Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig

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Geist, der ihm den Stein in den Weg legte.

      Wenn ein Mensch an einem Dolchstoß stirbt, so sagen wir: Es war der Dolchstich, der seinen Tod herbeiführte. Die Urmenschen jedoch hätten gesagt: Er starb, weil der Dolch, mit dem man ihn stach, verzaubert war.

      Gewiss gibt es auch heute noch Leute, die glauben, dass man vom bösen Blick krank wird, dass man am Montag nichts Neues beginnen soll und dass die schwarze Katze, die über den Weg läuft, Unglück bringt. Darüber können wir lachen. In unserer Zeit ist es unverzeihlich, abergläubisch zu sein, da der Glaube an unbekannte Kräfte nur da herrscht, wo kein Wissen ist.

      Unseren Vorfahren dürfen wir es aber nicht übelnehmen, dass sie an Zauberer und Geister glaubten. Gewissenhaft bemühten sie sich, alles zu erklären, was um sie herum war. Aber sie wussten zu wenig, um die richtigen Erklärungen zu finden. Doch manchmal führte sie ihr Glaube an eine Vermutung heran, die einer natürlichen Erklärung schon ziemlich nahe kam. Dann ersetzte ihr Glaube gewissermaßen das, was die Wissenschaft heute Hypothese nennt. So hatte damals, ganz in den Anfängen der Welterklärungsversuche, der Glaube eine wichtige Funktion, ohne die es zweifellos nicht vorangegangen wäre.

      Unsere Ur-Vorfahren konnten keine Ahnung von den Gesetzen der Natur haben. Sie mussten sich tastend bemühen, auf gut Glück den Grund für ein sie erschütterndes Ereignis aufzudecken.

      Die Erfahrung lehrt den Menschen, dass alle Dinge der Welt irgendwie zusammenhängen. Aber da er den eigentlichen Zusammenhang nicht kennt, beginnt er, an einen magischen Einfluss zu glauben, den ein Ding auf das andere ausübt. Angst und Vorsicht sind alltäglich gegenwärtig, das kann auch gar nicht anders sein. Alles irgendwie Ungewöhnliche erscheint den Urmenschen als Zauberwerk. Um sich vor bösem Zauber zu schützen, muss man irgendwie einen Talisman tragen: eine Kette aus wehrhaften Krokodilzähnen, ein Armband aus Elefantenhaar. Talisman – das ist ein Wächter, der seinen Träger vor allem Unheil beschirmt. Er ist bis heute erhalten. Und schon die Urmenschen trugen ihn. Davon sprechen die bei den Ausgrabungen gefundenen Talismane, davon erzählen die magischen Zeichnungen in den Höhlen.

      Vorlesung 7

      Unkenntnis gebiert die Angst in der Welt. Und da der Mensch keine Kenntnisse besaß, so benahm er sich in der damaligen Welt nicht wie ein Herr, sondern wie ein schüchterner, jämmerlicher Bittsteller. Es war noch zu früh für den Menschen, sich als Herr der Natur zu fühlen. Er war zwar kräftiger als alle Tiere der Welt geworden, er hatte das Mammut besiegt, aber im Vergleich mit den starken Mächten der Natur, die er nicht regieren konnte, war er immer noch ein schwaches Wesen. Eine missglückte Jagd konnte ihn für Wochen zum Hungern verurteilen. Ein Schneesturm konnte ihm seine Jagdhütte verwehen. Was gab dem Menschen die Kraft, zu kämpfen und auf dem Weg zur Beherrschung der Natur einen Schritt nach dem anderen zu machen?

      Er hatte diese Kraft, weil er nicht allein war. Mit der Gemeinschaft, in der Horde, kämpften die Menschen gegen die feindlichen Kräfte der Natur. In der Gemeinschaft arbeiteten sie, und in der Arbeit erwarben und sammelten sie Erfahrung und Wissen.

      Allerdings, sie selbst erkannten dies kaum, oder vielmehr sie erkannten es auf ihre eigene Art.

      Sie wussten nicht, was das ist: „menschliche Gesellschaft“. Aber sie fühlten, dass sie miteinander verbunden waren, dass die Menschen einer Gemeinde wie ein einziger großer, vielhändiger Mensch waren.

      Was verband sie miteinander? Vor allem die Verwandtschaft. Sie lebten in einem Stamm; die Kinder lebten mit ihren Müttern, und bei diesen Kindern wurden wiederum deren Kinder geboren, die mit ihren Brüdern und Schwestern, mit Onkel und Tanten, Müttern und Großmüttern zusammenblieben. So breitete sich das Geschlecht aus. Die Gesellschaft der ursprünglichen Jäger ist ein Geschlecht, das von gemeinsamen Vorfahren abstammt. Alles verdanken sie ihren Vorfahren. Die Vorfahren haben sie gelehrt, zu jagen und Werkzeuge herzustellen, die Vorfahren haben ihnen die Wohnung und das Feuer verschafft – und die Rituale zur Besänftigung der Naturgewalten, die Beschwörungen, dass ihnen weiterhin Bison, Bär oder Hirsch als Mahlzeit zur Verfügung stehen mögen.

      Arbeiten und Jagen – das bedeutete, den Willen der Vorfahren erfüllen. Wer auf die Vorfahren hört, vermag dem Unglück und den Gefahren zu entgehen. Die Vorfahren leben bei ihren Nachkommen, sie sind bei der Jagd und im Haus unsichtbar anwesend. Sie sehen alles, und sie wissen alles. (Wir denken auch heute noch an unsere verstorbenen Eltern und Großeltern und fragen uns, was sie wohl sagen, wenn sie auf uns und unser Handeln herabschauen …) Die Vorfahren bestrafen das Schlechte und belohnen das Gute. So erscheint im Kopf des ursprünglichen Menschen die gemeinsame Arbeit für den gemeinsamen Nutzen als einfacher Gehorsam, als Ausführung der Befehle der gemeinsamen Vorfahren.

      Aber auch die Arbeit begreift der Urmensch nicht so, wie wir sie begreifen. Nach unseren Begriffen ernährt die Jagd auf den Bison die Jäger. Der ursprüngliche Jäger aber meint, dass der Bison ihn füttere. Noch heute nennen wir die Kuh unsere Ernährerin und die Erde unsere Mutter. Wir nehmen zwar der Kuh die Milch, ohne nach ihrem Einverständnis zu fragen. Trotzdem sagen wir, dass die Kuh uns die Milch „gibt“.

      Der Ernährer des ursprünglichen Jägers war das Tier – Bison, Bär, Mammut oder Hirsch. Nach der Vorstellung des Jägers tötete er nicht das Tier, sondern das Tier schenkte ihm Fleisch und Fell. Teile der Indianer glaubten noch im vorigen Jahrhundert, dass man ein Tier nicht gegen seinen Willen töten kann. Wenn der Bison getötet wurde, so nur deshalb, weil er sich den Menschen zum Opfer brachte, weil er wünschte, getötet zu werden. Der Bison war der Ernährer und Beschützer des Stammes. Gleichzeitig war er aber auch der gemeinsame Vorfahre der Beschützer des Stammes. So verbinden sich in der noch unklaren Vorstellung der beschützende Vorfahr mit dem beschützenden Tier, das den Stamm ernährt, zu einem einheitlichen Ganzen.

      „Wir, die Kinder des Bisons“, sagten die Jäger, und sie glaubten wirklich, dass der Bison ihr Vorfahr war. Wenn der Maler einen Bison zeichnete und über ihm drei Laubhütten, so bedeutete das: „Das Lager der Bisonkinder.“

      Durch seine Arbeit ist der Mensch mit dem Tier verbunden. Aber er begreift diese Bindung nur als Verwandtschaft, als Ähnlichkeit. Instinktiv spürt der damalige Mensch seine enge Verwandtschaft mit der Tierwelt, fühlt seine Abstammung und gibt dem in seinem Glauben Ausdruck. Wenn er ein Tier tötet, so bittet er es um Entschuldigung und nennt es seinen älteren Bruder. Er bemüht sich in seinen Bräuchen, in seinen Tänzen, dem Tier, seinem Bruder, ähnlich zu sein: er zieht sich dessen Fell über und ahmt seine Bewegungen nach.

      Der Mensch nennt sich noch nicht „Ich“, er fühlt sich als Teil, als Werkzeug des Stammes, des Geschlechts. Jedes Geschlecht hat seinen Namen, sein Totem. Das ist der Name des Tiervorfahren und des Beschützers. Daran glauben die Menschen der Urzeit. Sie sind jetzt noch Jahrtausende entfernt von einem Glauben an einen abstrakten Begriff wie Gott oder Allah oder Jahwe oder wie auch immer. Sie sind Ewigkeiten entfernt von Diskussionen um Urzelle, codierte Informationen, Mikro- und Makroevolution usw. Ihr Denken bewegt sich in einem völlig anderen Rahmen. Das eine Geschlecht nennt sich Bison, das andere Bär, das dritte Hirsch. Die Menschen sind bereit, ihr Leben für ihr Geschlecht zu geben. Die Bräuche des Geschlechts betrachten sie als Gebote des Totems, und die Gebote des Totems sind für sie Gesetz. So erstellt der Mensch das erste Regelwerk.

      Wir wollen noch einmal in die Höhle des ursprünglichen Menschen treten, uns neben den Herd setzen und mit ihm über seinen Glauben und seine Bräuche sprechen. Er soll uns selbst sagen, ob unsere Vermutungen richtig sind, ob wir die Zeichnungen richtig gedeutet haben, die er an die Wände der Höhle gemalt hat, als seien sie für uns bestimmt, und jene, die sich auf seinen Talismanen aus Knochen und Horn befinden.

      Wie aber können wir unseren seit Jahrtausenden toten Vorfahren zum Sprechen bringen? Längst schon hat der Wind die Asche aus dem Herd geweht, längst schon sind die Knochen der Menschen zerfallen, die hier irgendwann am Feuer ihre Werkzeuge aus Feuerstein und Horn bastelten und ihre Kleidung aus Tierfellen nähten. Selten nur finden wir in der Erde einen bleichen, ausgetrockneten Schädel.

      Wenn man ihn aber findet, wie kann man dann diesen Schädel zum Sprechen bringen? Wenn wir in der Höhle Ausgrabungen durchführten, so setzten wir Bruchstücke zusammen


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