Der Weg des Bösen. Hannes Wildecker

Der Weg des Bösen - Hannes Wildecker


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hinein. Ihre Hand suchte nach einem Fach an der Innenseite und fühlte ein Stück Papier, den letzten Gruß ihrer Mutter. Ihre zarten Finger ballten sich zur Faust und ohne es wahrzunehmen, zerknüllten sie das, was sie umklammerten, als sie die Erinnerungen überfielen.

      Kapitel 2

       Hermeskeil 1994

      Jerry Thompson stand am Fenster des Schlafzimmers, das er sich mit Conny Heidfeld teilte und blickte über die Wiesen und die Dächer der Stadt bis zum Horizont. Eigentlich sah er die Wiesen nicht, denn die Dunkelheit war bereits seit einigen Stunden hereingebrochen. Doch er musste sie nicht sehen, er wusste, dass sie da waren. Er sah ihr Grün mit geschlossenen Augen und er roch ihren Duft, der nach dem Mähen durch die schweren Traktoren mit ihren riesigen Mähwerken noch intensiver geworden war.

      Der Abend lag schwer und schwül über der Kleinstadt. Dunkle wassergeschwängerte Wolken zogen von Westen her über den Osburger Hochwald und das dumpfe Grollen des nahenden Donners in der Ferne kündigte das Ende der Hitzeperiode und den lang ersehnen Regenguss an.

      Das Haus der Thompsons befand sich am Ende der Stadt, einige Minuten Fußmarsch von den letzten Häusern der Stadt entfernt, am Rande eines dichten jungen Fichtenhains. Ohne die Nachbarschaft weiterer Häuser lag das kleine Anwesen gespenstig im Dunkel der Nacht. Die kleine Buchenhecke verstärkte den Eindruck der Verlassenheit noch um einiges. Daran änderte auch nichts die Sportanlage, die verlassen hundert Meter weiter, zur Hauptstraße hin, großzügig angelegt war.

      Das nächste Haus lag knapp einen Kilometer weiter entfernt am Stadtrand. Ein landwirtschaftliches Gehöft, zu dem von den Thompsons aus ein kleiner Feldweg durch die bestellten Äcker führte.

      Jerry Thompsons kräftiger Brustkorb hob und senkte sich, bevor er noch einmal einen Blick in den mannshohen Spiegel in der mittleren Tür des Kleiderschranks warf.

      „Dann wollen wir mal“, rief er seinem Spiegelbild zu und rückte seine dunkelblaue Krawatte unter der blauen Uniformjacke zurecht. Dann drehte er sich entschlossen um, warf sich den Riemen der schweren Reisetasche über die Schulter und stieg die Treppe der Balustrade hinab ins Wohnzimmer.

      Conny Heidfeld erwartete ihn am Ende der Treppe und sah ihm nachdenklich entgegen. Der Moment der Trennung war gekommen. In den nächsten Wochen würde sie alleine sein, alleine in der Abgeschiedenheit, alleine mit Tochter Maggie, die sie Meg nannten, obwohl Meg eigentlich die Abkürzung von Megan war. Sie lächelte, doch ein Hauch von Traurigkeit legte sich um ihre vollen sinnlichen Lippen. Ihr blondes glattes schulterlanges Haar fiel nach hinten über und Jerry blickte in das Gesicht, das er so liebte. Zart und zerbrechlich erschien ihm Conny heute. Ihr Gesicht war blass und ihre blauen Augen erschienen ihm in dieser Blässe wie zwei Edelsteine.

      Jerry sah auf seine Uhr auf dem kräftigen braungebrannten Unterarm und als er bei ihr angekommen war, zog er Conny zärtlich zu sich heran.

      „Danke für die schöne Zeit, Liebes, aber es wird langsam Zeit für mich. Es ist schon spät. Das Manöver beginnt in aller Frühe und wenn …“

      „Und wenn du zu spät kommst, kann der Krieg nicht pünktlich beginnen, ich weiß“, unterbrach sie ihn leise und schmiegte sich an ihn. Sie gab Jerry einen flüchtigen Kuss, wobei ihr die langen blonden Haare erneut weit nach hinten über die Schultern fielen.

      Er sah in ihre blauen Augen, die er so liebte, er spürte ihre zarten Oberarme unter seinen starken Händen. Sie zitterte leicht. Es war nicht die Kälte. Dann entzog sie sich seinen Armen.

      „Wirst du lange fort sein? Das Manöver, wann wird es beendet sein?“, fragte sie und Enttäuschung schwang in jedem Wort in ihrer Stimme mit.

      „So an die zwei Wochen musst du schon ohne mich auskommen“, erwiderte Jerry. „Aber wir fahren ja nicht raus in die weite Welt. Wir werden den Krieg in und um Baumholder führen, immer in der Nähe meiner Kaserne.“

      Er sagte meiner Kaserne. Er sagte es, wie er es fühlte. Conny wusste, dass Jerry Soldat durch und durch war. Nach der Wehrpflicht in den USA hatte er sich freiwillig gemeldet um in Deutschland stationiert zu werden. In Baumholder wurde er kaserniert und auf der Karriereleiter stieg er Sprosse um Sprosse empor.

      Sein Dienstgrad war Captain. Die Beförderung zum Major stand bevor. Und es würde weitergehen. Jerry liebte das Soldatenleben und er liebte Conny. Das war sein Leben und so sollte es auch bleiben. Sie würde ihn nicht in ein Familienleben herkömmlicher Art und Weise drängen. Nicht, solange sie so zu leben vermochten.

      Conny war stolz auf Jerry. Sie waren schon über vierzehn -nein, sie überlegte kurz- über fünfzehn Jahre miteinander liiert. Sie hatten sich kennengelernt, als sie noch Sekretärin der überörtlichen Verwaltung gewesen war. Jerry hatte damals mit den zuständigen Ressortleitern über die Häufigkeit von Flugstunden der Düsenjets über diesem Teil des Hunsrücks verhandelt. Solche Treffen gab es immer wieder. Die Bevölkerung beschwerte sich über den unzumutbaren Fluglärm, der Bürgermeister setzte sich mit den Militärbehörden auseinander und für einige Zeit schien es, als würden die stählernen Vögel die Region tatsächlich meiden. Doch irgendwann ging das Spiel wieder von vorne los. Die Bevölkerung beschwerte sich, der Bürgermeister intervenierte, das amerikanische Militär gab klein bei. Das gleiche Problem gab es mit dem deutschen Militär, der Bundeswehr. Eine unendliche Geschichte.

      Jerry hatte man stets in schlichtender Mission in den Hunsrück ausgesandt. Als er das erste Mal das Vorzimmer des Bürgermeisters betrat, traf es ihn wie ein Blitz und Conny ging es ebenso. Es war Liebe auf den ersten Blick. Noch am selben Abend hatte Jerry Conny ausgeführt und seit jenem Tag waren sie ein unzertrennliches Paar. Geheiratet hatten sie nie, obwohl sie eine gemeinsame Tochter hatten: Maggie. Sie war zwölf.

      Eine Ehe? Warum eigentlich nicht? dachte Conny in stillen Momenten und gab sich danach selbst die Antwort: Es ist uns nicht wichtig. Wir gehören zusammen, auch ohne Trauschein. Aber vielleicht wird er mich ja irgendwann fragen …

      „Wenn es keiner merkt, werde ich dich von meinem Feldtelefon aus anrufen“, hörte sie wie durch einen Schleier seine Stimme, die sie in die Gegenwart zurückrief.“

      „Feldtelefon? So etwas gibt es heute noch“, lachte Conny und legte ihre Stirn in Falten. „Du nimmst mich auf den Arm!“

      „Nein, nein, das war doch nur ein Scherz“, lachte nun auch Jerry. „Ich werde mich über mein Handy melden. Öfter, als dir lieb sein wird.“

      Jerry knöpfte die Jacke seiner Uniform zu und zog die Krawatte gerade. Conny sah ihm dabei zu und betrachtete ihn lächelnd von Kopf bis Fuß.

      Eine stolze Erscheinung, stellte sie wieder einmal fest. Jerry war über einen Kopf größer als sie selbst und war mit Muskeln bepackt, wie es die meisten US-Soldaten waren, die dem Sport frönten, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Und dennoch konnte er zärtlich sein, wenn sie sich dabei auch manchmal allzu zerbrechlich vorkam, wenn er seine Arme um sie schlang.

      Sie mochte es, wenn er eine Strähne seines schwarzen Haupthaares mit den Fingern der rechten Hand durchforstete, um sich mit der anderen seine Dienstmütze aufzusetzen und darauf zu achten, dass gerade diese Strähne darunter verschwand.

      „Gib Meg einen Kuss von mir, morgen, wenn sie aufwacht und ihren Vater vermisst“, sagte Jerry plötzlich entschlossen und packte seine Reisetasche aus dunkelbraunem dickem Stoff. Früher, als er noch in der Ausbildungen war und auch später als unterer Dienstgrad hatte er immer einen Seesack mit sich herumgeschleppt. Mit einem Ruck hob er die Tasche an und warf den Trageriemen über seine Schulter. „Zwei Wochen gehen schnell vorüber. Mach`s gut, Liebes.“

      Jerry beugte sich nach vorne und zog Conny zu sich heran, um sie ein letztes Mal zu küssen, doch er verharrte in der gebeugten Stellung. Etwas war plötzlich anders. Es war Conny, die in einen Armen erstarrte, es waren ihre aufgerissenen Augen, die an ihm vorbeisahen, als habe sie den Teufel gesehen.

      Jerrys Kopf bewegte sich langsam in die Richtung, in die Conny mit starrem Blick sah und sein Atem stockte. Er hatte manch gefährliche Situation während seiner Militärzeit erlebt.


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