Seelenmalerin. Ana Marna
fehlten höchstens noch fünf Kilometer bis zu ihrem Ferienhaus. Aber eine solche Strecke, inmitten der Wildnis von Minnesota mit dem Gepäck für zwei Monate im Kofferraum, war ein Problem.
Sie blickte auf das Display ihres Smartphones.
Kein Empfang. Super!
Wieder sah sie auf die Karte. Immerhin war in etwa drei Kilometern Entfernung eine Siedlung eingezeichnet. Ob sie die noch vor Einbruch der Dunkelheit finden würde? Es war schon September und sie hatte höchstens drei Stunden Zeit, bis es Nacht wurde.
Sie seufzte und löste den Sicherheitsgurt. Es half nichts, sie benötigte Hilfe. Auf jeden Fall würde sie diesen Autovermieter zur Schnecke machen, wenn sie den Wagen zurückbrachte.
Entschlossen stieg sie aus und griff nach ihrem Rucksack. Immerhin hatte sie vorgesorgt für sogenannte Notfälle und das Wichtigste und Wertvollste in diesen Sack gepackt. Der Rest musste im Auto auf sie warten.
Sie verschloss den Wagen und warf sich den Rucksack um. Dann marschierte sie mit der Karte und einem Kompass bewaffnet los.
Sie genoss es sehr, endlich nicht mehr auf dem Autositz zu hocken. Stundenlanges Autofahren war noch nie ihr Ding gewesen. Bewegung war ihr sehr viel lieber. Und Wanderungen hatte sie schon immer geliebt.
Die Straße, die sie nun entlangschritt, war zwar ausgebaut, aber nicht besonders gut in Schuss. Anscheinend hatten die Bewohner der Siedlung keine große Lobby hinter sich, um Geld für eine Ausbesserung zu bekommen. Oder es scherte sie nicht, weil sie auf Besucher nicht scharf waren.
Sie lächelte vor sich hin und verfiel unwillkürlich ins Joggen. Dabei sog sie genussvoll die Waldluft durch die Nase.
Geschätzte zwei Kilometer später vernahm sie hinter sich Motorengeräusch.
Sofort blieb sie stehen und sah sich um. Dabei erhaschte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung und drehte schnell den Kopf. Ein dunkler grauer Schatten verschwand im Gehölz.
Sie starrte ihm hinterher. War das ein Hund gewesen? Wohl eher ein Wolf. Aber so groß?
Sie verdrängte das unwohle Gefühl, das in ihr hochstieg. Die Vorstellung, von einem Riesenwolf verfolgt worden zu sein, war nicht gerade beruhigend. Andererseits hatte er sich sofort aus dem Staub gemacht, als sie zu ihm hinsah. Aber vielleicht war das auch nur aufgrund des Autos geschehen, das in diesem Moment ins Sichtfeld kam.
Sie trat zur Seite und hob die Hand. Der Wagen kam kurz vor ihr zum Stehen.
Ein dunkelhaariger Mann lehnte sich aus dem Fenster und betrachtete sie interessiert.
„Ist das da hinten Ihr Auto?“, fragte er.
Sie nickte und verzog das Gesicht zu einem schrägen Grinsen.
„Gut geraten. Die Karre ist mir leider verreckt. Könnten Sie mich irgendwohin bringen, wo ich Hilfe bekomme? Hier in der Nähe soll ja eine Siedlung sein.“
„Sie meinen Dark Moon Creek?“
„Ich glaube ja, so genau konnte ich das auf der Karte nicht entziffern.“
„Sie sind Ausländerin.“
„Äh ja. Ich komme aus Deutschland und ich gebe zu, dass mein Englisch ziemlich eingerostet ist.“
Er grinste freundlich.
„Es reicht mehr als aus. Steigen Sie ein, ich bringe Sie ins Dorf. Vielleicht hat Theo Zeit, Ihre Kiste gleich zu reparieren.“
Sie kletterte ins Auto und betrachtete den Fahrer neugierig von der Seite. Er wirkte sympathisch. Vor allem seine grünen Augen gefielen ihr. Sie erinnerten sie an ihren Vater.
„Kommen Sie aus Dark Moon Creek?“
Er nickte und beschleunigte den Wagen.
„Ja, ich bin Ethan. Ethan Robinson. Sie haben Glück. Heute ist mein Einkaufstag. Normalerweise fährt hier niemand lang.“
„Glück im Unglück“, lächelte sie. „Vielen Dank jedenfalls. Mein Name ist übrigens Hannah Riemann.“
„Darf ich fragen, was Sie hierher verschlägt?“
„Klar, ich habe mir hier in der Nähe ein Ferienhaus gemietet und wollte die nächsten zwei Monate Ruhe und Wildnis genießen.“
Er sah sie mit einem zweifelnden Blick von der Seite an.
„Meinen Sie die Jackson-Hütte?“
„Vermutlich“, lächelte sie. „Zumindest heißt der Vermieter so.“
Er stieß ein unwilliges Brummen aus.
„Sind Sie sicher, dass Sie wissen, worauf Sie sich da einlassen?“
„Warum?“
„Na ja. Die Hütte ist in keinem guten Zustand - und ziemlich einsam gelegen. Haben Sie Erfahrung mit dieser Gegend?“
„Nicht direkt“, gab Hannah zu. „Zumindest nicht mit den Wäldern hier. Ich war aber schon öfter im Norden und auch in Kanada.“
„Hm.“
Mehr sagte er nicht, aber sie sah ihm an, dass er skeptisch war. Sie ging nicht darauf ein. Er war nicht der Erste, der ihr Vorhaben in Frage stellte. Aber das hatte sie noch nie gestört.
Dark Moon Creek
Es dauerte nicht lange und Ethan bog in eine Seitenstraße ein. Hannah konnte kein Schild erkennen, das auf ein Dorf hinwies.
„Ich glaube, ich hab‘ wirklich Glück, dass Sie mich aufgelesen haben“, meinte sie. „Fehlt das Hinweisschild absichtlich?“
„Hm.“
Er ließ nicht erkennen, ob er bejahte oder verneinte. Hannah hakte nicht nach. Neugierig spähte sie nach vorne und tatsächlich. Nach wenigen Minuten konnte sie die ersten Häuser sehen.
Sie war angenehm überrascht. Dark Moon Creek war weniger als ein Dorf. Es bestand aus einer Ansammlung von Blockhäusern, die sich recht ungeordnet um drei großflächige Häuser gruppierten. Am Rand des Dorfes waren noch größere Gebäude, die offensichtlich als Lagerräume und Gerätehallen dienten.
Ethan Robinson lenkte den Wagen vor ein großes Haus, das anscheinend das Zentrum des Dorfes war.
„Willkommen in Dark Moon Creek“, brummte er. „Ich habe keine Ahnung, wo sich Theo gerade rumtreibt. Aber der Boss wird’s wissen.“
„Danke Ethan“, lächelte sie. „Und wo finde ich den Boss?“
Er zeigte zu dem zentralen Haus.
„Sein Büro ist dort. Viel Erfolg.“
Hannah stieg aus und sah dem Wagen nach, der zu dem nächstgelegenen Gebäude fuhr. Dann drehte sie sich um und betrachtete das Haus. Es war ebenfalls aus Holz und von allen das Größte. Vermutlich diente es auch als eine Art Versammlungsort.
Entschlossen steuerte sie auf die Eingangstür zu und trat in ein gemütlich aussehendes Foyer. Es war mit Sitzmöbeln und Bücherregalen ausgestattet. Eine weitere Tür führte in einen Korridor. Neugierig ging sie den Gang entlang und las die folgenden Türschilder: Versammlungsraum, Küche, Medienraum, Tucker O’Brian.
Sie blieb stehen und betrachtete amüsiert den Zettel, der neben dem Namensschild hing. Er war mit grob gezeichneten Knochen verziert und trug den Schriftzug: Lasst alle Hoffnung fahren.
Ohne weiter zu zögern, klopfte sie an die Holztür.
„Ja!“
Die Stimme klang tief und etwas kratzig, aber nicht unsympathisch. Sie drückte die Klinke herunter und betrat den Raum.
Hinter einem klobigen, wirklich hässlichen Schreibtisch saß ein großer bärtiger Mann, der sie aus grünschillernden Augen ansah. Etwas irritiert erinnerte sie sich, dass Ethan Robinson die gleiche Augenfarbe hatte. Ob die beiden verwandt waren?
„Was