Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig Bechstein
an. Die wollten solche Mär nicht glauben, denn
auf dem Stuhle durfte niemand sitzen, er wäre denn
König, kamen daher mit Licht, und der Kühnste unter
ihnen nahte dem Stuhle unerschrocken. Aber als er
den Mann darauf sitzen sah so still und wie steinern,
entfiel der Leuchter seiner Hand, und er zitterte und
entwich aus der Kirche und sagte dem Bischof von
dem Ereignis. Der Bischof nahm sogleich zwei Kerzenträger
der Kirche, ließ die vorangehen mit brennenden
Kerzen und folgte ihnen hin zum Kaiserstuhle.
Da sah er den Greisen sitzen und hub bänglich an zu
sprechen: Sag an, wer bist du Mann, und durch wessen
Gewalt unterfängst du dich, diesen Stuhl zu behaupten?
Weißt du nicht, daß dies der Sessel ist unsers
Herrn und Kaisers? – Darauf erwiderte der Kaiser:
Wie du sagst, so ist es, da ich noch König Karl
hieß, war ich euch allen wohlbekannt, da durfte keiner
diesen Stuhl mir wehren! – Und erhob sich und stand
vor dem Bischof in seiner stattlichen Größe, eines
Kopfes höher als der größte Mann, und der Bischof
rief frohlockend aus: Seid gottwillkommen, mein königlicher
Herr! Segen sei mit Eurer Wiederkunft. –
Da läuteten von selbst alle Glocken, des erschraken
die Hochzeitgäste und zogen eilend von dannen, und
der Bischof bat für die Königin und sagte, daß sie gedrungen
worden sei, da verzieh ihr Karolus gerne und
gab ihr seine Huld zu erkennen, denn er liebte sie unabänderlich
und konnte nimmer von ihr lassen.
125. Fastradas Liebeszauber
Mit einer unsterblichen Liebe liebte Kaiser Karl sein
Ehegemahl Fastrada, bis sie erkrankte und starb. Dies
geschah zu Frankfurt am Main, von wannen ihr
Leichnam erhoben ward und gen Mainz geführt, ihn
allda zu bestatten. Aber der Kaiser wich nicht von der
Verstorbenen und duldete nicht, daß man sie von ihm
entferne, denn es fesselte ihn ein Zauber, wie vorher
an die Lebende, so jetzt an die Tote. Das ward des
Kaisers Umgebung auf die Länge ganz unerträglich,
fort und fort den Stank der Verwesung zu atmen, und
endlich ahnete der weise Turpin, des Kaisers Ohm
und Bischof von Mainz, daß ein Zauber hier walte,
suchte und fand im Munde der Toten, oder nach andern
in ihr Haar geflochten, den Ring mit dem Edelstein,
den damals zu Zürch die Schlange in des Königs
Becher gesenkt, und nahm den Ring an sich. Alsbald
wich der Zauber von Fastradens Leichnam, die
dem Kaiser bislang noch immer schön und frisch und
blühend, wie eine Schlafende, erschienen war, deshalb
er sie auch nicht zu bestatten erlaubte – und er
erbebte jetzt vor ihrem Anblick und wollte sie nicht
mehr sehen. Also ward Fastrada bestattet, aber nun
wandte sich Karls ganze Liebe dem Erzbischof zu,
der nun schon wußte, woher diese Neigung stamme.
Und als Erzbischof Turpin im Gefolge des Kaisers
gen Aachen zog, da sah er unterm Frankenberge einen
schönen See, der war still und tief und heimlich.
Dahinein warf Turpin den Schlangenring. Alsobald
entwich die Zauberliebe aus Karols Herzen und
wandte sich nun zu diesem See, wollte nimmer von
ihm scheiden. Ließ ein Schloß zur Wohnstätte auf den
Berg über dem See bauen, da weilte er nun immerdar
und hatte seine Augen stündlich auf den See gerichtet
und verordnete, daß man ihn bei seinem Absterben
allda in seinem Münster zu Aachen begraben solle,
befahl auch, daß alle seine Nachfolger zu Aachen vor
ihrer Krönung sich sollten salben und weihen lassen,
welches auch also geschehen ist in langer Reihe deutscher
Kaiser bis nahe heran an die neue Zeit, da man
nicht mehr deutsche Kaiser zu salben und zu krönen
hatte und das Reich ein Ende genommen.
126. Karl des Großen Tod und Grab
Als es mit Kaiser Karl dem Großen zum Sterben kam,
verordnete der Held, wie es mit seinem Begräbnis geschehen
solle, und geschahen zugleich große Wunderzeichen
am Himmel und auf Erden, welche des mächtigen
Kaisers Absterben vorausverkündigten. So
stürzte der bedeckte Gang ein, der von der Kaiserpfalz
auf den Markt zum Münster führte. Und da Karolus
nun verstorben war, da ward er beigesetzt im
rechten Sinn, in eine neue wohlverwahrte Gruft, auf
einem Stuhl von Marbelstein aufrechtsitzend, auf seinem
Haupt die Krone und in der einen Hand den
Szepter, in der andern das Evangeliumbuch, und ward
dann über ihm die Gruft geschlossen und vermauert.
Das geschahe gleich am zweiten Tage nach dem Tode
des großen Herrschers, und kam nach wenigen Wochen
Ludwig der Fromme, sein Sohn, und übernahm
das Erbe des Reiches. Der sahe seinen Vater nicht
mehr, und kein Mensch sah ihn mehr, bis man das
Jahr Eintausend schrieb. Da trug des Reiches Krone
Kaiser Otto III. vom Sachsenstamme, dem gelüstete
zu einer Zeit, den Leichnam Karl des Großen zu
schauen, ging zum Grabe dar, geleitet von zwei Bischöfen
und einem Grafen, und ließ eine Öffnung in
die Gruft brechen. Da saß der nun seit fast zwei Jahr-
hunderten beigesetzte Kaiser noch hoch und hehr, wie
ein steinern Heldenbild, auf seinem Marbelstuhl, die
Krone noch auf dem Haupte, das Szepter in der behandschuhten
Hand und das Buch auf den Knien,
schier dräuend und schrecklich. Alle beugten sich ehrfurchtvoll
vor dem großen Toten und befanden, daß
die Nägel fortgewachsen waren durch die Handschuhe
hindurch, und daß die Fäule nur erst die Nase ergriffen.
Die ließ Kaiser Otto von Gold ergänzen, schnitt
dem Leichnam mit goldner Schere die Nägel ab und
kleidete ihn in ein weißes Gewand. Dann