legte die Frau vorsichtig auf den Boden, stellte sich schützend vor sie und fauchte die nach Blut lechzenden Gesetzlosen mit ausgefahrenen Fangzähnen an.
Quint hätte beinahe gegrinst, denn das Fauchen des Jungen klang noch gar nicht abschreckend, sondern eher wie das eines verärgerten Kätzchens. Das müsste er ihm auch noch beibringen. Doch die Reaktion des Jungen verstärkte seine Hoffnung, ihn retten zu können, noch war es nicht zu spät. Allerdings würden diese drei hungrigen Mörder den jungen Vampir zerfleischen, wenn er sich weiter tapfer zwischen sie und ihre Aussicht auf frisches Blut stellte. Da die Sonne bald aufging, war diese Frau für die Gesetzlosen die letzte Möglichkeit, ihren Bluthunger zu stillen. Deshalb würden sie sie zu dritt auch restlos aussaugen, andernfalls müssten sie ihr quälendes Verlangen ja bis zum nächsten Sonnenuntergang aushalten. Und das war ein Merkmal der Gesetzlosen: diese Beherrschung wollten oder konnten sie nicht mehr aufbringen.
Quint pfiff ohrenbetäubend, um die Aufmerksamkeit des Trios von dem jungen Vampir abzulenken.
„Hey! Hier spielt die Musik!“, rief er ihnen zu und wies den Jungen an: „Verschwinde und bring die Frau in Sicherheit.“
Ungläubig sah der Junge von ihm zu den drei anderen.
Wie süß: Ein Kätzchen, das einem ausgewachsenen Raubtier – noch dazu einem Wächter – beistehen will.
„Keine Sorge, mit denen werd ich fertig. Und jetzt hau ab!“
Der Junge ließ sich das nicht zweimal sagen und verschwand mit der Frau in einer Geschwindigkeit, die er ihm gar nicht zugetraut hätte.
Als die drei dem Jungen folgen wollten, riss sich Quint den Helm herunter. Er zog sein Kampfmesser, denn Schüsse hätten hier zu viel Aufmerksamkeit erregt, und stürzte sich mit einem gewaltigen Sprung auf das mörderische Pack.
Dem Ersten schnitt er noch in der Luft den Hals bis zur Wirbelsäule durch, die beiden anderen riss er mit sich zu Boden.
Dass die beiden Gesetzlosen wie tollwütige Hunde ihre Fangzähne in seine Schulter und Brust schlugen, Fleisch und Muskeln aus ihm rissen, bewies, dass sie in einem Stadium waren, wo es kein Zurück mehr gab.
Unter heftigen Schmerzen trat Quint dem einen so kräftig gegen den Bauch, dass dieser ein paar Meter durch die Luft flog. Mit dem linken Arm gelang es ihm dann gerade noch, die Fangzähne des Verbliebenen zu blocken, die ihm sonst die Kehle aufgerissen hätten. Der Kiefer des Angreifers schloss sich stattdessen um seinen linken Unterarm und gleißender Schmerz jagte durch seinen Körper.
Nur das harte Training mit den wiederholten Übungsabläufen, das er in England absolviert hatte, half ihm, trotz der brutalen Schmerzen den Kampf effektiv weiterzuführen.
Während sich der Vampir unter ihm in seinen linken Arm verbiss, brachte Quint ihn unter sich und stieß ihm mit der rechten Hand sein Kampfmesser gezielt zwischen die Rippen ins Herz. Zur Sicherheit drehte er das Messer noch einmal herum. Bevor er es wieder herauszog, landete jedoch schon der weggeschleuderte Vampir auf seinem Rücken. Quints linker Arm war hoffnungslos im Kiefer des toten Vampirs gefangen und damit waren auch seine Abwehrbewegungen eingeschränkt.
Der Routine einer Kampfübung folgend, ließ er das Messer in seiner rechten Hand für den Bruchteil einer Sekunde los, um den Griff andersherum zu greifen. Jetzt war es ihm möglich, das Messer in einer fließenden Bewegung aus dem Herz des Vampirs unter ihm herauszuziehen und mit der Klinge voraus mit voller Wucht in den Schädel des Angreifers hinter ihm zu rammen.
Wie ein nasser Sack fiel der Vampir von ihm ab.
Er musste dem Toten unter ihm mit Gewalt den Kiefer aufbrechen, um seinen Arm zu befreien. Den Impuls, dabei vor Schmerz aufzubrüllen, unterdrückte er mit eiserner Beherrschung, denn sein Schrei hätte womöglich Menschen aufgeschreckt, die dann die Polizei riefen.
Der am Kopf Getroffene war nur bewusstlos und würde jeden Augenblick wieder zu sich kommen, also zögerte er keine Sekunde und gab auch ihm den Todesstoß ins Herz.
Dann saß er für ein paar Momente einfach nur blutüberströmt da, atmete heftig und wartete darauf, dass die höllischen Schmerzen erträglicher wurden.
Weil gleich die Sonne aufgehen würde, rief er Walter an, den einzig menschlichen Mann im Hauptquartier.
Als Walter kurz darauf mit dem Van kam, schüttelte der den Kopf.
„Scheiße, was haben die denn mit dir angestellt?“
„Sie haben mich angefressen, wie tollwütige Hunde. “
Gemeinsam sammelten sie erst die Leichen ein, und während Quint anschließend notgedrungen im hinteren, sonnengeschützten Teil des Vans wartete, beseitigte Walter alle Spuren des Kampfes.
Durch den hohen Blutverlust war bei Quint bereits wieder ein quälender Durst nach frischem Blut entstanden.
Walter