Herzen der Nacht. Jill Korbman
waren. Sie hatte dort ein Zimmer für mich reserviert, und ich freute mich bereits wahnsinnig darauf, es zu sehen.
Im Schloss zu wohnen war überdies sehr praktisch für mich, denn die nächste Stadt lag dreißig Autominuten von hier entfernt und ich hatte keine Lust, jeden Tag zwischen Wohnung und Arbeitsplatz zu pendeln. Und außerdem - warum sollte ich mir woanders eine Bleibe suchen, wenn ich auch ein Zimmer in einem romantischen Castle haben konnte?
„Arbeitest du schon lange hier?“, wollte ich wissen.
Paula strich sich nachdenklich über ihr Kinn. „Seit etwa drei Jahren. Wahnsinn, wie die Zeit vergeht.“
Ich nickte anerkennend. „Drei Jahre? Wow. Und du bist immer noch zufrieden?“
„Ja, natürlich! Ich liebe es, hier im Schloss zu wohnen und zu arbeiten. Und ich kenne niemanden, der auch nur annähernd einen so genialen Arbeitsplatz hat wie ich.“
Sie bahnte sich einen Weg durch die Besucher, die auf die nächste Führung warteten, und ich folgte ihr. „Einen Haken hat die Sache allerdings. Wie du vielleicht schon bemerkt haben dürftest, liegt Greyborough Castle ziemlich abgelegen. Hast du ein Auto dabei?“
Ich nickte. „Ja, es steht draußen auf dem Parkplatz.“
„Das ist gut. Ohne Auto sitzt du hier nämlich fest. Es gibt keinerlei öffentliche Verkehrsmittel, weißt du?“ Paula trat einen Schritt zur Seite. „So, es geht los. Wenn du Fragen hast, darfst du sie natürlich gerne stellen. Ansonsten wünsche ich dir viel Spaß bei der Führung.“
Aufgeregt sah ich mich um. Dieses Schloss war wirklich ein Traum und ich war schon gespannt darauf, die anderen Räume zu sehen, insbesondere die Bibliothek. Paula stellte sich kurz vor und erzählte dann einige grundlegende Fakten über das Gebäude.
„Der Grundstein zum Bau der Anlage wurde um das Jahr 1300 gelegt. Wie man sehen kann, trägt das Schloss auch Merkmale der Gotik, zum Beispiel die Spitzbögen über den Fenstern. Im Laufe der Zeit wurden die Innenräume mehrmals renoviert und von den jeweiligen Schlossherren mit Möbeln aus der gerade vorherrschenden Epoche ausgestattet. Einige Teile wurden immer entsorgt und durch neue ersetzt. Deshalb findet man hier in den Zimmern einen regelrechten Stil-Mix.“
Wir durchquerten einen Raum nach dem anderen und betraten schließlich einen großen Saal im Erdgeschoss. Die Mauern hier waren naturbelassen und nicht verputzt. Überall hingen Jagdtrophäen aus früheren Zeiten, hauptsächlich Geweihe von Hirschen.
„Dies hier ist der große Prunksaal“, erklärte Paula, „hier wurden in früheren Zeiten rauschende Feste gefeiert. Der Raum dient auch heute noch für Trauungen und besondere Veranstaltungen. Falls Sie Interesse daran haben, ihn zu mieten, kann ich Ihnen später ein Faltblatt mit den Kontaktdaten der Verwalterin geben.“
Mit Staunen bewunderte ich die goldenen Kronleuchter und die kostbaren Möbelstücke, die überall im Raum verteilt waren. Die große Fensterfront ließ viel Licht in den Raum, und man hatte einen atemberaubenden Ausblick auf den kleinen Park und die grünen Hügel, die das Schloss umgaben. Eine romantischere Location für eine Hochzeitsfeier konnte es meiner Meinung nach kaum geben.
Paulas Stimme drang weiterhin an mein Ohr, aber ich hörte ihr nicht zu. Stattdessen träumte ich davon, eines Tages selbst einmal hier vorm Altar zu stehen, in einem weißen Kleid und mit dem perfekten Mann an meiner Seite.
Ich seufzte. Eigentlich hätte ja Daniel dieser Mann sein sollen, aber nun gab es keine gemeinsame Zukunft mehr mit ihm. Mit der Trennung war auch mein Traum von einer baldigen Hochzeit geplatzt wie eine Seifenblase. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis bei mir wieder alles in normalen Bahnen verlief, und ich wusste auch nicht, ob ich irgendwann wieder bereit dazu sein würde, mich neu zu verlieben. Claire hatte mir geraten, mich nicht unter Druck zu setzen und mein neues Leben als Single erst einmal ausgiebig zu genießen, bevor ich wieder auf die Suche ging, und genau das hatte ich auch vor.
Ich warf einen Blick in den kleinen Park. Blühende Ziersträucher umgaben verschiedene Statuen aus Stein, die offenbar sehr alt waren. Die Anlage machte insgesamt einen sehr gepflegten Eindruck, was mich vermuten ließ, dass hier etliche Gärtner beschäftigt waren, die alles in Schuss hielten.
Die Führung ging weiter und wir gelangten über eine steinerne Treppe in das erste Obergeschoss. „Hier befanden sich früher die Wohn- und Schlafräume der Schlossherren“, fuhr Paula fort.
Die Decken waren niedrig und ebenso wie die Wände mit dunklem Holz vertäfelt. Die Atmosphäre im Inneren dieser Räume war fast schon erdrückend, trotz des schönen Wetters draußen.
„… und hier ist die Bibliothek. Etwa vierzigtausend Bücher aus allen möglichen Epochen, teilweise auch sehr wertvolle Stücke, werden hier aufbewahrt. Die Kollegen sind gerade dabei, alles zu katalogisieren.“
Interessiert horchte ich auf. Hier befand sich also mein künftiges Einsatzgebiet. Ich konnte es kaum erwarten, mich in die Arbeit zu stürzen und war schon gespannt, was mich hinter diesen mächtigen Türen erwarten würde.
„Momentan finden hier allerdings dringend notwendige Restaurierungsarbeiten statt, weshalb dieser Bereich zurzeit für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Ich bitte um Ihr Verständnis.“
Ein wenig enttäuscht warf ich einen Blick auf das Schild mit der Aufschrift „Betreten verboten“. Meine Neugier musste wohl noch eine Weile gezügelt werden.
Die Gruppe ging weiter. Paula wusste zu jedem Raum eine kleine Anekdote zu erzählen, was ich sehr schön fand. „Langsam nähern wir uns nun dem Ende unserer Besichtigungstour“, hörte ich sie sagen.
Wir betraten den früheren Speisesaal, in dessen Mitte ein riesiger, mit kostbarem Silbergeschirr gedeckter Esstisch aus Holz stand. Um die Tafel herum befand sich eine Absperrung, die wohl dazu dienen sollte, die Besucher am Berühren der Ausstellungsstücke zu hindern.
Paula zeigte auf die Decke. „Bitte beachten Sie auch diesen bemerkenswerten Kronleuchter. Er bietet Platz für etwa zweihundert Kerzen, die alle per Hand angezündet werden müssen. Sie können sich vorstellen, dass diese Prozedur ziemlich lange gedauert hat und deshalb nur zu einigen wenigen Anlässen durchgeführt wurde.“ Alle sahen interessiert nach oben und Paula blinzelte mir kurz zu, bevor sie fortfuhr. Sie wusste anscheinend genau, wie sie die Besucher vom Schloss und seinen Geschichten begeistern konnte.
„Dieses Schloss wird übrigens noch immer teilweise von den Eigentümern bewohnt. Die Wohnräume der Adelsfamilie befinden sich im oberen Stockwerk, welches nicht öffentlich zugänglich ist.“
Ich horchte auf. Die Schlossherren wohnten hier? Das war ja wirklich ungewöhnlich. Die Verwalterin hatte mir dies gegenüber gar nicht erwähnt, jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern. Ich fragte mich, ob ich den Earl dann auch bald persönlich kennenlernen würde. Bei dem Gedanken daran verspürte ich eine innere Anspannung und so etwas wie…Vorfreude.
Paula fuhr fort. „Der alte Earl of Greyborough ist vor Jahren bei einem tragischen Unfall gestorben.“ Sie zeigte auf das Gemälde eines sehr blassen Mannes mit ernstem Gesichtsausdruck.
„Er hinterließ seine Frau Mary, die man auf dem Bild daneben sehen kann. Sie lebt hier im Schloss, ebenso wie ihre beiden Söhne Drake und Marcus.“
Interessiert folgte ich Paulas Ausführungen. „Die Mitglieder der Adelsfamilie wohnen hier und kümmern sich auch um die Verwaltung. Man sieht sie allerdings nicht sehr oft in der Öffentlichkeit, meist nur bei offiziellen Veranstaltungen oder Wohltätigkeitsbällen. Die Söhne engagieren sich außerdem sehr für karitative Zwecke und spenden große Summen an diverse Hilfsorganisationen.“
Ich musste feststellen, dass ich mich offenbar nicht ausreichend über meine neuen Arbeitgeber informiert hatte. Dies sollte ich auf alle Fälle nachholen.
„Bevor wir gehen, dürfen Sie gerne noch einen Blick auf die kunstvollen Schnitzereien in den Wandvitrinen werfen. Die Sammlung wurde vom alten Earl, einem leidenschaftlichen Kunstsammler, über Jahre hinweg zusammengetragen. Sie ist von unschätzbarem Wert.“
Ich