Der Weg des Bösen. Hannes Wildecker
über die Theke.
„Einen noch“, lallte der am jüngsten aussehende. „Eine Runde noch. Und du trinkst einen mit. Und die da auch.“
„Es gibt nichts mehr, hast du verstanden? Wenn ihr nicht in zwei Minuten verschwunden seid, setze ich euch eigenhändig an die Luft!“
„Is ja gut“, gab der Angesprochene mit schweren Augenlidern zur Antwort und rempelte seine glasig dreinschauenden Kumpels an. „Lasst uns verschwinden.“
Die vier Gestalten rappelten sich auf und trotteten mit einem letzten glasigen Blick auf die Frau und den Gastwirt aus der Kneipe. Die Tür fiel mit einem satten Geräusch hinter ihnen zu und die lallenden Wortfetzen entfernten sich mehr und mehr, bis es draußen still wurde.
„Kann ich einen Tee haben, oder ist es bereits zu spät dazu?“, fragte Maggie, während sie sich an einen Tisch setzte und auf das flimmernde Bild des tonlos eingeschalteten Fernsehers schaute. Ein altes Röhrengerät. Was sollte hier auch schon ein neues? Keiner dieser Barbaren, wie die von heute Abend beispielsweise, würde dorthin sehen. Er gehörte einfach dazu, der Fernseher, als bilderbewegende Kulisse. Bei der nächsten Fußball-WM, da würde sich wieder alles um ihn versammeln. Nüchterne und Besoffene. Falls er bis dahin nicht den Geist aufgegeben hatte.
Es vergingen einige Minuten, bis der Wirt den Tee brachte. „Es ist ein Früchtetee“, sagte er. Es klang beflissener. „Irgendeiner. Agnes sagt, er ist gut.“
„Es ist in Ordnung so“, sagte Maggie, ohne auf den Tee zu blicken.
„Meine Frau sagt, sie könne Ihnen eine Kleinigkeit zu essen machen. Wenn Sie möchten“, meinte Leonhard und sah Maggie erwartungsvoll an.
Maggie schüttelte verneinend den Kopf. „Danke. Ich bin müde. Ein Zimmer wäre gut. Für ein paar Tage. Mit Frühstück.“
„Das geht in Ordnung“, sagte der Wirt. „Sie sehen müde aus. Ich werde Agnes Bescheid sagen, damit sie alles herrichtet. Wenn Sie gleich noch das Anmeldeformular ausfüllen, Frau …“
„Kollinger. Margreth Kollinger.“
„Sie haben kein Gepäck, Frau Kollinger? Wissen Sie schon, wie lange Sie hierbleiben wollen?“
Maggie schüttelte den Kopf.
„Kann ich noch nicht sagen“, antwortete sie leise. „Vielleicht länger. Ich habe einige Dinge hier zu erledigen.“
Kapitel 4
„Wie? 1994 bis 1996 Sagen Sie? Da können Sie lange im Internet suchen. Es tut mir leid, junge Frau, aber die Artikel aus dieser Zeit sind bei uns noch nicht elektronisch erfasst. Diese Art der Archivierung gibt es in unserer Redaktion erst seit … warten Sie mal … seit dem Jahr 2000, glaube ich. Damals …“
„Das bedeutet, Sie können mir nicht weiterhelfen?“
„Nein, nein. Nicht so hastig, junge Frau.“ Der Redakteur des Trierischer Volksfreund durchmaß mit großen Schritten das langgezogene schmale Büro der Zeitungsfiliale in der Hermeskeiler Innenstadt. Maggie sah ihm nach, doch ihre Gedanken kannten nur ein Ziel: die Presseberichte aus jenen Tagen, als ihr Vater zu Tode kam.
Redakteur Steiner, ein schlanker Mann in den Dreißigern –seine blonden Haare waren kurz geschnitten bis auf eine Strähne an der linken Seite, die er aus dem Mundwinkel ständig aus seinen Augen blies- kam zurück und hielt eine Visitenkarte in der Hand.
„Sie müssen nach Trier in die Zentrale. Dort sind alle Artikel seit Bestehen unserer Zeitung abgelegt. Man wird Ihnen zeigen, wie Sie sich im Archiv zurechtfinden können. Hier, nehmen Sie. Dieser Kollege …“, der Redakteur schaute auf die Visitenkarte, als sei ihm der Name des dort Aufgeführten völlig fremd. „Dieser Kollege, Klaus Krämer heißt er, wird Ihnen weiterhelfen. Aber die Suche ist nicht umsonst.“ Der Redakteur kicherte. „Wäre sie umsonst, könnte man sie ja im Internet durchführen. Aber, keine Sorge, sehr teuer ist es nicht.“
Maggie nahm die Karte an sich und sah in das blasse Gesicht des Redakteurs, der sich kurz über einen nicht vorhandenen Kinnbart strich und auf etwas zu warten schien.
„Danke“, sagte sie und irgendwie fühlte sie tatsächlich so etwas wie Dankbarkeit. Ihre Suche hatte begonnen. Hier an dieser Stelle, in diesem Büro der Redaktionsfiliale. Sie würde nicht rasten, bis sie die Männer gefunden hatte, die ihr Leben und das ihrer Familie zerstört hatten.
„Danke“, sagte sie noch einmal. Der Redakteur lächelte und beugte sich leicht nach vorne, wobei ihm die Strähne seines dunkelblonden Haares über das rechte Auge fiel. „Suchen Sie etwas Bestimmtes, Frau …?“, fragte er und blies die Strähne aus seinem Sichtfeld.
„Meg“, sagte die junge Frau freundlich. „Nennen Sie mich Meg.“
„Steiner. Albert Steiner. Entschuldigen Sie ... Meg. Es geht mich nichts an, tut mir leid. Wenn ich Ihnen wieder einmal behilflich sein kann, ich stehe stets zu Diensten.“
Sie lächelte. Der Mann war ihr irgendwie sympathisch. Sie nickte. Vielleicht würde sie darauf zurückkommen. Sie würde seine Hilfe in Anspruch nehmen, sollte es einmal erforderlich sein.
Ihr nächster Weg führte sie zu einem kleinen Gebrauchtwagenhandel, wo sie nach kurzem Feilschen einen kleinen ockerfarbenen Fiat Cinquecento erstand.
„Wir werden ihn gleich zulassen“, sagte der Verkäufer beflissentlich. „Kommen Sie in einer Stunde wieder.“
Maggie nutzte die Zeit für einen Stadtbummel. Sie schlenderte durch ein Kaufhaus, kaufte dies und das, etwas Wäsche und Toilettenartikel, eine neue Handtasche. In der Sportabteilung fiel ihr Blick auf ein in Reih und Glied aufgestelltes Sortiment von Baseballschlägern. Sie spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte und sie schloss die Augen.
Wie durch einen Schleier sah sie ihren Vater auf dem Boden des Wohnzimmers liegen, den Kopf in einer großen Blutlache. Sie sah das Gesicht des Schlägers, der nach der Tat zufrieden mit dem Schläger in seine Handfläche schlug. Sie sah die flehenden Blicke ihrer Mutter, die auf sie gerichtet waren und ihre Gedanken beeinflussten.
Maggie wollte den Blick von den Baseballschlägern abwenden, doch sie fühlte sich magisch zu ihnen hingezogen. Ihre Hand streckte sich aus und ergriff den, der ihr vom Material her das wenigste Gewicht zu haben schien. Sie versuchte ihn mit der rechten Hand am Schaft festzuhalten und mit der Keule in ihre linke Handfläche zu schlagen. Doch ihr fehlte dazu die Kraft, zu schwer war er für die Handhabung einer einzelnen weiblichen Hand. Dann fasste sie den Schläger mit beiden Händen und hob ihn über den Kopf und wunderte sich, wie problemlos ihr dies gelang. Ihre Augen verengten sich.
„Ihr werdet büßen“, flüsterte sie. „Alle werden ihr bezahlen für das, was ihr uns angetan habt.“
Zwei Stunden später parkte Maggie ihren kleinen Fiat vor der Bibliothek des Trierer Priesterseminars. Beim Volksfreund hatte man ihr nicht weiterhelfen können. „Es tut mir sehr leid, junge Dame“, hatte ein höflicher Redakteur ihrer Hoffnung vorerst einen Strich durch die Rechnung gemacht. „In den Neunzigern wurde hier noch nichts elektronisch erfasst. Wir haben zwar Bände klassisch auf Papier und gebunden im Hause, Die sind aber leider nur zur internen Nutzung.“
Doch der Redakteur hatte ihr den Rat gegeben, in der Bibliothek des Priesterseminars ihr Glück zu versuchen.
„Ich stand vor etlichen Jahren für meine Magisterarbeit vor einem ähnlichen Problem und habe mich einige Wochen in der Bibliothek des Priesterseminars vergraben“, verriet er. „Dort kann man alte Bände mit gesammelten Zeitungsausgaben über Jahrzehnte hinweg öffentlich einsehen.“
Dankbar hatte Maggie das Verlagshaus verlassen und nun wartete sie auf den Geistlichen in dunkelgrauem Anzug, der sie gebeten hatte, sich einen Moment zu gedulden.
Während sie ihre Handtasche mit der rechten Hand an ihren Körper drückte, sah sie sich in dem geräumigen Raum um. Ein Lesesaal für die Studenten, dachte sie. Eine Bibliothek. Ihr Blick glitt über die hohen Einbauschränke,