RAYAN - Die Serie (Teil 1 - 4). Indira Jackson
Als er sah, dass Rayan nun Tränen in den Augen hatte, legte er ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Schon gut – du musst nichts sagen, wenn es dir so schwer fällt.“ Rayan sah in diesem Moment zum ersten Mal aus wie ein kleiner, verletzlicher Junge, der für sein Alter schon viel zu viel erlebt hat. Und so nahm Jack sich vor, das Thema nicht weiter zu verfolgen.
„Komm, wir gehen wieder rein. Julie macht sich sicher schon Sorgen.“
Doch Rayan hielt ihn zurück: „Warte.“ Die Tränen flossen ihm nun über die Wangen.
„Du hast einmal gefragt, woher ich meine Narben am Rücken habe. Das war ER! Es waren Männer in seinem Auftrag, die mich fast zu Tode peitschten. Er war auch da, ich habe ihn gesehen. Nur weil alle glauben, dass ich daran gestorben wäre und sie mich für tot halten, konnte ich entkommen.
Ich mag einmal ein Prinz gewesen sein, damit hast du sogar recht. Jetzt aber bin ich ein Geächteter, ohne Heimat, ein Niemand! Und somit war es auch keine Lüge, dass ich gesagt habe, ich habe keine Familie mehr!“ seine Stimme brach.
Doch Jack musste gar nicht mehr hören. Er nahm Rayan einfach stumm in den Arm und so standen sie eine ganze Weile.
Erst als er merkte, dass das Zittern des Jungen nachgelassen hatte, ließ er ihn los und sie gingen schweigend zum Haus.
2014 - Oase Wahi - Der Aufbruch
Den ganzen nächsten Tag verbrachte Carina damit, sich zu orientieren und durch das Lager zu schlendern. Es war faszinierend!
Inzwischen hatte sich herumgesprochen, wer sie war und die vorher so finster und abweisend blickenden Männer waren auf einmal viel freundlicher.
Sie riefen dem „behinderten Jungen“ Grüße und Späße zu, die Carina zum größten Teil nicht verstand.
Hatem hatte sich bereit erklärt, ihr ein wenig Sprachunterricht zu geben, damit sie wenigstens das Gröbste verstand, doch hatte sie bald herausgefunden, dass die Männer untereinander einen anderen Dialekt sprachen.
Der Händler erklärte ihr, dass dies „Tarmanisch“ war und es für ihn wie jeden anderen Fremden verboten war, in dieser Sprache zu kommunizieren. Dieser Stamm war in der Beziehung sehr eigen, vermutlich wäre es ein Grund, dass sie denjenigen töten würden.
Auch, dass sie ausnahmsweise eines ihrer Pferde reiten durften, war ein großes Entgegenkommen.
Pferde aus der Zucht des Scheichs der Tarmanen waren begehrt und wurden daher gehütet wie ein Augapfel.
Carina war entsetzt, dass es Menschen gab, die so viel auf Sprache und Pferde gaben, dass sie dafür einen Menschen töten würden und begann zu ahnen, dass sie noch einiges zu lernen hatte.
Ihr wurde klar, dass sie diese Pferde sehr gefühlvoll behandeln musste, wobei das kein Problem war, sie war ohnehin ein begeisterter Pferdenarr und im siebten Himmel, von so vielen tollen Tieren umgeben zu sein.
Allerdings stellte sie fest, dass es auch Knochenarbeit war, für so viele Pferde zu sorgen. Natürlich gab es Männer, die dafür zuständig waren. Denen sollte sie zur Hand gehen.
Immer wenn sie mit Hatem im Zelt war, sorgte dieser dafür, dass ihr Turban fest um ihren Kopf saß. Es wäre ein Desaster gewesen, würde ihr dieser plötzlich vom Kopf fallen und jeder ihre langen blonden Haare sehen!
Am zweiten Tag nach Ihrer Ankunft in der Oase ritten sie noch vor Sonnenaufgang los.
Carina kannte die genaue Anzahl der Krieger nicht, die der Trupp umfasste, aber sie schätze sie auf 60.
Sie hatte gehört, dass sie auf dem Weg nach Alessia waren, wo sie sich in circa 6 Tagen mit einem weiteren, großen Trupp Reitern treffen würden. Was das Ziel dieser Zusammenkunft war, wusste sie nicht und es war für sie auch zweitrangig.
Was würde sie alles für Eindrücke sammeln können. Sie hatte auch eine Kamera dabei, gut verpackt in einem Spezialbeutel gegen Sand geschützt, doch konnte sie Bilder verständlicherweise nur heimlich, meist aus dem Zelt heraus, machen. Es würde kaum zu ihrer Rolle als behinderter Araberjunge passen, wenn sie plötzlich eine sündhaft teure, digitale Spiegelreflexkamera zückte. Aber damit konnte sie leben.
Sie hatte geschafft, was noch nie zuvor einem ihrer Kollegen gelungen war!
2014 - Rub’al Khali - Heldentum
Der Ritt durch die Wüste zu Pferd mit den Kriegern des Scheichs war kein Vergleich zum langsamen Fortkommen der Karawane vorher. Sie genoss die Bewegungen des Pferdes unter sich, die so ganz anders waren als vorher der wiegende Gang des Kamels.
Der Tag in der Oase und die Übernachtung in dem großen Zelt, das Hanif ihnen zugewiesen hatte, stärkten ihre Kräfte. Nie hätte sie geglaubt, dass man sich über Kleinigkeiten wie ein großes Zelt mit vielen Kissen und Teppichen und Decken derart freuen konnte.
Hatem verriet ihr, dass es offenbar Hanifs eigenes Zelt gewesen war, das er ihnen überlassen hatte, doch als sie ihn bat, sich in ihrem Namen zu bedanken riet er davon ab. Das war das, was die Männer der Wüste als selbstverständlich unter Gastfreundschaft verstanden. Leider bot sich dieser Luxus nur für eine Nacht, für die Weiterreise hatten sie ein kleines Zelt bekommen, welches sie sich zu zweit teilten.
Wenn sie selbst Hanif sah, konnte sie aufgrund ihrer mangelnden Sprachkenntnisse nicht mit ihm sprechen, schließlich konnte sie ja schlecht öffentlich in Englisch mit ihm reden, doch sie grüßte freundlich.
Doch nach dem zweiten Mal kam Hatem später zu ihr und informierte sie, dass Hanif darum gebeten hatte, dies zu unterlassen. Es passte nicht zu ihrer Rolle.
Als sie daraufhin erstaunt die Augenbrauen hob, fügte Hatem etwas verlegen hinzu, dass er glaube, dass Hanif ihretwegen mit seinem Herrn Ärger bekommen hatte, denn die Männer munkelten, dass seine Laune in den letzten beiden Tagen nicht sehr gut war.
Den Scheich hatte sie schon mehrfach zu Gesicht bekommen. Er war immer präsent und schien überall und nirgends zu sein.
Am zweiten Tag war sie morgens früh aufgewacht, weil sie jemanden leise mit dem Wachposten sprechen hörte, der nicht weit von ihrem Zelt stand.
Als sie verschlafen aus dem Zelt linste, sah sie den Scheich, wie er dem Posten noch einmal zunickte und dann auf sein Pferd stieg und los ritt. Hinaus aus der Senke, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Es war noch dunkel und auch noch lange vor der Zeit zum Fertigmachen für den Aufbruch.
Etwa eine Stunde später kam er erst zurück, aß noch eine Kleinigkeit mit den anderen Männern am Feuer und schon ging es los.
Dieser Prozess wiederholte sich jeden Morgen und auch abends machte er oft diese Kontrollritte.
Manchmal ritt er im Laufe des Tages auch weg von der Gruppe, um dann in einem Bogen aus einer anderen Richtung wieder zu ihnen zu stoßen.
Während Carina dies faszinierte, schienen die Männer daran gewöhnt zu sein.
In ihre Nähe kam der Scheich nie und auch umgekehrt hatte sie keine Chance, näher an ihn heranzukommen.
Vor seinem Zelt standen immer zwei Wachen, die keinerlei Humor zu verstehen schienen und auch sonst sorgten die Männer dafür, dass sie ihn nicht etwa belästigte.
Abends liebten es die Männer, sich zusammenzusetzen und Geschichten zu erzählen. Dabei waren es immer verschiedene Personen, die etwas zum Besten gaben. Hatem übersetzte, wenn dies möglich war, weil niemand neben ihnen saß, oder erzählte ihr im Nachhinein die Handlung. Es war Hanif gewesen, der seine Krieger gebeten hatte, Arabisch zu sprechen, damit die Gäste an den Zusammenkünften teilnehmen konnten.
Carina gewann anhand der Reaktion mancher Zuhörer den Eindruck, dass einige der Geschichten nicht ganz neu waren und Hatem lachte, als er zugab: „Ja das stimmt.“ Es schienen wohl immer wieder die gleichen Männer zu sein, die sich ihrer Heldentaten rühmten. Ein Schwachpunkt, wie