Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
schon als die Assyrer und später die Perser das Reich regierten, wurde der Einfluss der Meschwesch immer geringer. Das Fürstentum zerfiel, und unser Volk vermischte sich mehr und mehr mit allen anderen Volksgruppen. Nur unser Familienclan hatte Bestand. Unter der Herrschaft der römischen Kaiser verließ eine kleine Gruppe Meschwesch, angeführt von einem deiner Urväter, das Nildelta. Sie züchteten Kamele, Rinder und eine Zeit lang Pferde. Der westliche Randbereich der Nilebene war ihre neue Heimat, und so lebt ein Teil unserer Familie jetzt immer noch.«
Stille trat ein. Safis Neugierde war geweckt, doch sein Vater bemerkte es nicht und leerte gedankenverloren seine Tasse. Er erinnerte sich daran, wie gebannt er seinem Vater gelauscht hatte, als dieser ihm von der Vergangenheit erzählte. Die Ungeduld und das Desinteresse seines Sohnes machten ihn traurig. Er fand sich schon mit dem Gedanken ab, es bei dem Gesagten zu belassen, weshalb ihn Safis Fragen kurz aus dem Konzept brachten.
»Mir ist niemand bekannt, der seine Ahnenfolge über einen so langen Zeitraum zurückverfolgen kann. Warum wird bei uns so viel Wert darauf gelegt? Und aus welchem Grund ist unsere Familie wieder in die Wüste gegangen?«
»Warum … Ach so, ja, das hat beides den gleichen Grund. Es hängt mit dem Grab zusammen, bei dem wir heute waren, und verbindet uns zugleich mit den Kismetbahr.«
»Das ist keine Erklärung. Weshalb also?«
»Wegen des Fluches, den der erste männliche Bekannte in unserer Ahnenfolge – Meschascher – verursacht hat. Wegen ihm und seinen Mitkämpfern sind wir seit dieser Generation an das Grab gebunden. Einmal im Jahr müssen wir es aufsuchen, doch mehr werde ich dir vorerst nicht darüber erzählen. Ich hoffe, dass Karim Al-Kismetbahr gelingt, was er vorhat, und das Ganze ein Ende findet.«
Safi wartete, dass der Vater weiterspreche, doch der blickte trübsinnig auf die Tasse, die er in seinen Händen drehte.
»Weshalb willst du, jetzt, wo du mein Interesse geweckt hast, nichts weiter preisgeben?«
»Weil ich hoffe, dass du nicht das erdulden musst, was ich erlebt habe. Nur so viel: Meschascher beging mit einigen seiner Garde eine verwerfliche Schandtat. Seine Mitstreiter bezahlten es mit dem Leben, doch er entkam. Dem Fluch jedoch konnte er nicht entgehen. In seinem ersten Sohn lebte der weiter, und dessen erster Sohn übernahm ihn später auch. Und so weiter bis zu mir. Starb einmal der erste Sohn, ging er auf den zweiten über. Es gab kein Entkommen.«
»Flüche sind doch Aberglaube«, warf Safi verächtlich hin.
»Das glaubst du nicht mehr, wenn dir wiederfahren sollte, was ich erlebt habe!«
Die Überzeugung, mit der diese Antwort kam, ließ Safi unsicher werden, und nachdem er die trübsinnige Miene seines Vaters einige Zeit beobachtet hatte, wechselte er das Thema.
Bei ihren langen Gesprächen kamen sich Vater und Sohn wieder näher. Sie fanden viele Gemeinsamkeiten, aber auch gegensätzliche Ansichten, doch Safi beherzigte den Rat Karims und versuchte, sich in die ältere Generation hineinzuversetzen. Es half ihm, vieles zu akzeptieren, und machte diesen Tag zu einem der schönsten im Leben der Familie.
Das Dorf
Karim Al-Kismetbahr war mit Sarah wieder nach Kerdasa gefahren. Sie saßen unter dem schattenspendenden Vordach seines Hauses, das azurblau schimmernde Wasser des Swimmingpools zu ihren Füßen. Den Krug mit gut gekühlter Zitronenlimonade auf dem kleinen runden Tisch zwischen ihnen hatten sie schon zur Hälfte geleert. Beide blickten, die Erlebnisse des Tages verarbeitend, aufs Wasser. Nach einiger Zeit richtete sich Sarah auf, sah Karim an und fragte leise:
»Kannst du mir jetzt mehr über dein Leben im alten Ägypten erzählen?«
Al-Kismetbahr brauchte einen Augenblick, um in die Gegenwart zurückzukehren, dann holte er tief Luft und nickte leicht mit dem Kopf.
»Ja, heute kann ich nichts weiter tun, und ich bin dir noch einige Erklärungen schuldig. Soll ich die Ereignisse kurz zusammenfassen, oder willst du wieder in die Geschichte eintauchen, sie fühlen und erleben wie ich?«
»Ja, genauso wie die Zeit in China und Japan. Am besten fängst du mit Siswatis Tod an.«
Sarah stockte, als sie den Schatten auf seinem Antlitz bemerkte.
»Oder mit der Zeit danach«, fügte sie zaghaft hinzu.
»Das geht nicht«, antwortete er mit einem leisen Seufzer. »Zum einen gab es eine relativ lange Zeitspanne, in der ich große Landstriche durchwanderte. Bis nach Europa, an meinen Geburtsort, bin ich dabei gekommen. Aber diese Periode verlief wie im Traum. Nichts, was sich tief ins Gedächtnis eingebrannt hätte, ist geschehen, bis ich ägyptischen Boden betrat. Erst da hielt ich mich wieder über längere Zeiträume an einem Ort auf und achtete auf den Zyklus der Erneuerung. Allerdings wusste ich immer noch nicht, welches Jahr geschrieben wurde. Von der altägyptischen Geschichte war mir viel zu wenig bekannt, um mich daran zu orientieren, und andere Möglichkeiten fand ich nicht. Erst im 17. Jahrhundert, als ich wieder Kontakt zu den Meschwesch aufnahm, bekam ich eine klare Vorstellung von den vergangenen Jahren. Sie gaben und geben bis heute ihre Ahnenlinie mit den Lebensjahren der Verstorbenen weiter. Nur deshalb war es mir möglich, das genaue Alter des Grabes zu benennen, denn bei mir gibt es zwischendurch immer wieder Lücken, in denen ich den Überblick verlor.«
»Bei solch gewaltigen Zeiträumen kann ich das verstehen, dennoch sprachst du von einem ununterbrochenen Erinnerungsstrang. Wie passt das zusammen?«
Karim lachte kurz auf.
»Das ist kein Widerspruch und lässt sich leicht erklären. Ich war immer wieder über längere Zeit auf Wanderschaft, manchmal ein Jahr und länger. Zudem wanderte ich durch verschiedene Klimazonen, was es schwer machte, die Jahre zu berechnen. Einzig meine regelmäßige Erneuerung gab mir Anhaltspunkte, doch wenn du so lange lebst, hörst du irgendwann auf mit dem Zählen.«
Karim trank sein Glas aus, füllte ihnen beiden nach und sank dann wieder in seinen Liegestuhl zurück.
»Doch das nur nebenbei, denn ich wollte dir ja von Ägypten erzählen.«
»Ja«, sagte Sarah begierig, richtete sich auf und wollte näher heranrücken.
»Warte, den ersten Teil erzähle ich dir noch so, denn er hat nichts mit dem Grab zu tun.«
Enttäuscht sank Sarah zurück, aber