Der Weg des Bösen. Hannes Wildecker
Dort hatten sie Waffen. Griffbreit. Geladen. Sie spürten das kalte Eisen, es machte sie stark.
Manches Handgemenge hatte er auch in seiner Heimat zu seinen Gunsten bestritten. Da ging es meist um Frauen. Das war lange her, lange vor Conny. Nie ging er Problemen oder Aggressionen aus dem Weg. Darauf war er gedrillt worden, es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Heute war es anders. Er hatte keine Waffe in der Hand. Waffen hatten die anderen. Die, die er nicht hatte kommen hören. Die nun in seiner Wohnung standen. Bewaffnet. Vier an der Zahl. Ihre Gesichter bedeckten Wollmützen mit Sehschlitzen.
Jerry erfasste die Gestalten mit einem Blick. Soldaten waren es keine. Wären es Soldaten gewesen, er hätte es gerochen. Er konnte Soldaten riechen, darauf war er gedrillt. Das hier waren keine. Das bestätigte auch ihre Kleidung. Normale Straßenkleidung, dachte er. Einbrecher, Räuber. Ein Überfall. Sie wollten sein Geld. So musste es sein.
„Auf den Boden, Alter! Und die da auch!“, schrie plötzlich der, der am nächsten zu ihnen stand und offensichtlich der Anführer war. „Und keine krummen Sachen! Vergiss alles, was dir dein Militär beigebracht hat. Es wird dir nichts nützen!“
Jerry Thompson richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf und schob mit einer starken Armbewegung Conny hinter sich, wobei er sie mit seinem breiten Körper fast vollends verdeckte. Er sah in das Gesicht des Sprechers und starrte in ausdruckslose Augen. Sie waren grau und eiskalt.
„Was wollt Ihr? Geld? Wertsachen?“, versuchte Jerry die Situation von vorneherein zu entschärfen, indem er Bereitwilligkeit zu demonstrieren versuchte. Seine Gedanken überschlugen sich. Conny! Ihr durfte nichts geschehen. Und Maggie! Mein Gott, Meg! dachte er panisch. Ihre Tochter war oben, in ihrem Zimmer hinter der Balustrade. Er betete zu Gott, dass sie schliefe.
Mit einem Blick versuchte Jerry die Situation einzuschätzen. Vor ihm standen vier Männer, das konnte er anhand ihrer Kleidung und der Staturen feststellen. Alle trugen Wollmasken mit Sehschlitzen über dem Kopf und alle waren bewaffnet. Unterschiedlich bewaffnet.
Der ihm am nächsten Stehende war offensichtlich ihr Anführer. Er hatte eine Pistole in der Hand. Ein großes Kaliber, das konnte Jerry sofort erkennen, dafür hatte er ein Auge. Der Mann hinter ihm hatte einen Baseballschläger dabei und von dem Moment an, als der Anführer das erste Wort gesprochen hatte, klopfte er sich damit rhythmisch in die Handfläche. Jerry konnte sich sein provozierendes Grinsen unter der Maske förmlich vorstellen.
Der Anführer der Gruppe trat einen Schritt näher und wiederholte seine Aufforderung. Der Mann hinter ihm, derjenige, der den Baseballschläger in seinen Händen hielt, folgte ihm langsam.
„Ich sagte: auf den Boden!“, zischte der Anführer
„Was wollen Sie?“, fragte Jerry erneut und mit einem Mal wurde ihm die Situation erst so richtig deutlich. Hier standen vier fremde Männer in seiner Wohnung, bedrohten ihn und Conny mit ihren Waffen und er konnte nichts dagegen tun. Conny stand hinter ihm und hielt sich an seinen kräftigen Armen fest. Er spürte, wie sie zitterte.
Was wollten diese Männer? Ihn berauben? Nein, dann hätten Sie ihre Forderungen bereits gestellt. Seine Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Er hatte keine Feinde. Weder hier im Privatleben noch beim Militär. Das waren auch keine Soldaten, die da vor ihm standen. Soldaten sahen anders aus, auch ohne Uniform. Selbst wenn sie diese Masken trugen, konnte Jerry ihnen ansehen, ob es Soldaten waren. Soldaten gingen anders, Soldaten standen anders da. Soldaten verbreiteten eine Soldaten-Aura. Die dort vor ihm standen, das waren irgendwelche Galgenvögel, Verbrecher. Vielleicht waren sie geflohen. Aus irgendeinem Gefängnis? Jerry überlegte. Das nächste Gefängnis von hier aus befand sich 20 Kilometer entfernt. Er verwarf den Gedanken gleich wieder. Vier Personen, die gleichzeitig flüchten konnten? Wohl kaum.
Er kam nicht zu weiteren Überlegungen.
„Ich sagte: Auf den Boden!“, hörte er erneut die Stimme des Anführers und seine Gedanken jagten durch den Kopf. Er konnte nicht zulassen, dass Conny und seiner Maggie etwas zustößt. Er musste handeln. Und er handelte.
„Lauf weg!“, rief er und stieß Conny nach hinten weg, um gleichzeitig den Angriff nach vorne zu suchen. Während er seine Umhängetasche von sich warf, stürzte er mit gesenktem Kopf, gleich einem Football-Spieler, nach vorne und rammt ihn in den Magen des Anführers, der sofort in der Körpermitte abknickte und zu Boden ging. Seine Pistole polterte auf den Boden und Jerry setzte zu einem Hechtsprung nach der Waffe an.
Der Baseball-Schläger traf ihn mitten im Gesicht. Er traf ihn mit voller Wucht. Das Bersten des Schädelknochens erfüllte den Raum. Noch bevor Jerry den Fußboden erreichte, war er bereits tot. Aus einer weit klaffenden Öffnung, dort, wo sich vorher sein Gesicht befunden hatte, sickerte das Blut und breitete sich zu einer Lache unter seinem Kopf aus.
Conny war durch den Stoß Jerrys nach hinten getaumelt, aber sie war nicht in der Lage, der Anordnung Jerrys zu folgen und zumindest den Versuch zu wagen, wegzulaufen. Reglos stand sie in der Mitte des Raumes und als ihn der grausame Schlag mit dem Baseballschläger traf, entschwand alle Kraft aus ihrem Körper und ohnmächtig fiel sie zu Boden.
Der Anführer der Gruppe hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und seine Pistole im Hosenbund untergebracht.
„Zeigt es der Schlampe!“ rief er, noch auf dem Boden kniend und sich die Magengegend haltend.
Die Meute stürzte sich, einer nach dem anderen auf Conny, deren Ohnmacht ihr die beiden ersten Schänder ihres Körpers aus dem Bewusstsein fernhielt.
Als sie kurz darauf dem stinkenden Atem einer der Gewalttäter mit dem Kopf auswich und an ihm vorbeisah, fiel ihr Blick auf die Balustrade der oberen Etage. Dort stand Maggie, ihre Tochter, in ihrem Nachthemd, die langen blonden Haare fielen ihr über die Schultern. Die Arme hingen kraftlos am Körper entlang. Ihr Körper schüttelte sich wie in einem Kälteschock. Ihr Mund war aufgerissen, doch kein Ton verließ ihre Lippen, zu tief saß der Schock in Bezug auf das, was die 12-Jährige miterleben musste.
Connys Blicke hatten die ihrer Tochter erreicht und versuchten, alle telepathischen Kräfte zu bündeln, ihr die Nachricht zu übermitteln, dass sie weglaufen, sich verstecken solle. Conny schüttelte leicht mit dem Kopf und sah Maggie mit weit aufgerissenen Augen durchdringend an.
Lauf weg, mein Kind. Verstecke dich! schrie sie ihr in Gedanken zu. Dir geschieht dasselbe wie mir, wenn man dich sieht! Lauf, mein Kind!
Doch Maggie stand wie versteinert. Sie war nicht imstande, den Blick abzuwenden von dem, was man dort unten ihrer Mutter antat. Sie sah ihre großen Augen, die auf sie gerichtet waren, sah die Angst in den Augen ihrer Mutter. Sie sah die Tätowierung an der rechten Schulter des Mannes, der ihre Mutter bedrängte. Einen Adler im Flug, so groß wie ein Handteller, auf dem rechten Schulterblatt dieses Verbrechers.
Sie starrte auf den Adler, der nun immer mehr ein Teil von ihr zu werden schien. Ein Teil ihres Geistes. Der Adler auf der Schulter des Mannes hatte ein neues Zuhause bekommen. Ein Nest in ihrem Kopf. Er würde ihr für die nächsten Jahre zum Freund werden und gleichzeitig zum Feind.
Die Augen Connys hingen weiterhin an Maggie und es schien, als bündele sie alle telepathischen Kräfte auf ein Ziel, den stummen Schrei: Lauf! Flieh!
Und dann geschah es. Maggie rückte langsam von dem Geländer der Balustrade weg, ging weiter rückwärts durch die offene Tür zu ihrem Zimmer und schloss diese leise hinter sich. Dann schien plötzlich die Starre von ihr abzufallen. Sie schaute sich hektisch im Zimmer um, suchend nach einem Versteck. Es gab keines. Sie wusste: Wenn die Männer hierher kamen, würde man sie finden.
Maggie öffnete das Fenster und sprang hinaus. Sie sprang in die Dunkelheit.
Die Rückseite des Hauses war an einer leichten Böschung gelegen und Maggie kam auf Händen und Füßen auf, als sie den Boden berührte. Dann spürte sie die Schmerzen auf den Knien, auf den Handflächen. Sie kümmerte sich nicht darum. Ich muss fort von hier. Ich muss Hilfe holen. Schnell blickte sie noch einmal zurück zum Fenster ihres Zimmers. Niemand stand dort, niemand hatte sie gesehen.
Dann lief sie, barfuß und in wehendem Nachtkleid