Der Weg des Bösen. Hannes Wildecker
Der Hund bellte jetzt pausenlos. Als Maggie die Tür erreichte, verließen sie die Sinne und ihr zierlicher Körper fiel auf die Eingangsstufen. Das Bellen des Hundes schien nicht zu enden. Es rettete Maggie das Leben.
Kapitel 3
Gegenwart
Wie in Trance blickte Maggie aus dem Fenster des ICE. Die Gegend flog nur so an ihr vorbei und die auftauchenden Bäume und Masten entlang der Bahnstrecke ließen ihr Spiegelbild in schnellem Wechsel auftauchen und verschwinden. Kurz konzentrierte sie sich auf ihr Gesicht im teilweise beschlagenen Fenster und fuhr sich mit der Hand durch die schulterlangen mittelblonden Haare. Sie schüttelte kurz den Kopf und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht, um danach etwas näher an die Glasscheibe zu rücken. So gut es ging betrachtete sie ihr Spiegelbild, das schmale Gesicht mit den hohen Backenknochen, das ihr etwas Exotisches verlieh. Sie versuchte, in ihre Augen zu sehen, doch die Konturen ihres Kopfes verschwammen in der Dunkelheit vor ihren Augen.
Maggie sah auf die Anzeigetafel über der Verbindungstür des Waggons. 175 km/h war dort zu lesen. Sie schaute auf die Uhr. In wenigen Minuten würde sie am Ziel sein. Dort wo sie hinwollte, hielt dieser Zug nicht. Sie musste auf andere Weise dorthin gelangen. Wie, das war ihr gleich. Mit einem Bus, einem Taxi, per Anhalter. Es gab nicht mehr viel auf dieser Erde, was sie interessierte. Alles hatte sich auf eines konzentriert: Auf ihre Rache. Sie werden bezahlen für das, was sie meinen Eltern und mir angetan haben. Alle vier. Und wenn es vollbracht war, dann wollte auch sie nicht mehr leben.
„Sie fahren auch nach Trier?“
Maggie erschrak und erst jetzt nahm sie die Anwesenheit des Mannes ihr gegenüber bewusst wahr. Ein junger, adrett gekleideter Mann, Maggie schätzte ihn auf höchstens Zwanzig, sah sie freundlich abwartend an.
Sie überlegte kurz, ob sie den Mann und seine Frage ignorieren sollte. Sie entschloss sich dagegen und gab eine knappe Antwort.
„Ja, nach Trier. Von dort aus weiter.“
„Zu einer der Ortschaften, die man heutzutage nicht mehr mit der Bahn erreichen kann“, stellte der Mann fest und nickte verstehend. „Mir geht es ebenso. Ich muss nach Hermeskeil. Kann nur hoffen, dass um diese Zeit noch ein Bus fährt.“
„Wahrscheinlich nicht.“
„Was meinen Sie? Kein Bus?“
Maggie schüttelte den Kopf und sah durch das beschlagene Fenster auf die tief hängenden Wolken, dorthin, wo sie ihre Lieben vermutete.
Wir werden uns wiedersehen, sprach sie lautlos vor sich hin. Wenn alles vorüber ist, werden wir uns wiedersehen. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen einen Plan zurechtgelegt. Nichts durfte schiefgehen. Sie würde sich Zeit lassen. Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr? Zeit spielte für sie keine Rolle mehr. Ihr Leben war bereits zu Ende gelebt. Was bedeutete da schon Zeit?
„Wir sind da“, hörte sie den Mann gegenüber sagen. Seine Anwesenheit hatte sie bereits wieder ignoriert.
Maggie nickte und im gleichen Moment ging ein leichter Ruck durch den Zug. Sie hatte nicht wahrgenommen, dass sich draußen die weite Landschaft zunehmend in ein Häusermeer verwandelte und der Zug schließlich in den Bahnhof einlief.
Die Fahrgäste erhoben sich und eilten an ihr vorbei, den Ausgängen entgegen. Türen schlugen, Pfiffe ertönten. Eine weibliche Stimme verkündete monoton-freundlich, dass man sich nun in Trier, der ältesten Stadt Deutschlands befände.
Maggie war an ihrem Ziel angekommen, an ihrem vorläufigen Ziel. Langsam erhob auch sie sich und der Mann ihr gegenüber fragte: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Ihren Koffer?“
Sie schüttelte wortlos den Kopf und verließ das Abteil und den Zug, ohne den Mann weiter zu beachten, die Handtasche mit ihrem gefährlichen Inhalt fest an ihre Brust pressend. Vor dem Bahnhof rief sie nach einem Taxi. „Nach Hermeskeil. Zu einer Gaststätte, die noch geöffnet hat. Wo man übernachten kann.“
Der Mann aus dem Zug war aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden.
Das Taxi hielt direkt vor dem Eingang der Kneipe. Im Inneren brannte noch Licht. Es begann zu nieseln. Der Regen fühlte sich warm an. Das Jahr hatte nicht gerade vielversprechend begonnen. Mit Eiseskälte und sehr viel Schnee. Danach war die Temperatur angestiegen und es hatte ein paar Tage geregnet. In den Tälern hatte es Hochwasser gegeben. Dann kam neuer Schnee. Und die Angst vor erneutem Hochwasser stieg. Doch schließlich brach der Sommer herein mit allem, was er zu bieten hatte. Hitze, Trockenheit, Dürre. Die Bauern bangten um ihre Ernte und flehten um Regen. Nun schienen ihre Gebete erhört.
„Mehr kann ich Ihnen nicht bieten“, sagte der mehr als korpulente Taxifahrer undefinierbaren Alters mit einem Wink seines kahlgeschorenen Kopfes auf die diffus erleuchtete Gaststätte und zündete sich eine Zigarette an. Sofort breitete sich ein beißender Geruch im Inneren des Fahrzeuges aus und Maggie begann zu husten.
„Entschuldigen Sie.“ Der Taxifahrer öffnete die Fahrertür und stieg aus, was ihm offensichtlich aufgrund seines Körperumfangs nicht leichtfiel. Er ging um das Fahrzeug herum und öffnete die Beifahrertür.
„Es ist die einzige Kneipe, die noch aufhaben dürfte“, sagte er schulterzuckend. „Ist zwar eine kleine Stadt, aber wenn die Leute am anderen Tag arbeiten müssen … Ist nicht mehr so wie früher.“
Er schaute auf seine Armbanduhr.
„Dreiundzwanzig Uhr fünfzehn“, sagte er. „Zweiunddreißig Euro.“ Er hielt die Innenseite seiner klobigen rechten Hand nach vorne. „Brauchen Sie eine Quittung?“
Maggie schüttelte wortlos den Kopf und bezahlte den Fahrer, der sich daraufhin schwer atmend hinter den Fahrersitz quälte und gemächlich davonfuhr.
Zum alten Hermeskeiler flackerte es von einem offensichtlich defekten Transparent an der Hauswand. Maggie zögerte, doch dann gab sie sich einen Ruck und drückte die schmiedeeiserne Klinke der Gaststättentür nach unten. Ein Geruch nach Zigaretten und abgestandenem Alkohol nahm ihr fast den Atem. Sie starrte in die erstaunten glasigen Augen dreier Männer, die an einem Tisch sitzend, bei ihrem Eintreten die müden Köpfe hoben.
„Es wird langsam Zeit, dass ihr verschwindet. Schleicht euch! Wie man sich nur so zurichten kann.“ Maggie sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Hinter der Theke stand ein kräftiger Mann mit schütterem rotbraunem Haar, offensichtlich der Wirt, und schaute ebenso erstaunt, als sich in seine Aufforderung die Tür öffnete und die Frau eintrat.
„So spät noch auf den hübschen Beinen, junge Frau?“, kam es über seine wulstigen Lippen über der kräftigen, leicht gebogenen Nase und Maggie fühlte den abtastenden Blick des Wirtes, der über ihre hellblaue Bluse mit der darübergezogenen dunkelblauen wollenen Weste, die enganliegenden Jeans und die braunen Straßenschuhe glitt.
„Sie sind sicher, dass Sie sich nicht verlaufen haben?“
Maggie antwortete nicht. Sie sah sich in der Gaststätte um und fixierte angewidert die besoffenen Männer. Einschließlich des Wirts ordnete sie die Gestalten in die gleiche Altersklasse ein. Anfang fünfzig, dachte sie.
„Ich bin Franz Leonhard, der Gastwirt“, sagte der stoppelbärtige Mann mit den lichten rotbraunen Haaren hinter der Theke und zündete sich eine filterlose Zigarette an. „Wollen Sie ein Zimmer? Es ist schon spät. Haben Sie kein Gepäck?“
Maggie überhörte die Fragen.
„Ist das die einzige Gaststätte hier?“
„Ist Ihnen wohl nicht gut genug? Nein, ist es nicht. Aber die anderen haben um diese Zeit alle geschlossen. Doch keine Sorge, junge Frau, die Zimmer sind sauber. Agnes … Agnes ist meine Frau … versteht da keinen Spaß, müssen Sie wissen.“
Franz Leonhard legte seine Zigarette in einem Aschenbecher ab und kam hinter der Theke hervor. Er baute sich vor den vier Gestalten auf, die wie ein jämmerliches Häuflein Elend in den Seilen hingen. Den halbvollen Biergläsern auf dem billigen Kneipentisch konnte man entnehmen, dass nichts mehr ging. Sie