Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig

Tag 1 - Als Gott entstand - Stefan Koenig


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nicht beachtend; „so pia pia“ – trippelnd gehen; „so gowu gowu“ – leicht hinkend gehen, mit nach vorn gebeugtem Kopf.

      Jedes dieser Ausdrücke ist ein Lautbild, das die betreffende Gangart in den kleinsten Einzelheiten genau darstellt. Es sind ebenso viele Ausdrücke vorhanden, wie es verschiedene Gangarten gibt. Das Bild der Geste ist durch ein Wortbild ersetzt worden. So lernte der Mensch sprechen – zunächst mit Gesten und dann mit Worten.

      Was haben wir bei unserer bisherigen Reise in die Vergangenheit entdeckt?

      Wie der Reisende, der stromaufwärts dem Fluss folgt, so sind auch wir zu jenem kleinen Bächlein gelangt, von dem der breite Fluss menschlicher Erfahrung seinen Anfang nahm. Dort, am Oberlauf, haben wir den Beginn der menschlichen Gesellschaft, den Beginn der Sprache und den Beginn des Denkens gefunden. So wie der Fluss wasserreicher wird mit jedem Nebenfluss, der in ihn mündet, wird auch der Fluss der menschlichen Erfahrung immer breiter und tiefer, indem jede Generation die von ihm gesammelte Erfahrung weiterträgt.

      Generationen – eine nach der anderen – versanken in der Vergangenheit. Hätten sie keine Spuren hinterlassen, so wären Menschen und Stämme verschwunden, Städte und Dörfer in Staub zerfallen, ohne eine Erinnerung zu hinterlassen. Es scheint, als gäbe es nichts, das vor der zerstörenden Kraft der Zeit standhalten könnte.

      Nur die Erfahrung der Menschheit ist nicht verschwunden. Sie besiegte die Zeit, sie blieb am Leben, in der Sprache, im Handwerk, in der Wissenschaft. Jedes Wort der Sprache, jede Bewegung bei der Arbeit, jeder Gedanke der Wissenschaft ist gesammelte, vereinigte Erfahrung der Generationen. Keine Arbeit ist umsonst, ist verloren gegangen, so wie kein Nebenfluss im Strom verloren geht. Im Fluss der menschlichen Erfahrung ist die Arbeit des Menschen, die irgendwann früher lebten, mit der Arbeit der Menschen, die heute leben, zu einem Ganzen zusammengeflossen.

      So sind wir zum Oberlauf des Flusses gekommen, an den Anfang all unserer Unternehmungen. Hier entstand der Mensch – jenes Wesen, das arbeitet, spricht und denkt. Wenn wir auf die Jahrtausende zurückblicken, die den Menschen vom Affen trennen, so erinnern wir uns der klugen Worte jener großen Philosophen, die bereits neun Generationen vor uns feststellten, dass die Arbeit den Menschen geschaffen hat.

      In der folgenden Vorlesung machen wir einen großen Zeitsprung. Wir versuchen nachzuvollziehen, wie unsere Vorfahren die Welt, die Gestirne und Naturgewalten zu verstehen lernten. Wir wohnen der Erfindung zweier neuer Berufszweige bei und lernen die Neueinsteiger näher kennen: den Häuptling und den Medizinmann. Wir erleben, wie der damalige Mensch die Unbegreiflichkeiten seiner Umwelt mit Mystik mühsam zu erklären versucht. Wir erleben, wie er medizinische Heilung und Heilung seiner dramatischen Lebensängste in einer Form sucht, die wir bald schon als „Religion“ bezeichnen können. Wir erleben, wie sich die Religion viertausend Jahre vor unserer Zeit als notwendige erste „Wissenschaft“ etabliert, wie fester Glaube, wie Ziel und Plan, wie unsicheres Glaubenswissen sich mit astronomischem Wissen durch exakte Beobachtung ergänzen – und endlich werden wir verstehen, weshalb eine Jahrtausende lang geübte und von über 200 Menschengenerationen übertragene und verfestigte Glaubenstradition trotz aller neuester Wissenschaftserkenntnisse noch existieren kann.

      In den darauf folgenden Vorlesungen untersuchen wir Funktion und Stellenwert der Religion in den Gesellschaften des Altertums und wie die ansehnlichen (und sichtbaren) Naturgottheiten allmählich zu abstrakten Göttern mit bloßen Oberbegriffen werden. Wir untersuchen den ökonomischen Stellenwert der Religion in den zurück liegenden Jahrtausenden und werden wahrscheinlich erkennen müssen, dass sie am gesellschaftlichen Fortschritt in einem widersprüchlichen Entwicklungsprozess ebenso notwendig war wie die Sklaverei notwendig war, um die Produktivkräfte zu bündeln und vorwärts zu treiben. Und dann gibt es natürlich Wendepunkte, wo Sklaverei und Irrglaube der menschlichen Gesellschaft keinen Fortschritt mehr bringen und hinderlich werden.

      Vorlesung 6

      Wir haben in den bisherigen Vorlesungen die Entwicklung der Welt verfolgt, wie sie von den Altertumswissenschaftlern, von Archäologen, Biologen, Genforschern, Sprach- und vielen anderen Wissenschaftlern erforscht wurde, und wir haben insbesondere die Entwicklung der ersten menschlichen Gesellschaften erkunden können. Heute beginnen wir die Vorlesung mit Höhlenzeichnungen. Wir erforschen ihre Bedeutung und suchen den Sinn in diesen vorzeitlichen Künsten. Führen sie uns zum Geburtsort Gottes?

      Dazu treten wir erst einmal in die Wohnung unserer Vorfahren ein. Wie wir wissen, veränderte sich mit dem Leben des Menschen auch seine Wohnung. Wenn wir die Geschichte des Hauses schreiben wollten, müssten wir mit der Höhle beginnen. Dieses Haus, von der Natur geschaffen, hat der Mensch nicht gebaut, sondern er hat es vorgefunden. Die Menschen der Urzeit verbesserten die Höhle, bearbeiteten sie mit dem Werkzeug, das sie entwickelt hatten. In Südfrankreich ist eine solche Wohnung des Urmenschen erhalten geblieben. In der Nähe des Eingangs wurde die Grube für den Herd gegraben und mit Steinen ausgelegt. Die Ortsbewohner gaben der Höhle vor etwas über hundert Jahren den seltsamen Namen „Teufelsherd“. Sie meinten, nur der Teufel hätte sich an dem Herd einer solchen Höhle aus riesigen Steinen wärmen mögen. Hätten sie die Geschichte ihrer eigenen Vorfahren besser gekannt, so hätten sie verstanden, dass dieser „Teufelsherd“ nicht von einem Teufel, sondern von Menschenhand geschaffen wurde.

      Der „Teufelsherd“ ist zur Hälfte Haus, zur Hälfte Höhle. Von hier aus war es nicht mehr weit zu einem richtigen Haus. Aber wir wollen nicht noch in die Geschichte der menschlichen Behausungen eindringen, so interessant dies unter evolutionsgeschichtlichen Aspekten auch ist. Jedoch müssen wir unbedingt eine Behausung besuchen. Warum? Weil uns die Bildersprache vielleicht wichtige Informationen geben kann. Gehen wir also in die Teufelsherd-Höhle. Gleichartige Höhlen, noch viel bekanntere, die sogar touristisch erschlossen wurden, hat man in den letzten achtzig Jahren entdeckt.

      Wir betreten die Höhle in einer Zeitmaschine und sehen neben dem Herd an einer Art Hobelbank aus Steinplatten einen Mann sitzen. Er befestigt an dem Schaft eines Wurfspeeres eine Knochenspitze. Neben ihm ritzt ein anderer mit einem steinernen Meißel irgendeine Zeichnung in eine Knochenplatte ein. Wir wollen einmal näher treten und sehen, was er eigentlich zeichnet oder richtiger gesagt einritzt.

      Mit wenigen dünnen Strichen stellt er auf der Platte die Figur eines weidenden Pferdes dar. Mit erstaunlichem Geschick sind die schlanken Beine, der gestreckte Hals mit der kurzen Mähne, der große Kopf nachgebildet. Das Pferd scheint geradezu lebendig: Gleich wird es von einem Fuß auf den anderen treten; die Bewegung der Beine, die Haltung des Kopfes sind so gut wiedergegeben, als sähe der Maler das Tier vor sich. Das Bild ist fertig, aber der Maler setzt die Arbeit ohne Pause fort. Mit einem schrägen Strich streicht er das Pferd durch. Ein zweiter Strich und ein dritter. Über dem Pferd entsteht auf der Platte eine sonderbare Skizze.

      Was macht denn dieser Meister der Urzeit? Warum verdirbt er die Zeichnung, um die ihn ein heutiger Maler eventuell beneiden würde? Die Skizze wird immer komplizierter. Und jetzt sehen wir zu unserem höchsten Erstaunen, dass über dem Körper des Pferdes die Zeichnung einer Laubhütte erscheint. Neben die erste Laubhütte setzt er noch eine weitere, schließlich ein ganzes Lager. Was bedeutet diese sonderbare Zeichnung? Ist das etwa irgendein Einfall, einfach eine Laune des Zeichners?

      Nein, in den Höhlen der Urmenschen können wir eine ganze Kollektion ebensolcher sonderbaren Darstellungen finden. Da ist ein Mammut, über dem zwei Laubhütten gezeichnet sind, und hier ein Bison mit drei Hütten. Und hier haben wir eine ganze Szene. In der Mitte ist ein halb ausgeweideter, aufgefressener Bison dargestellt. Übrig geblieben sind nur der Kopf, die Wirbelsäule und die Beine. Der buckelnasige, bärtige Kopf liegt zwischen den Vorderbeinen. An der Seite stehen die Menschen in einer Reihe.

      Auf Knochenplatten, Steinplatten und Felsen sind viele solcher rätselhaften Zeichnungen und Schilderungen von Tieren, Menschen und Behausungen erhalten geblieben. Die meisten befinden sich aber an Höhlenwänden. In einer der Vorlesungen, zu Beginn unserer Höhlenausgrabungen, haben wir an den Wänden diese Darstellungen noch nicht gefunden. Aber wir sind damals nur am Eingang gewesen, wo die Menschen arbeiteten, aßen und schliefen.

      Versuchen wir, in die Tiefe der Höhle hineinzusehen, all ihre


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