#2 MondZauber: VERSUCHUNG. Mari März
Die Prophezeiung
Die Beanna hielt den Kopf geneigt, der Alpha schaute sie mit einem gequälten Lächeln an, als Lyra die Treppe hinunterstieg. Zögerlich setzte sie sich wieder an den großen Eichentisch und atmete hörbar aus. Sie war bereit für die schlechte Nachricht oder was die beiden auch immer für sie bestimmt hatten. Resigniert verschränkte sie die Arme und kaute auf ihrer Unterlippe herum, bis der Alpha endlich zu sprechen begann.
»Mein Kind, wir wollen es kurz machen. Ich habe beschlossen, dass du vorerst bei uns bleiben darfst.«
Lyra zuckte zusammen, dann fiel ein riesiger Felsklumpen von ihrer Seele. Ein zögerliches Lächeln bildete sich auf ihren Lippen, das jedoch sofort wieder erstarb. Der Alpha war noch nicht fertig. Da war noch etwas. Logisch! Warum sollte sie auch Glück haben? VORERST! Was hatte das zu bedeuten?
Der Alpha tauschte einen stummen Blick mit der Druidin und sprach dann weiter: »Lyra, die Tatsache, dass du die Gestalt eines Luchses annimmst, ist schon schwierig genug. Denn hier geht es nicht nur um die alte Fehde zwischen Hund und Katze. Der Wolf ist der natürliche Feind vom Luchs. Wir müssen herausfinden, ob das ein Problem darstellt. Bisher lebten hier nur Wölfe … und eine Krähe.«
Er machte eine Pause und sah Lyra mit durchdringendem Blick an. »Doch das ist nicht unbedingt der Grund, warum wir mit dir sprechen wollen. Die Prophezeiung …«
Wieder machte er eine Pause. Lyra spürte, dass der Alpha versuchte, die richtigen Worte zu finden. Ihre Nerven waren gespannt wie Drahtseile. Ihr war mittlerweile alles recht. Hauptsache, er würde jetzt endlich mal Tacheles reden. Deshalb wagte sie den Angriff nach vorn: »Was meinst du? Was ist das für eine Prophezeiung? Die Beanna sprach in der Höhle bereits davon. Nun würde ich gern wissen, was das Ganze mit mir zu tun hat.«
Wieder kaute sie nervös auf ihrer Unterlippe. War sie zu weit gegangen? Würde der Alpha jetzt sauer sein? Doch genau das Gegenteil geschah.
»Du bist die Prophezeiung, mein Kind. Jedenfalls nehmen wir das an. Leider sind solche Weissagungen keine Gebrauchsanweisung, in der ganz genau steht, was zu tun ist. Hier geht es um fadenscheinige Aussagen, die erst dann einen Sinn ergeben, wenn das Schicksal seinen Lauf nimmt. Verstehst du?«
Lyra nickte, dann schüttelte sie den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, wovon der Alpha sprach. Natürlich kannte sie solche Szenen aus dem Kino. Harry Potter und so. Aber das hier war die verdammte Realität. Was zum Geier konnte eine Druidin oder wer auch immer über sie prophezeit haben? Sie war ein Mädchen aus Birkenwerder, einem Kaff in der Nähe Berlins.
»Ich weiß, dass dir hier vieles neu und sicherlich auch merkwürdig erscheint. Deshalb bitte ich dich, jetzt genau zuzuhören: Es wurde prophezeit, dass ein weiblicher Hybrid in der Gestalt eines Wertieres, geboren aus dem Wasser und dem Feuer, dem Reich der Erde endlich Frieden bringen wird.«
Lyra schluckte schwer. Die Synapsen in ihrem Hirn rasteten ineinander. Das war sie. Hybriden gab es äußerst selten, dass wusste sie. Ihr Vater kam aus Island, dem Reich des Wassers. Ihre Mutter war eine Hexe und gehörte zur alten Dynastie des Feuers. So weit, so gut. Aber wie um Himmels Willen sollte sie, Lyra, Frieden nach Irland bringen, dem Reich der Erde? Und vor allem: Warum? Hier war doch alles in bester Ordnung – oder etwa nicht?
»Warum Frieden, gibt es hier Krieg?«
»Das ist eine berechtigte Frage. Aber zuvor müssen wir eine weitaus wichtigere klären.« Der Alpha sah zur Druidin, die nun ihre weißen Augäpfel auf Lyra richtete. In der Höhle war dieser Blick schon unheimlich gewesen, hier in der irdischen Welt machte die blinde Alte Lyra tatsächlich Angst. Dieses unbehagliche Gefühl verstärkte sich, als die Beanna fragte: »Was hast du im Wasser gesehen?«
Lyra zog die Stirn in Falten. Was hatte das jetzt mit der Prophezeiung zu tun? Warum war es so wichtig? Sie hatte ein paar dunkle Schatten gesehen. Oder war da noch mehr gewesen?
»Was hast du gesehen, als wir deinen Körper reingewaschen haben?« Als die Druidin ihre Frage wiederholte, kroch eine Gänsehaut über Lyras Nacken. Sie öffnete den Mund, um zu antworten, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Noch einmal schluckte sie schwer.
»Lyra, die Beanna berichtete mir, dass du die Wächter gesehen hast und sie dich.«
Lyra nickte und hatte immer noch keine Ahnung, was daran schlimm sein sollte. Doch schon im nächsten Augenblick wurde sie eines Besseren belehrt.
»Die Wächter wurden einst von den alten Göttern geschaffen, sie beschützen die Tore zur Anderswelt. Niemand kann sie sehen, außer Wesen, die ihnen ebenbürtig sind. Jene, die zwischen den Welten wandeln können, weil sie beide in sich vereinen. Bei dir, Lyra, könnte dies auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass du ein Hybrid bist. Andererseits …«
Und schon wieder machte der Alpha eine Pause, die Lyras Nervenkostüm über die Maßen strapazierte. »Andererseits?«, hakte sie deshalb nach.
»Andererseits … Nun, mein Bruder konnte die Hüter der Welten ebenfalls sehen. Und diese wiederum reagierten auf ihn ähnlich wie bei dir. Das lässt nach unserem Wissen nur einen Schluss zu: In dir stecken dunkle Mächte, Lyra. Sehr dunkle Mächte.«
Mit offenem Mund starrte sie den Alpha an. Ihr Blick wanderte zu der Druidin, die plötzlich abwesend wirkte. Doch dann wandte sich die Beanna an sie: »Du bist noch jung. Du kannst noch so viel lernen. Du musst es einfach! Unser aller Schicksal hängt davon ab.«
Lyra leckte sich die Lippen, als sie bemerkte, dass ihr Mund die ganze Zeit offen gestanden hatte. Die Druidin hatte wiederum ihre Lippen keinen einzigen Millimeter bewegt. Nein, nur ihr Geist war in Lyra eingedrungen und hatte auf magischem Wege diese irrwitzige Information übertragen.
Dunkle Seite! Was soll das?
»Jeder von uns hat doch eine dunkle Seite? Ich verstehe nicht. Du hast einen Bruder?« Die Tränen, die Lyra vorhin im Badezimmer unterdrückt hatte, schossen nun ungehindert aus ihren Augen. Wie profan ihr jetzt die Sorge vorkam, dass sie nicht wusste, wohin sie sollte. Hörte das denn nie auf? Diese kryptischen Andeutungen. Die Unwissenheit. Und der stete Kampf, irgendwie die Wahrheit und damit ihr Schicksal zu entschlüsseln.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte sie schniefend, nachdem niemand ihr geantwortet hatte. Die Druidin erhob sich. »Komm morgen noch einmal zu mir.« Mit diesen Worten verschwand sie durch die offene Terrassentür. Einfach so. Keine Sekunde später erhob sich eine Krähe in die Lüfte und flog einen weiten Bogen über das Meer.
Wie schafft sie es, sich mit ihrer Kleidung zu verwandeln?, schoss es Lyra durch den Sinn.
Der Alpha stand ebenfalls auf. Lyra war davon überzeugt, dass auch er sie nun alleinlassen würde. Stattdessen zupfte er aus einer Tempo-Box, die auf dem Küchentresen stand, einige Tücher und reichte sie ihr. Schniefend tupfte Lyra diese blöden Tränen vom Gesicht und putzte sich geräuschvoll die Nase. Ein Schluchzer entrann ihrer Kehle, dann sah sie den Clanführer an. »Was ist mit deinem Bruder passiert?«
Der Alpha presste die Lippen aufeinander. »Er ist der zweite Teil der Prophezeiung. Wegen ihm befinden wir uns im Krieg mit Wesen, die noch weitaus gefährlicher sind als wir Wölfe. Aber das ist eine andere Geschichte.«
Lyra erhob sich. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie heute nicht viel mehr erfahren würde. Und genau diese Tatsache machte sie gerade wütend. Bevor der Zorn sich in ihr ausbreiten konnte, sollte sie schleunigst verschwinden – ehe sie noch etwas sagte, was sie im Nachhinein bereuen würde. Sie schlängelte sich aus der Bank am Tisch vorbei und wollte schon zur Tür eilen, als sie der Alpha zurückhielt. Väterlich strich er ihr über den Kopf. »Ich kann mir vorstellen, dass es für dich nicht leicht ist, all diese Neuigkeiten zu verdauen. Ich kann dich nur bitten, die nächsten Tage fleißig deine Verwandlung zu üben, und zwar allein oder zumindest nicht hier, sondern im Wald. Versprichst du mir das?«
Lyra nickte mechanisch und rannte aus dem Cottage. Die Tränen waren zurückgekommen.
Und die Wut!