Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig

Tag 1 - Als Gott entstand - Stefan Koenig


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auf der Suche nach Gott.

      Plötzlich sehen wir an der Wand einen mit schwarzer und roter Farbe dargestellten Bison. Er ist auf die Vorderbeine gestürzt. In seinem Buckel stecken Wurfspeere. Wir betrachten das Werk des Mannes, der hier vor Zehntausenden von Jahren gearbeitet hat. Etwas weiter entdecken wir wieder eine Zeichnung. Ein Ungeheuer tanzt an der Wand: Das ist entweder ein tierähnlicher Mensch oder ein menschenähnliches Tier. Es hat einen bärtigen Kopf mit langen, gebogenen Hörnern, einen Buckel auf dem Rücken und einen zottigen Schwanz. Arme und Beine sind die eines Menschen. In den Händen hält es einen Bogen.

      Wenn wir aufmerksam hinsehen, erkennen wir, dass es ein Mensch ist, der sich das Fell des Bisons übergezogen hat. Nach dieser Zeichnung kommt eine andere, eine dritte, eine vierte … Welch eine seltsame Bildergalerie! Heutzutage arbeiten die Maler in hellen Ateliers und stellen ihre Werke in Museen und Ateliers aus – in beleuchteten Räumen, gut sichtbar für alle. Was konnte die Urmenschen veranlassen, eine Bilderausstellung in einem dunklen Erdgewölbe einzurichten, so weit weg von allen menschlichen Blicken?

      Daraus geht hervor, dass der „Künstler“ vor Jahrtausenden seine Bilder nicht malte, damit man sie betrachtete. Wozu aber sonst malte der Maler der Urzeit? Was bedeuten diese uns unverständlichen Figuren tanzender Menschen in tierischen Masken?

      „An dem Tanz nehmen mehrere Jäger teil. Jeder von ihnen trägt auf dem Kopf Schädel und Fell eines Bisons oder eine Bisonmaske mit Hörnern. In der Hand hat jeder Eingeborene einen Bogen oder eine Lanze. Der Tanz stellt eine Bisonjagd dar. Wenn einer der Eingeborenen müde wird, lässt er sich fallen. Ein anderer schießt dann einen Pfeil mit dem stumpfen Ende gegen ihn ab, der Bison ist verwundet. Man schleppt ihn an den Beinen aus dem Kreis heraus und schwingt über ihm die Messer. Dann wenden sie sich ab, und ein anderer, ebenfalls in der Maske des Bisons, übernimmt seinen Platz im Kreis. Ein solcher Tanz dauert mitunter zwei oder drei Wochen, ohne auch nur für eine Minuten aufzuhören.“

      Dies berichtet ein Augenzeuge von einem Jagdtanz der Eingeborenen. Wo konnte er das beobachten? Er hat ihn in den Steppen Nordamerikas gesehen, wo noch heute hier und da bei den Indianerstämmen die Gebräuche der alten Jäger erhalten sind. Die Notizen des erwähnten Reisenden geben uns überraschenderweise die Beschreibung des gleichen Jagdtanzes wider, den die frühen Maler auf der Höhlenwand dargestellt haben. Das Rätsel dieser Zeichnung, die bisher für uns unverständlich war, ist gelöst. Aber die Enträtselung gibt uns wieder ein neues Rätsel auf.

      Was für ein sonderbarer Tanz, der Wochen dauert? Für uns ist der Tanz Unterhaltung oder Sport oder Kunst. Und es ist schwer, sich vorzustellen, dass die Indianer drei Wochen hintereinander bis zur Erschöpfung tanzen, nur aus Liebe zur Kunst oder aus Langeweile oder aus sportlichem Enthusiasmus. Ihr Tanz hat mehr Ähnlichkeit mit einer kultischen Handlung als mit einem Tanz.

      Unsere Tänze werden von Tanzlehrern eingeübt und geleitet. Bei den Ureinwohnern wird der Tanz vom Medizinmann dirigiert. Nach der Seite, in die er den Rauch seiner Pfeife bläst, bewegen sich die Tanzenden und verfolgen das vorgestellte Tier. Mit dem Rauch veranlasst der Medizinmann die Tanzenden, sich nacheinander nach Norden und Osten, nach Süden und Westen zu wenden. Wenn der Medizinmann aber den Tanz leitet, dann heißt dies, dass es kein Tanz ist, sondern ein beschwörender, magischer Brauch.

      Mit ihren sonderbaren Bewegungen suchen die Indianer den Bison zu beschwören; mit der geheimnisvollen Kraft der Zauberkunst wollen sie ihn in die Prärie locken. Und dieselbe Bedeutung hat auch der tanzende Mensch an der Höhlenwand. Es ist kein gewöhnlicher Tänzer, sondern ein Mensch, der einen magischen Zauber beschwört. Und der Maler, der in das Erdgewölbe eindrang, um im Lichte einer Fackel zu malen, war nicht nur ein Maler, sondern ebenfalls ein Zauberer. Wenn er die Jäger in Tiermasken und die verwundeten Bisons darstellte, so führte er eine Beschwörung aus für eine erfolgreiche Jagd. Er glaubte fest daran, dass der Tanz dem Werk nützlich sei. Uns erscheint das primitiv und sinnlos.

      Wenn wir ein Haus bauen wollen, tanzen wir nicht, indem wir die Bewegungen der Maurer und Zimmerleute nachahmen. Wenn es einem Lehrer einfiele, vor der Stunde mit einem Lineal in den Händen zu tanzen, dann würden wir schnell RTL oder einen Psychiater rufen. Aber was wir als Unsinn bezeichnen, scheint unseren Vorfahren eine ernste Sache gewesen zu sein. Einen Rest dieser „ernsten Sache“ sehen wir noch an vielen Gebräuchen. Bei unserer heutigen Hausweihe ist es vielleicht das Richtfest – aber wir vollführen keine wochenlangen Nachahmungstänze, nehmen dies nicht mit dem Handy auf und verstecken das Mobilphone anschließend in einer Höhle. Was wir manchmal verstecken, das ist der Bauplan im Sockelstein des Fundamentes.

      Wir haben nun eine der seltsamen Zeichnungen enträtselt; wir haben verstanden, warum auf der Höhlenwand ein tanzender Mensch dargestellt wurde. Wir haben aber noch andere, nicht weniger rätselhafte Zeichnungen gesehen. Ihr erinnert euch, da war eine Erzählung mit einem Stift in eine Knochenplatte geritzt. In der Mitte der Platte war ein ausgeweideter Bison dargestellt, und ringsherum Jäger; vom Bison waren nur der Kopf und die Vorderbeine übrig.

      Was bedeutet diese Zeichnung?

      Um dieses Rätsel zu lösen, muss man sich nicht nach Amerika, sondern in den äußersten Norden von Russland begeben. In Sibirien erinnert man sich noch der Zeit, als die erfolgreiche Jagd auf einen Bären mit dem sogenannten „Bärenfest“ begangen wurde. Man trug den Bären ins Haus und legte ihn feierlich auf einen Ehrenplatz. Der Kopf des Bären kam zwischen die Pfoten. Vor den Kopf des Bären stellte man mehrere Figuren von Hirschen, die aus Brot und Birkenrinde gemacht waren. Es war ein Opfer, das man dem Bären brachte. Die Schnauze des Bären wurde mit Birkenrinde geschmückt, auf die Augen legte man silberne Münzen. Dann traten die Jäger an das Tier heran und küssten ihm die Schnauze.

      Das war der Anfang des Festes, das mehrere Tage und Nächte dauerte. Jede Nacht versammelten sich die Menschen vor den sterblichen Resten des Bären, sangen und tanzten. Mit Masken aus Birkenrinde oder Holz gingen die Jäger zum Bären, verbeugten sich tief vor ihm und begannen zu tanzen, indem sie seinen plumpen Gang nachahmten. Nach den Liedern und Tänzen kam das Essen: Man aß das Bärenfleisch, ließ aber Kopf und Vorderpfoten unberührt.

      Und nun ist uns klar, was die Zeichnung auf der Knochenplatte bedeutet. Es ist das „Bisonfest“. Die Leute, die den Bison umringen, danken ihm dafür, dass er ihnen sein Fleisch gegeben hat, und bitten ihn, das nächste Mal ebenso entgegenkommend zu sein.

      Auch bei den Indianern finden wir solche Jagdfeste. Die Jäger vom Stamme der Quicholos legen den getöteten Hirsch so hin, dass seine Hinterbeine nach Osten zeigen. Vor seiner Schnauze stellt man eine Schüssel mit verschiedenen Gerichten. Die Jäger kommen der Reihe nach herbei, streicheln den Hirsch mit der rechten Hand von der Schnauze bis zum Schwanz und danken ihm dafür, dass er ihnen erlaubt hat, ihn zu töten.

      „Erhole dich wieder, älterer Bruder!“ sprechen sie dabei.

      Der Medizinmann richtet eine Rede an das Tier: „Du hast uns dein Geweih gebracht, dafür danken wir dir.“

      Lasst uns kurz abschweifen. Wenn man den Märchen glaubt, ist die ganze Welt von geheimnisvollen Wesen bevölkert – von guten und bösen, sichtbaren und unsichtbaren. In dieser Welt muss man immer auf der Hut sein, man darf sich nicht den Zorn des rachsüchtigen Zauberers oder der bösen Hexe zuziehen. Seinen Augen darf man da nicht trauen: Die scheußliche Kröte kann sich im nächsten Augenblick als eine wundervolle Schönheit erweisen; ein guter Junge kann sich in eine ungeheure Schlange verwandeln. Alles geschieht nach absonderlichen Gesetzen: Die Toten leben wieder auf, abgeschlagene Köpfe sprechen, Ertrunkene locken die Fischer ins Wasser.

      Doch kaum schlagen wir das Märchenbuch zu, so kehren wir sofort in die Wirklichkeit zurück, in der es keine Zauberer und Hexen gibt und in der man alles prüfen und erklären kann. Obwohl sie bezaubernd ist, würden wir kaum in der Märchenwelt leben wollen, wo die Vernunft machtlos ist und das Glück den Prinzen beschützen muss, damit er bei der Begegnung mit der Hexe nicht zugrunde geht.

      Aber gerade so sah für unsere Vorfahren die Welt aus. Für sie waren die Märchenwelt und die wirkliche Welt ein und dasselbe. Ihnen schien alles dem guten oder bösen Willen unbekannter Mächte untertan zu sein, die die Welt regierten.

      Wenn wir über einen Stein stolpern


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