Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig

Tag 1 - Als Gott entstand - Stefan Koenig


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und überschritten so die Grenze, die den Sammler vom Ackerbauern trennte. Mit den Früchten und Beeren brachten die Frauen die Körner von Gräsern, die der wilden Gerste und des wilden Weizens, mit nach Hause. Diese Körner hoben sie als Vorräte in Töpfen und Körben auf. Dabei geschah es mitunter, dass Körner auf den Boden fielen. Manche dieser Körner keimten. Die Saat ging auf.

      Zuerst säten die Menschen aus Versehen. Sie hatten einfach die Körner verloren. Danach wurden die Körner mit Absicht verstreut, wirklich gesät. Bei vielen Völkern haben sich Mythen und Legenden vom begrabenen und wiederauferstandenen Korn erhalten. Solche Legenden erzählen von einer Jungfrau und einem Jüngling, die lebendig in das Reich der Toten hinabsteigen, um später auf eine wunderbare Art auf die Erde zurückzukommen. Eine Wiederauferstehungsgeschichte.

      Mit der bewussten Aussaat hatte der Mensch eine wunderbare Vorratskammer gefunden. Richtiger wäre zu sagen, dass er sie nicht gefunden, sondern mit seiner Arbeit geschaffen hat. Um Felder und Weiden zu haben, brauchte man Boden. Diesen Boden musste man dem Wald abringen. Und dann musste er umgegraben und gelockert werden. Welche Mühe hat das alles gekostet!

      Die Freiheit, die Unabhängigkeit wurden dem Menschen nicht geschenkt, sondern mit harter Mühe erworben. Tausende von Hindernissen mussten überwunden werden. Die Sonne konnte die Ernte verdorren, das Gras auf Weiden und Wiesen verbrennen, der Regen konnte die Körner verfaulen lassen.

      Der Urjäger hatte den Bison oder den Bären gebeten, ihm sein Fleisch abzugeben. Der Urackerbauer bittet die Erde, den Himmel, die Wolken, die Sonne und das Wasser, dass sie ihm eine Ernte geben mögen. Die Menschen schaffen neue Gottheiten. Diese Gottheiten ähneln noch den früheren. Man stellt sie nach den alten Bräuchen als Tiere oder als Menschen mit Tierköpfen dar. Diese Tiere aber haben neue Namen und neue Aufgaben. Das eine heißt der Himmel, das andere die Sonne, das dritte die Erde. Ihre Aufgabe ist es, Licht und Dunkelheit zu schicken, Regen und Trockenheit.

      Unser Mensch ist größer und stärker geworden, aber er kennt immer noch nicht seine Kraft. Wie früher glaubt er immer noch, dass ihm das tägliche Brot vom Himmel und nicht durch seine eigene Hände Arbeit gegeben wird. Es sind die Tage, an denen Gott entsteht. Natürlich sind es jahrhunderttausende von Tagen. Die Gottheiten entstehen und wachsen mit den Fähigkeiten und Daseins-Erklärungen der Menschen.

      Vorlesung 8

      Wir erleben die Weiterentwicklung von Werkzeugen und Techniken in Hunderttausenden von Jahren. Wir erleben die Spezialisierung von Werkzeugmachern, die Herausbildung von – sagen wir – Berufen, und so kommt mit der Arbeitsteilung auch die Teilung der Gesellschaftsverhältnisse. Ein gewählter Stammesältester wurde nun zu einem Häuptling. Zuerst waren diese Häuptlinge abwählbar. Neben ihn traten tausende Jahre später Unterhäuptlinge. Neben dem Häuptling war der Medizinmann der Verbindungsmann zur unbegreiflichen Märchenwelt. Auch er wurde anfangs durch Proklamation gewählt. Er musste ein schlaues Kerlchen sein, der seinem Stamm am besten von allen die Welt erklären konnte. Es war jedoch auch der riskanteste Job, denn wenn seine Vorhersagen nicht eintrafen, konnte er sein Bündel packen. Und wenn er einen kranken Häuptling sterben ließ, wurde der Medizinmann gleich mit umgebracht, da sein Draht zu den Göttern ja offensichtlich nicht der Beste war.

      Im Fortgang der Urgesellschaft haben Häuptlinge und Medizinmänner ihren Status vererbt oder haben ihn durch Selbsternennung und Akzeptanz erreicht. Alle Horden- bzw. Stammesmitglieder hatten bis dahin in einer absolut gleichen – aber erbärmlich armen – Gemeinschaft gelebt. Allen gehörte alles. Jetzt aber wurde aus dem WIR zunehmend – in allerkleinsten Schritten – ein ICH. Stellen wir uns diesen Vorgang freilich nicht in kurzer Zeit vor. Auch hier verwandelte sich die Urgesellschaft langsam und schleichend, so wie alle damaligen Veränderungen mit einem enormen historischen Zeitfluss verbunden waren. Und nun differenzierten sich auch noch mit der Herausbildung sozialer Macht und der Arbeitsteilung die Eigentumsverhältnisse. Die Nahrungsmittel wurden zu privat tauschbaren Waren. Werkzeugmacher, Jäger, Feldbauern, Töpfer und viele andere „Berufe“ bestanden immer öfter auf der Einbehaltung des erzeugten Überschusses ihrer Waren. Häuptling und Medizinmann ihrerseits erwarteten von ihren spezialisierten Stammesmitgliedern einen Unterhalt. Das war ein entscheidender Wendepunkt.

      Wo war Gott zu dieser Zeit? Er war schon damals auf Seiten der Stammesmächtigen, wurde von ihnen genutzt, benutzt, war Erklärungs- und Droh-Objekt. Gott hatte seine Erfinder zu Stellvertretern gemacht. Besser gesagt: Die menschlichen Erfinder hatten Gott (beziehungsweise die diversen Götter) zu Erfindern der Stellvertretererzählung gemacht. Gott hatte seitdem seinen Stellvertreter und Interpreten auf Erden in Form eben jenes Medizinmannes, der zugleich der Erste unter Gleichen war, wenn es um die Beobachtung der Naturkräfte ging. Gab er zu oft Fehlbeurteilungen ab und es fand sich ein anderer „sachkundiger Forscher“ – quasi ein „wissenschaftlicher Wettbewerber“ –, dann wurde der bisherige Weissager mehr oder weniger friedlich abgelöst. Der Medizinmann musste seine „Verschwörungstheorien“ gut verkaufen, um glaubwürdig zu bleiben. Sein individuelles Schicksal war mit der Erklärung der kleinen, engen Welt seiner Gemeinschaft verquickt. Er musste sich bemühen. Er musste die Natur und die Wirkung seiner Rezepte bei Krankheiten exakt beobachten. Das führte die Naturerkenntnis vorwärts. Er stellte Glaubenssätze auf und führte Beschwörungsrituale ein. Beide Formen verschiedener Erklärungsarten waren im Grunde die ersten „wissenschaftlichen“ Hypothesen, mit denen eine recht hilflose, unwissende Urgesellschaft umzugehen lernte.

      Ganz kurz soll der weitere Verlauf der Menschheitsgeschichte skizziert sein: Mit dem Ursprung der Familie, des Privateigentums, mit der Herausbildung von militärischen Kämpfern entstand notwendigerweise jenes Gemeinschaftsgebilde, das die antiken Philosophen und wir heute den „Staat“ nennen.

      Machen wir weiter mit einem großen Zeitsprung. Lasst uns die Zeit der Ausbreitung der Menschheit, an den Flüssen und Meeren entlang, überspringen. Lasst uns im Zeitraffer auf Ägypten schauen.

      Selbst vor fünftausend Jahren noch war die Welt, die der Mensch bewohnte, eng. Wenn der Ägypter jener Zeit um sich schaute, sah er rechts und links steinerne Mauern – die Bergrücken der Libyschen und der Arabischen Wüste. In der Mitte floss der Nil. Vor ihm gähnte die unergründliche Tiefe des Meeres. Hinter ihm waren die Stromschnellen und Strudel – die Unterwelt, aus der sich der Nil zur Erde erhob. Über allen aber ruhte, als stütze sie sich auf die Bergwände, die blaue Kuppel des Himmels.

      Und der Ägypter glaubte, dieser enge Raum bedeute schon die ganze Welt.

      Ihren Fluss nannten die Ägypter einfach „Fluss“ und sich selber „Menschen“, als gäbe es keinen anderen Fluss und keine anderen Menschen auf dieser Welt. Sogar ihre nächsten Nachbarn, die Beduinen, hielten sie nicht für Menschen, sondern für Söhne des Teufels Apoph. Sie dachten, der Fremde sei kein Mensch. Gefangene wurden erschlagen. Der Krieger brachte dem Heerführer die abgehackte Hand des Feindes, um seine Belohnung zu erhalten.

      Der Rand der Welt war ganz nahe. Doch die Ägypter wagten nicht, an ihn heranzutreten. Vor ihnen blaute das Meer – ein offenes Tor in die Welt –, doch selbst das Meer erschien ihnen als unüberwindliche Mauer. Die Priester sagten, das Salz des Meeres sei Schaum aus dem Mund des bösen Meeresgottes, und es sei sündig, Salz auf den Tisch zu bringen.

      Viele Jahrhunderte lang verließen die Ägypter ihr enges Haus nicht. Die Zeit verstrich. Immer mehr Getreide brachte der Gabenspender Nil den Menschen. Doch schenkte er diese „Gabe“ nicht ohne Gegengabe. Die Menschen arbeiteten. Sie bauten Dämme und Wehre. Sie leiteten das Nilwasser auf die Felder und sammelten für die Zeiten der Dürre. Die ganze Gemeinschaft arbeitete, und doch reichten die Hände nicht aus. Nun war es nicht mehr nützlich die Kriegsgefangenen zu erschlagen und ihnen die Hände abzuhacken, wie man das früher getan hatte. Der Ägypter ließ dem Gefangenen seine Hände, damit er für ihn arbeitete.

      Da sieht man sie, diese Gefangenen, wie sie sich dem ägyptischen Heerzug nachschleppen. Man treibt sie mit Stöcken an; sie sind Ellbogen an Ellbogen gefesselt. Das sind die Fremden, das sind die „Söhne des Teufels“. Das Wort „Sklave“ gibt es noch nicht. Das Neue, Ungewohnte wird mit alten Worten ausgedrückt: „Lebende Erschlagene“ nennt man die Gefangenen. Immer häufiger findet sich diese


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