Nuclatom. Hans J Muth
einem letzten Blick auf die inzwischen angewachsene Wolke am Horizont schloss ich die Balkontür und begab mich unter die Dusche.
Ich überlegte. Wenn Felix mit mir über das Werk reden wollte, dann hatte er triftige Gründe. Felix war keiner von denen, die sich an Belanglosigkeiten hochzogen.
Ich drehte den Wasserhahn ab, band mir ein Badetuch um und schaltete den Fernseher im Wohnzimmer an. NTV, die Nachrichten. Alles andere als das, was ich dort sah, hätte mich auch gewundert.
Während die Nachrichtensprecherin Geschehnisse aus aller Welt über den Äther hauchte, drehte der Ticker seine unermüdlichen Kreise. „Erneuter Störfall im Atomkraftwerk Nuclatom Gefahr für die Bevölkerung? Verantwortliche schweigen Politik verweigert Statements Gefahr für die Bevölkerung? ..."
Ich wartete nicht darauf, dass die Nachrichtensprecherin mit süffisanter Art die Nachricht verkünden würde, sondern schaltete den Fernseher aus. Felix würde mir berichten, was zurzeit dort abging. Was er mir sagte, würde für mich und meine Meinungsbildung von Bedeutung sein, nicht aber eine Nachrichtensendung.
Ich ging wieder nach draußen, auf den Balkon und sah hinab. Die Ampel an der Straße, in der ich meine Wohnung bezogen hatte, war auf Rot geschaltet. Das zweite Auto in der Reihe der wartenden Schlange gehörte Felix. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er sich an der Sprechanlage melden würde.
Während ich mich ankleidete, drückte ich auf die Protokolltaste meines Smartphones, um es nach weiteren eingegangenen Anrufen zu überprüfen. Keine Einträge, keine privaten, aber auch keine meiner Arbeitsstelle. Also konnte es nicht so schlimm sein, wie es schon wieder in den Medien breitgetreten wurde. Bislang hatte man mich bei Störungen, gleich welcher Art, stets hinzugezogen. Da machte es auch keinen Unterschied, ob ich mich gerade im Urlaub befand oder zuhause meine Beine auf den Tisch legte.
Ich legte das Handy beiseite und kleidete mich fertig an. Felix musste jeden Moment die Klingel betätigen. Ich ging zum Fenster und sah nach unten auf die Straße. Im Kreuzungsbereich bewegten sich Menschen wie Ameisen. Die meisten standen, andere liefen hin und her, einige telefonierten.
Ein Unfall, dachte ich und suchte mit den Augen die Unfallstelle ab. Keine Unfallautos. Mein Interesse stieg und ich starrte auf den Punkt, auf den sich das Interesse der Menge konzentrierte. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber ich glaubte drei Personen zu sehen, die sich offenbar um einen Verletzten kümmerten.
Felix hatte immer noch nicht an der Tür geläutet. Vermutlich hatte er dort unten seine Hilfe angeboten. So war er. Felix hatte ein gutes Herz und wenn es zu helfen galt, dann tat er es. Sein Freundeskreis war entsprechend groß, man hatte seine gute Seele erkannt.
Ich steckte mein Smartphone in meine Hosentasche, schnappte den Wohnungsschlüssel und warf die Eingangstür hinter mir zu. Auf den Aufzug verzichtete ich. Die Stufen der vier Etagen bedeuteten für mich kein großes Problem und einige Minuten später stand ich unten und ging auf die Menge zu. In der Ferne hörte ich Sirenen von Polizei oder Krankenwagen. Oder von beiden.
Als ich mir einen Weg durch die Menge gebahnt hatte, traf mich fast der Schlag. Es war Felix, der dort lag, von Helfern in eine stabile Seitenlage gebracht. Ich sah, dass er atmete.
Er lebte.
Ein Arm hielt mich fest.
„Bleiben Sie weg! Der Krankenwagen ist unterwegs."
Ich wehrte den Mann ab, einen schlanken Zwanziger mit Brille und wichtigem Gesicht.
„Er ist … er ist mein Bruder", log ich und kniete kurz darauf neben Felix.
„Ich bin es, Jerry", flüsterte ich und berührte vorsichtig seine Schulter. „Der Krankenwagen kommt gleich. Du kommst wieder in Ordnung."
Felix drehte den Kopf ein wenig zu mir und ich sah, dass die Gesichtshälfte, unter die man eine gefaltete Sommerjacke gelegt hatte, blutverschmiert war. Verletzungen unter seiner Kleidung konnte man nur erahnen. Für mich war klar: Felix war von einem Auto angefahren worden. Ich sah hoch zu dem jungen Mann, der nun neben uns stand.
„Der Unfallverursacher?"
Er zuckte mit der Schulter. „Unfallflucht. Es gibt Zeugen."
Ich wandte mich wieder Felix zu, der mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Seine Lippen bewegten sich lautlos.
„Bitte, streng dich nicht an, Felix", versuchte ich auf ihn einzureden. „Der Krankenwagen muss jeden Moment hier sein."
Seine Lippen bewegten sich weiter und in seinen Augen bemerkte ich etwas Flehendes. Ich beugte mich zu ihm hinunter und mein Kopf befand sich neben seinem.
„Sabotage", entnahm ich seinem stockenden Flüstern. Er wiederholte es „Sabotage. Du ... musst ... sei vorsichtig."
Seine Stimme verebbte, die Lider seiner Augen flackerten kurz und zogen sich bis auf einen Spalt zusammen. Er atmete nicht mehr.
„Gehen Sie zur Seite, Lassen Sie uns durch!", hörte ich eine energische Stimme. Ich wurde beiseitegedrängt und Sanitäter begannen mit der Reanimation. Benommen schlich ich davon und fand mich kurze Zeit wieder in meiner Wohnung. An den Weg dorthin konnte ich mich nicht mehr erinnern, so tief saßen die Gedanken um Felix und seine letzten Worte: „Sabotage". Was bedeutete das? Was wollte er mir damit sagen? Was meinte er damit, ich solle vorsichtig sein?
Ich sah zum Fenster hinaus und sah den Rettungswagen davonfahren. Ein Polizeiwagen stand in unmittelbarer Nähe des Unfallbereichs. Ein Leichenwagen bahnte sich den Weg durch die inzwischen größer gewordene Ansammlung von Menschen.
„Es war kein Unfall, Felix", sagte ich leise vor mich hin, während ich beobachtete, sie meinen Mitarbeiter in einen Zinksarg legten und ihn im Leichenwagen verstauten. „Sie haben dich vorsätzlich überfahren. Die Unfallflucht im rechtlichen Sinne war nur vorgetäuscht. Es war Mord. Kaltblütiger Mord. Was wusstest du, Felix, das du nicht wissen solltest?"
Ich fühlte mich leer, ausgebrannt, mit der derzeitigen Situation überfordert. Was meinte Felix nur mit seinen letzten Worten? Als ich den Leichenwagen davonfahren sah, lief es mir kalt den Rücken herunter. Dann verstand ich plötzlich. Felix wollte mich warnen. „Sei vorsichtig", waren seine letzten Worte. Das konnte vieles bedeuten. War man hinter mir her? Versuchte man auch mich umzubringen. Oder meinte Felix mit vorsichtig, ich solle an meinem Arbeitsplatz die Augen offenhalten? Ich würde es selbst herausfinden müssen.
Langsam leerte sich der Platz unten auf der Kreuzung und der Verkehr begann sich wieder zu normalisieren. Es war, als wollte ich Felix ein Versprechen hinterherrufen, als ich vor mich hin flüsterte: „Leb wohl, mein Freund, du bist nicht umsonst gestorben, das verspreche ich dir. Ich werde herausfinden, warum man dir das angetan hat."
3. Kapitel
Die Zeit danach/Stadtklinik
Es ist fast dunkel im Raum, als ich erwache und ich muss mich gedanklich erst wieder in meiner Umgebung zurechtfinden. Nur die kleine Nachtlampe versucht, ihre minimale Energie in den Raum abzugeben und unwillkürlich stelle ich wieder einen Vergleich zu mir und meiner minimalen Energie an.
Ich fühle die Bettlaken mit meinen beiden Händen, denn die Arme liegen, wie in den Tagen zuvor, an den Seiten meines Körpers entlang. Ich liege auf dem Rücken, eine Drehung während der Nacht ist mir nicht mehr möglich.
Ich verspüre Schmerzen im Bereich meines Steißbeins. Obwohl ich auch den Drang zum Toilettengang habe, besteht hier kein Zusammenhang. Es ist nicht der Druckschmerz einer zu erwartenden Entleerung meines Darms, es ist ein Schmerz, der mir irgendwie auf die unteren Wirbel drückt.
Ich drehe den Kopf zum Nachttisch und erkenne schemenhaft das Headset, das mir Dr. Bollinger hat besorgen lassen. Ich erinnere mich.
***
Als Dr. Bollinger nach der Visite gestern mein Zimmer verlassen hatte, war ich in einen Tiefschlaf gefallen. Doch er hielt nicht lange an. Irgendwann am Abend wachte ich auf und ließ mir das Gespräch mit dem Doktor durch den Kopf gehen. Sollte