Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig
untersten Erdschichten findet, sind den von der Natur bearbeiteten Steinen noch so ähnlich, dass es oft schwerfällt, zu entscheiden, wer hier der Meister war: der Mensch oder der Fluss oder einfach Hitze und Kälte, die ebenfalls, im Verein mit dem Wasser, Steine zu zersprengen und zerstückeln vermögen. Aber dann wurden andere Werkzeuge gefunden, über die es keinen Zweifel mehr gibt. In den Sandbänken und Uferrändern früherer Flüsse, die heute unter mächtigen Lehm- und Sandschichten begraben sind, fand man die vollständigen Werkzeuge des Urmenschen: sowohl fertige Faustkeile als auch die dazu gehörigen Splitter, die bei der Herstellung abgeschlagen wurden.
Sieht man sich solch einen Splitter an, so kann man deutlich die Stelle erkennen, auf die der Mensch schlug, um ihn gerade so abzuschlagen, dass der Faustkeil die gewünschte Form bekam. Solche Formen hätte die Natur nicht herstellen können, das vermochte nur der Mensch. Das ist selbstverständlich, denn in der Natur geht alles ohne Ziel und Plan vor sich. Der Wasserwirbel des Flusses schleuderte die Steine ohne jede Absicht gegeneinander. Der Mensch tat das Gleiche, aber bewusst, mit einem Ziel. Das Ziel und der Plan erscheinen so zum ersten Mal in der Welt.
Allmählich beginnt der Mensch die Natur zu verändern und zu verbessern, indem er den von der Natur geschaffenen Stein korrigiert. So erhob sich der Mensch um eine weitere Stufe über die anderen Tiere, er erhielt noch mehr Freiheit, er war nun nicht mehr abhängig davon, dass die Natur einen geeigneten Stein für ihn bereithielt. Er konnte jetzt sein Werkzeug selbst herstellen.
Mit Mühe und Not sind unsere Vorlesungen bis hierher fortgeschritten, und wir haben noch immer nicht gesagt, wo und wann unser Protagonist geboren wurde. Noch nicht einmal sein genauer Name wurde genannt. An der einen Stelle bezeichnen wir ihn als „Affenmenschen“, an einer anderen als „Urmensch“, an einer dritten – noch unbestimmter – als „unseren Waldvorfahren“. Wenn wir den ganz frühen Menschen betrachten, der dem Affen noch sehr ähnlich ist, so nennt ihn die Wissenschaft, wie schon einmal erwähnt, Pithekanthropus, Sinanthropus und Heidelberger Mensch. Vom Letzteren ist nur ein Kiefer erhalten, der nahe der Stadt Heidelberg gefunden wurde. Nach diesem Kiefer zu schließen, hat der Besitzer den Namen eines Menschen wohl verdient: Er hat keine tierischen, sondern menschliche Zähne, und die Eckzähne ragen nicht wie beim Affen über die anderen Zähne hinaus.
Und doch ist der Heidelberger Mensch noch kein richtiger Mensch, sondern im Übergang begriffen, was man deutlich an seinem nach hinten fliehenden Affenkinn erkennen kann. Pithekanthropus, Sinanthropus und Heidelberger Mensch – drei Namen, mit denen unser Protagonist im gleichen Alter und auf der gleichen Entwicklungsstufe bezeichnet wird. Jedoch wollen wir uns nicht mit der wissenschaftlichen Namensgebung zu lange aufhalten. Wir sollten noch berücksichtigen, dass wir allerdings eines NICHT sagen können: Unser Protagonist ist in diesem oder jenem Jahr geboren. Warum? Weil er eben nicht in einem Jahr zum Menschen geworden ist. Hunderttausende von Jahren waren nötig, damit der Mensch gehen lernte und sich Werkzeuge herstellen konnte. Auf die Frage, wie alt der Mensch sei, gibt es nur eine annähernde Antwort: Ungefähr zwischen 1,6 und 2,1 Millionen Jahren. Nicht zu verwechseln mit seiner Ablösungsphase vom Affen, die bereits vor 5 Millionen Jahren begann.
Im Jahr 1960 fanden die berühmte Paläoanthropologin Mary Leakey und ihr Sohn Jonathan in 1,8 Millionen Jahre alten Sedimenten der Olduvai-Schlucht in Tansania einen Unterkiefer, ein paar Handknochen und Trümmer einer Schädeldecke. Marys Ehemann Louis Leakey analysierte die Fossilien und verkündete vier Jahre später, sie müssen zu der frühesten bislang bekannten Art der Gattung Homo, unserer Gattung, gehören. Aus den Olduvai-Funden, die als OH7 bekannt wurden, schloss er, das Wesen müsse schon in der Lage gewesen sein, sehr geschickt (lateinisch habilis) zu greifen. Daher der Name der frühen Menschenart: Homo habilis. (Das wäre unser vierter Name.)
Damit traten die Leakeys eine jahrzehntelange Debatte los: Handelte es sich wirklich um Reste eines Exemplars unserer Gattung und nicht vielmehr um späte Vertreter der Australopithecinen, deren berühmteste Vertreterin die 3,2 Millionen Jahre alte „Lucy“ ist? Erst 2015 konnte man diesen Streit für endgültig beendet erklären, denn es erschienen gleich zwei neue Untersuchungen, die Licht auf die frühe Gattung Homo werfen. Die erste erschien in der Zeitschrift „Nature“, und in ihr haben Forscher des Max-Planck-Institutes für evolutionäre Anthropologie in Leipzig zusammen mit Kollegen aus England und Tansania die OH7-Fossilien mit modernen Methoden untersucht. Mittels Computersimulation konnten sie den stark deformierten Unterkiefer virtuell in seine ursprüngliche Form bringen und mit anderen Homo-Fossilien aus der Zeit zwischen 2,1 und 1,6 Millionen Jahren vergleichen.
Für Fred Spoor vom University College in London, einem Mitautor der „Nature“-Studie zu OH7, beginnt diese Entdeckung die evolutionsgeschichtliche Lücke zu füllen, die sich bislang zwischen den letzten Australopithecinen und den frühesten Vertretern unserer eigenen Gattung auftat. In derselben Ausgabe von „Science“ erschien zudem eine Arbeit derselben amerikanischen Forschergruppe, die anhand fossiler Faunenreste zeigen konnte, dass die Region von Ledi-Geraru vor 2,8 Millionen Jahren trockener wurde als sie vorher gewesen war. Dass ein Klimawandel in Ostafrika hin zu einer trockeneren, offeneren Savannenlandschaft einst die Entwicklung der Gattung Mensch befördert hat, war schon oft als Hypothese aufgestellt worden, nun gibt es einen weiteren Hinweis darauf, dass sich die Entstehung der Menschheit möglicherweise wirklich durch einen Klimawandel beschleunigte.
Bevor wir dieses (zweifellos wichtige) Thema im Zeitraffer streifen, sollten wir verstehen, wie unsere Vorahnen die Zeit als eine nutzbringende Einheit entdeckten und sie nicht nur instinktiv als Tag-/Nacht-Rhythmus erlebten. Die Entdeckung der Zeit und ihr werktäglicher Gebrauch war so wichtig wie die Entdeckung und der Gebrauch des Feuers. Jedermann weiß, wie man Eisen oder Öl gewinnt und wie man Feuer macht. Wie aber macht man Zeit?
Schon sehr früh lernte der Mensch die Zeit gewinnen. Als er begann, sich Werkzeuge zu machen, trat damit in sein Leben eine ganz neue Beschäftigung, eine wirklich menschliche Beschäftigung, die Arbeit. Aber Arbeit braucht Zeit. Um ein Steinwerkzeug herzustellen, muss man zunächst einen geeigneten Stein finden. Nicht jeder beliebige Stein ist brauchbar. Am besten eignet sich der harte, dichte Feuerstein. Aber solche Feuersteine lagen nicht beliebig umher, man musste sie suchen. Viele Stunden vergingen bei der Suche, und es kam mitunter vor, dass das Suchen ergebnislos verlief. Dann war der Mensch gezwungen, weniger harte Kieselsteine zu nehmen.
Wenn er aber nun endlich einen geeigneten Stein gefunden hatte, musste er ihn zurechtschlagen und schleifen, um ihm die richtige Form zu geben. Die Bearbeitung – das erforderte abermals Zeit. Überdies waren die Finger des damaligen Menschen nicht so geschickt und beweglich wie heute – sie lernten ja erst arbeiten. Wahrscheinlich verging über die Herstellung eines groben Steinkeils viel mehr Zeit, als man vor hundert Jahren benötigte, um eine stählerne Axt in Handarbeit herzustellen. Heute erledigen das Maschinen im Minutentakt.
Wo war für den Urmensch für all das die Zeit herzunehmen?
Er hatte sehr wenig freie Zeit, sicherlich noch weniger als selbst die superbeschäftigten Menschen unserer Tage. Von morgens bis abends wanderte er durch Wälder und über Wiesen, um Nahrung zu suchen. Nahrungssuche und Essen – damit verging die ganze Zeit, wenn er nicht schlief. Und das Essen war so beschaffen, dass es großer Mengen bedurfte, um satt zu werden. Man musste in der Periode vor der Entdeckung der Jagd (die mit der Entdeckung des Werkzeugs möglich wurde) sehr viel essen, da das Menü nur aus Beeren, Nüssen, Schnecken, Mäusen, jungen Pflanzentrieben, essbaren Wurzeln, Larven und ähnlichem Kleinzeug bestand.
Die Menschenherde weidete damals im Wald wie eine Hirschherde, die nichts anderes tut als Gras und Blätter rupfen und kauen. Wenn man aber den ganzen Tag Essen suchte und kaute, wann konnte man dann arbeiten? Es stellte sich jedoch heraus, dass die Arbeit eine wunderbare Eigenschaft besitzt: sie nimmt nicht nur Zeit, sondern sie gibt sie auch. Wenn man nämlich in vier Stunden das schaffen kann, wozu ein anderer acht Stunden braucht, so bedeutet das: man hat vier Stunden gewonnen. Denkt man sich ein Werkzeug aus, mit dem man doppelt so schnell arbeitet als bisher, so hat man die Hälfte der Zeit eingespart, also Zeit gewonnen, die jene Arbeit bisher erforderte.
Diese Methode, sich Zeit zu verschaffen, hat schon der Mensch der Urzeit erfunden. Zwar musste man viele Stunden aufwenden, um einen Stein zu schärfen, dafür konnte man aber nachher mit diesem scharfen Stein die Larven unter der Baumrinde viel leichter hervorkratzen.