Der Weg des Bösen. Hannes Wildecker
macht er hier in diesem Büro?“
„Ich hatte ihn eigentlich nur für das Büro gedacht. Für meine Wohnung habe ich noch einen. Mal sehen, wo ich ihn hinstellen kann“, sagte er nachdenklich.
Overbeck sah sich im Raum um, der im Vergleich zu den meisten Büros im Präsidium das doppelte Volumen hatte.
„Ach ja, dort hinten in der Ecke, das wäre ein guter Platz. Allerdings nur, wenn du nichts dagegen hast?“
Overbeck sah Leni fragend an.
„Nee, nee, mach du nur“, antwortete Leni irritiert und sah ihm dabei zu, als er die Puppe, der man ihr Gewicht nicht ansah durch den Raum zog. Dann stemmte er sich mit dem Rücken gegen den Schrank, der in der von ihm ausgewählten Ecke stand, und schob ihn soweit zur Seite, wie er glaubte dass es nötig sei. Dann stellte er die Puppe, die etwa seine Körpergröße hatte, in der Ecke ab und trat ein paar Schritte zurück. Er schien zufrieden, denn er nickte und drehte sich lächeln zu Leni um.
„Ist ein angenehmer Zeitgenosse“, sagte er lachend. „Er ist stumm und verschwiegen. Und er schlägt nicht zurück.“
„Jetzt sag mir doch mal, wozu der gut ist? Hast du vor, hier in diesem Raum zu trainieren?“
„Nein, wo denkst du hin. Trainieren tue ich in einem Dojo in der Stadt. Das heißt, ich muss mich erst nach einem solchen umsehen. Hatte noch keine Gelegenheit dazu.“ Overbeck streichelte Billy über die rechte Wange.
„Dojo?“, fragte Leni gedehnt.
„Dojo nennt man einen Trainingsraum für asiatische Kampfsportarten. Du kannst natürlich auch Trainingsraum dazu sagen. Aber wenn man Traditionen im Kampfsport pflegt, dann macht man sich auch die entsprechenden Namen und Ausdrücke zu Eigen. Das gilt für jede Technik, die Räumlichkeit und deine Lehrer.“
„Wer ist dein Lehrer?“, wollte Leni wissen. Sie wollte eigentlich mehr wissen von Overbeck und dem, was er tat. Es faszinierte sie. Kampfsport, dachte sie. Müsste ich auch mal drüber nachdenken.
„Ich unterrichte selbst“, sagte Overbeck und es klang ohne Angabe, einfach als Feststellung. „In Ludwigshafen hatte ich ein eigenes Dojo. Gesponsert zum Teil. Anders geht das nicht. Vielleicht ergibt sich ja hier auch die Möglichkeit dazu. Wir werden sehen.“
„Und diese Puppe, die haust du dann windelweich?“
Overbeck antwortete nicht. Leni, die links neben ihm stand, sah plötzlich, wie sein rechtes Bein in die Höhe schnellte und er ein wenig in der Hüfte einknickte. Dann traf der Spann seines Fußes den Schläfenbereich der Puppe, die seitlich wegkippte und auf den Boden schlug. Overbeck stand da, als sei nichts gewesen.
„Ich muss sie noch befestigen“, sagte er schließlich. „Ein Haken an der Decke und ein Seil, das ich am Kopf befestigen kann. Dann fällt sie nicht mehr um.“
Leni stand mit weitgeöffnetem Mund da und sah ihren neuen Kollegen staunend an. Vor ihr stand ein junger drahtiger Mann, in den Hüften schmal, die Schultern breit, die unter den kurzen Hemdsärmeln hervorlugenden Unterarme waren sehnig und muskulös.
„Was … was war das?“
„Das war ein Mawashi-Geri, um es genau zu sagen, das war ein Mawashi-Geri Jodan, ein Halbkreistritt in den oberen Körperbereich.“
„Hä?“ Leni verstand nichts.
„Ich sagte doch eben: Jede Technik hat ihren Namen. Wenn man den Sport gerne macht, identifiziert man sich mit ihm, seiner Geschichte, mit allem eben. Ich kenne Kampfsportler, die leben in ihren vier Wänden sogar auf asiatische Art. Mit Räucherstäbchen, Teezeremonie und allem, was dazugehört.“
„Und du?“
„Ich nicht.“ Overbeck hob die Puppe wieder auf und stellte sie an ihren Platz. Dann richtete er seine Haare, denn bei dem schnellen Fußtritt hatte sich das Band, das den Zopf zusammenhielt, verschoben.
„Ich lebe den Sport, nicht die Tradition. Das reicht.“
„Vielleicht … vielleicht kannst du mir ja mal einige dieser Techniken beibringen?“
Overbeck musste Leni die Antwort schuldig bleiben, denn die Tür öffnete sich und Krauss trat erneut ins Zimmer.
„Machen Sie sich bereit, meine Herrschaften. Es gibt Arbeit. Herr Overbeck, für Sie ist das eine gute Gelegenheit, einen Teil unseres wunderschönen Hunsrücks kennenzulernen. Wir haben eine Leichensache. In Hermeskeil. Ein Mann. Erschlagen. Der Kollege, der mich anrief, schien schockiert. Eine Identifizierung sei noch nicht möglich gewesen. Der Kopf und das Gesicht des Toten seien bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Der Tote wurde am Rande der Stadt aufgefunden. Funken Sie die Kollegen unterwegs an, sie werden ihnen den Weg beschreiben.“
„Die Spurensicherung?“, fragte Leni, während sie ihre Pistole ins Halfter unter der Achsel schob.
„Peters ist verständigt. Er ist mit seinem Team schon auf dem Weg.“
„Gut, wir fahren über Forstenau“ sagte Leni. „Habe dort noch was zu erledigen.“
„Forstenau? Weit von hier?“ Overbeck sah Leni fragend an.
„Nicht so weit wie Hermeskeil. Zwanzig Minuten Fahrzeit. Wir nehmen meinen Wagen mit. Du kannst mit Peters zurückfahren.“
„Deinen Wagen? Was soll das? Mit Peters zurückfahren? Wir fahren zum Tatort.“
„Ich weiß“, sagte Leni trocken. „Aber ich möchte mir heute Abend eine unnötige Fahrt nach Trier zurück ersparen. Ach ja“, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln um die Lippen „Ich wohne in Forstenau. Hatte ich das nicht erwähnt?“
„Ich glaube, wir sind da. Dort scheint es zu sein.“
Leni zeigte nach vorne durch die Windschutzscheibe und Overbeck nickte.
„Kein Menschenauflauf, Gott sei Dank. Hat sich wahrscheinlich noch nicht bis in die Stadt herumgesprochen, dass hier etwas passiert ist.“
Das Haus lag einen guten Kilometer hinter der Stadt Hermeskeil, idyllisch gelegen, wie Overbeck für sich feststellte. Ein massives, zweistöckiges Gebäude mit einem angrenzenden Schuppen, der bis zur Decke mit Brennholz angefüllt war.
„Welcher Sterbliche erhält hier eine Baugenehmigung?“, fragte Overbeck, doch er erhielt keine Antwort.
„Die Kollegen.“ Leni zeigte auf die rechte Seite des Anwesens. In der Nähe des Schuppens standen ein blauweißer Dienstwagen und davor ein Notarztwagen. Auch das Fahrzeug der Spurensicherung stand dort. Heinz Peters war nicht zu sehen.
Overbeck parkte sein Fahrzeug neben dem der Kollegen. Sie stiegen aus und hörten Stimmen, die von der Rückseite des Hauses kamen. Eine davon erkannte Leni. Es war Heinz Peters, der, auf welchen Wegen auch immer, vor ihnen angekommen war.
Als Peters die beiden ankommen sah, erhob er sich aus seiner gebeugten Haltung und dehnte mit in die Hüfte gestemmten Händen seine Wirbelsäule. „Hallo Leni“, stöhnte er und sah fragend auf Overbeck.
„Das ist Overbeck, mein neuer Kollege und … Chef. Was genau ist passiert?“
Peters nickte Overbeck zu und deutete entschuldigend auf seine behandschuhte Hand. „Angenehm. Peters. Unter Kollegen Heinz.“ Er sah Overbeck fragend an. Der nahm das Angebot lächelnd zur Kenntnis. „Overbeck“, sagte er kurz und bahnte sich den Weg durch zwei uniformierte Kollegen nach vorne.
„Overbeck?“ Peters sah Leni fragend an.
Sie zuckte die Achseln. „Overbeck. Scheint sein Vor- und Familienname zu sein.“
„Und nun?“
„Kannst ihn ruhig duzen. Er hat es dir angeboten.“
„Weil er Overbeck sagte?“
„Genau.“
„Aber er muss doch einen Vornamen haben. Jeder Mensch hat einen Vornamen.“