Der Hölle so nah. Michael Bardon

Der Hölle so nah - Michael Bardon


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in meinem Kopf erzählen, von meiner Frau und davon, wie es zu dem Unglück kam.

      Charly, meine Frau, und ich waren zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren glücklich verheiratet. Wir genossen unsere kinderlose Ehe, unsere Zweisamkeit, unsere Unabhängigkeit, unseren wilden, exzessiven Sex in vollen Zügen.

      Sie mögen jetzt verständnislos die Nase rümpfen. Doch für meine Frau und für mich waren Kinder nie ein Thema. Wer braucht schon – entschuldigen Sie bitte diesen Vergleich! – eine schreiende Trompete, wenn er der sanften Musik einer Harfe zu lauschen vermag.

      Ich wollte meine Charly mit niemandem teilen, und meine geliebte Charly, wollte das - so glaubte ich jedenfalls - auch nicht.

      Aber ich greife gerade voraus, und das wollte ich nicht.

      Doch manchmal fällt mir das Denken ein klein wenig schwer, und ich habe Mühe, meine zerrissenen Gedanken in der richtigen Reihenfolge zu sortieren. Sie schwirren durch meinen Kopf wie lustige, kleine Wellensittiche. Schlagen wild mit den Flügeln, flattern aufgeregt umher und treiben mich so an den Rand des Wahnsinns.

      Das kommt - so denke ich zumeist - von dieser verteufelten Kugel in meinem Gehirn. Ja, sie steckt noch immer in mir! Sie ist ein Teil von mir geworden, so wie die Nacht vor meinen Augen ein Teil von mir geworden ist.

      Sie haben schon richtig verstanden. Ich bin blind und befinde mich in einem nicht enden wollenden Albtraum.

      Mein Körper ist so steif wie ein Stück Metall, und mein Gehör funktioniert leider auch nicht mehr so gut wie früher. Doch dafür hat mich das Schicksal mit widerlichen, nervtötenden Tönen gesegnet, die in der Lautstärke einer aufheulenden Motorsäge permanent in meinem Kopf herumkrakeelen.

      Ach, herrje, jetzt ist es schon wieder passiert, ich greife voraus und verderbe so die ganze Geschichte.

      Kommen wir also zurück zu dem Ausgangspunkt meiner kleinen Erzählung. Kommen wir zurück zu dem Projektil, das noch immer in meinem Kopf steckt …

      Wut, Verzweiflung und andere Gefühle

      Ich stand mitten im Raum, hörte, wie unsere Wohnungstür unter den brutalen Fußtritten erbebte. Ich hörte das Rufen der Polizeibeamten, die mich aufforderten, den aus französischer Eiche gefertigten Penthouse-Eingang zu öffnen. Und ich hörte das klägliche Gewinsel dieses staatlich anerkannten Versagers, der es gewagt hatte, meine Frau zu verführen.

      Ich hatte ihn kastriert! Hatte ihm seine hühnereigroßen Hoden mit dem Zimmermannshammer zerquetscht.

      Nie wieder würde dieser Blindgänger einer vergebenen Frau Flausen in den Kopf setzten oder einen seiner perfiden Pläne schmieden.

      Der Kastrierte war einmal mein bester Freund. Dank ihm hatte ich mich zum moralischen Wächter aller aufgeschwungen. War zum Robin Hood der Betrogenen geworden.

      Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick über die Fotografien an der mit Seidentapete bespannten Wohnzimmerwand gleiten. Nahm ein letztes Mal die Noblesse, die Anmut und die Sinnlichkeit meiner Charly in mich auf.

      Im Eingangsbereich, hinter mir, zersplitterte das teure Holz der massiven Wohnungstür. Schreie gellten durch den Raum, stürmten in einer höllischen Intensität auf mich ein. Die Achterbahn meines Lebens holte noch einmal ordentlich Schwung. Nahm ein letztes Mal Fahrt auf, bevor ich mich von ihr hinunter in den Tod stürzen würde.

      Wut, Hass, Enttäuschung, Unglaube, Verzweiflung!

      Eine Flut aus gegensätzlichen Empfindungen stürzte über mich herein, begrub mich unter sich, versuchte mich zu ersticken. Meine Hand zitterte leicht, als ich den Lauf der kleinen Halbautomatik, Winni-Opas Halbautomatik, gegen meine Schläfe presste. Das Spiel des Lebens war zu Ende. Das Rad der Zeit stand für immer still.

      Wer Winni-Opa ist, wollen Sie wissen? Warten Sie es ab! Er spielt eine Rolle in dieser Geschichte.

      Ich war stets volles Risiko gegangen. Hatte tagtäglich Schlachten geschlagen und war als Sieger daraus hervorgegangen.

      Doch dieses Spiel hier, das Spiel meines Herzens, hatte ich verloren. Die einzige Schlacht, das einzige Gefecht, das mir je etwas bedeutet hatte, war zu einem Fiasko, zu einer Farce ausgeartet.

      »Charly, warum …? Warum hast du uns das angetan?«, hauchte ich beinahe tonlos.

      Ich hob den weißen seidenen Schal, den ich fest umklammert hielt. Ein letztes Mal noch wollte ich den Duft, das liebliche Parfum meiner toten Frau in der Nase spüren.

      Dann holte ich noch einmal tief Luft, starrte das Bild meiner Frau an und …

      »Waffe fallen lassen! Lassen Sie sofort die Waffe fallen!«

      Irritiert blinzelte ich mit den Augenlidern. Versuchte das Gehörte geistig aufzuarbeiten.

      »Sie sollen die verdammte Waffe fallen lassen! Letzte Warnung … nehmen Sie endlich die Pistole herunter!«, schrie eine hysterische Männerstimme in meinem Rücken.

      Verwunderung, Erstaunen, Erheiterung!

      Ja, ich gebe es offen zu. Bei den Worten des offenkundig überforderten Polizeibeamten musste ich kurz lächeln. Mit was wollte der Holzkopf mich denn bedrohen? Mit seiner Dienstwaffe? Mit dem Tode?

      Ein zweiter Polizist schob sich vorsichtig in mein Sichtfeld. Auf seiner Stirn glänzten unzählige Schweißtropfen, die, als kleines Rinnsal über seine rechte Schläfe laufend, unter dem Hemdkragen verschwanden. Seine mattschwarze Pistole deutete anklagend in meine Richtung, während seine Zunge dümmlich zwischen den feisten Lippen hervorlugte.

      Der Kerl sah aus wie ein waschechter Vollidiot und untermauerte durch sein affenartiges Aussehen eindrucksvoll die Evolutionstheorie.

      »Ja, Mann, dein Spiel ist aus«, grunzte er, während seine zusammengewachsenen Augenbrauen hektisch vor sich hin zuckten.

      Seine Worte hallten wie ein Donnerschlag in meinem Kopf. Sie erzeugten ein hohles Echo, das durch meinen gesamten Körper zu wandern schien.

       Dein Spiel ist aus … Dein Spiel ist aus … Dein Spiel ist aus …

      Ob ich wollte oder nicht: Ich musste diesem in einer Polizeiuniform steckenden Primaten Recht geben. Mein Spiel war aus! Meine Lebensuhr rückte gelassen und unaufhaltsam der Stunde null entgegen.

      High Noon … wie in dem gleichnamigen Western mit Gary Cooper und Grace Kelly.

      Ich hatte schon viel über den Tod gelesen. Hatte mich in den einsamsten Momenten meines Lebens intensiv mit ihm befasst. Würde ich auch ein gleißendes Licht erblicken, das mich mit seiner Wärme, mit seiner Herrlichkeit in eine neue, bessere Daseinsform geleitete?

      Würden meine Erinnerungen, die Bilder meines gesamten Lebens, in Sekundenschnelle als eine Art Kinofilm vor meinem geistigen Auge ablaufen?

      Würde es sehr weh tun, wenn die Kugel durch meine Schädeldecke drang und mein Gehirn in Fetzen riss?

      Ach ja. So viele Fragen, so wenige Antworten.

      »Allerletzte Warnung! Nehmen Sie endlich die Waffe herunter. Glauben Sie mir, Sie haben keine Chance zu entkommen«, donnerte nun wieder die Stimme in meinem Rücken.

      Doch, ich hatte eine Chance. Der Typ hinter mir war wohl genauso doof wie Mister Affengesicht, der seitlich versetzt vor mir stand und noch immer mit seiner Waffe auf mich zielte.

      Ruhe, Frieden, keine Zweifel …

      Mein Blick wanderte zurück zu der Fotografie meiner einst so geliebten Frau. Würde sie an der Himmelspforte auf mich warten? Mich wie früher zärtlich in die Arme schließen, mir verzeihen? Oder besser noch: verstehen, welche Beweggründe mich zu dieser Tat geradezu getrieben hatten?

      Eine weitere Frage eroberte mein Bewusstsein, ließ mich kurz innehalten, raubte mir den Atem.

      Konnte ich ihr überhaupt verzeihen?

      Ihr egoistisches, widernatürliches


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