Eine feine Gesellschaft – Marder Misties zweiter Fall. Kirsten Klein
wertvollen Stück, schnuppert zuerst eine Weile daran herum und dreht sich dann darauf im Kreis.
„Halt!“ In zwei Schritten ist die Sekretärin bei ihr, nimmt sie auf den Arm und wirft einen Blick durchs Fenster. „Warum muss die Dachterrasse bloß auf der anderen Seite sein?!“
Von ihrer erhöhten Warte aus, sieht auch Lady Fensterfronten der Bürobauten hinter dem Alsterfleet, die in der Junisonne aufblitzen. Im Wasser darunter spiegeln sich blendend weiße Torbögen von Arkaden. Angeführt von einem auffallend prächtigen Exemplar, gleiten Schwäne daran vorbei.
Aber weder Chihuahua noch Sekretärin verfügen jetzt über die nötige Muße, um diesen Ausblick zu genießen. Letztere schaut sich suchend um. „Wo ist bloß deine Leine?“
„Wuff!“, kläfft Lady, „hängt an der Garderobe!“ Jetzt hat die Sekretärin sie entdeckt, hakt sie an Ladys Geschirr und betritt den Flur. Erst dort setzt sie die Hündin wieder ab und seufzt genervt. „Jetzt muss ich auch noch anderer Leute Hunde ausführen, als wenn ich nichts Besseres zu tun hätte.“
„Musst du gar nicht“, kläfft Lady und schlüpft so geschwind rückwärts aus dem Geschirr, dass die Sekretärin noch völlig verdutzt darauf glotzt, als die Hündin längst an der Tür ist. Dahinter vernehmen ihre feinen Ohren eine Männerstimme. Irgendwie kommt die ihr bekannt vor, aber das verdrängt Lady sofort wieder, ist in Gedanken nur bei Sophia. Die muss auch dort sein. Lady erkennt ganz eindeutig ihr Parfum, hüpft höher und höher. Ehe die Sekretärin sie stoppen kann, erreicht sie die Klinke, drückt sie herunter und entweicht durch die aufspringende Tür.
Unmittelbar darauf vernimmt die junge Frau den Entsetzensschrei ihres Chefs. Eine Entschuldigung nach der anderen hervorstoßend, will sie ihn vor dem kleinen Raubtier beschützen. Doch das liegt längst zufrieden in Sophias Armen.
„Können Sie nicht aufpassen?“, maßregelt der Psychotherapeut mühsam beherrscht seine Sekretärin, mit knallrotem Kopf und Angstschweiß in den Haaren, die man fast zählen kann. Jetzt kleben sie am Hinterkopf, worüber er sie gekämmt hat, um sie fülliger erscheinen zu lassen. Sophia tritt diskret beiseite und beruhigt Lady. „Du musst dir doch keine Sorgen um mich machen, meine Süße. Hier passiert mir nichts. Der Onkel Doktor will mir bloß helfen.“
„Onkel Doktor!“, kläfft Lady spöttisch. „Der braucht ja selber einen. Wie soll der dir denn helfen?“ Wieder glaubt sie seine Stimme von irgendwoher zu kennen, kommt aber nicht darauf. Na ja, zumindest macht der Typ einen harmlosen Eindruck.
Sophia legt ihre Hündin der Sekretärin in die Arme und meint augenzwinkernd: „Lassen Sie sich nicht mehr von ihr austricksen. Sie ist ganz unglaublich raffiniert.“
„Das habe ich gemerkt“, entgegnet die Gemaßregelte und verlässt mit Lady den Raum.
Als sie hinter sich die Tür schließt, wird von außen eine geöffnet, die ins Treppenhaus führt. Dann geht alles ganz schnell. Mit den Hinterpfötchen stößt Lady sich vom Busen der Sekretärin ab, flitzt durch den Türspalt und fast in selber Sekunde in den Fahrstuhl, der sich gerade wieder schließt. „Halten Sie ihn auf!“, ruft die Sekretärin. Zu spät, er fährt schon hinab.
Als er sich unten wieder öffnet, fängt Lady den verdutzten Blick des älteren Mannes auf, der ihn hinunter beordert hat. An ihm vorbei schauend, bemerkt sie, dass ein Teenager-Mädchen von draußen herein kommt, einen Schwall duftender Frühsommerluft im Schlepptau.
Die Hündin kann nicht widerstehen und schlüpft hinaus ins Freie, hört hinter sich die Tür ins Schloss fallen. Vor sich sieht sie zahllose Füße vorbeigehen, hasten oder schlendern – in Pumps, Sandalen, Halbschuhen... Lady blickt hoch, unter vom Wind aufgebauschte Kleider, Röcke, auf schlanke Waden, dicke Waden, nackt und behost. Die Frühsommerluft ist jetzt nicht nur mit Blütenduft geschwängert, sondern auch mit Autoabgasen, igit! Aber halt... Aufgeregt witternd reckt Lady ihr Näschen empor und saugt eine Brise Hafenluft ein. Die steckt voller Erinnerungen!
Von Abenteuerlust gepackt, sprintet die Hündin im Agility-Turnier reifen Slalom hindurch zwischen all den Füßen, Kinderwagenrädern, Fahrrädern und – anderen Hunden. Ein spiegelblank glänzender schwarzer Labradorrüde will sie nicht vorbeilassen, baut sich vor ihr auf und bezirzt sie. „Na Kleine, wir wär’s mit uns beiden?“
Auf so eine plumpe Anmache fällt Lady nicht herein, gibt sich betont desinteressiert. Trotzdem wagt er, sich ihrem Schwänzchen zu nähern, um darunter zu schnuppern. Jetzt reichts! Sie kneift ihn ordentlich in die Lefze. „Sind wir hier etwa auf der Reeperbahn? Schau lieber, dass dein Mensch dir nicht abhanden kommt!“
„Mein Mensch?“ Tja, den hat dieser Pseudomacho offenbar ganz vergessen, hebt seinen dicken Kopf und blickt sich winselnd um. Plötzlich scheint er ihn irgendwo im Gewusel zu erspähen und macht sich davon, nicht ohne sich zum Abschied zu Lady umzuwenden: „Wir sehen uns, Süße!“
Ein bisschen geschmeichelt fühlt sie sich ja schon, was sie selbstverständlich nie zugeben würde, kriegt gerade wieder eine Brise Seeluft in die Nase. Weit kann der Hafen nicht mehr sein. Lady rast den Rödingsmarkt entlang und am Stella-Haus vorbei, einem alten Kontorhaus, dessen hellblaue Putzfassade zehn Stockwerke in den noch blaueren Himmel hinaufragt. Sein auffallendster Schmuck, vier Reliefs, stellt Hansekoggen dar – ein Fingerzeig, den die Minihündin nicht sehen kann, aber auch nicht nötig hat. Schon fliegt sie mit ihren langbefransten Ohren regelrecht über das Kopfsteinpflaster der Steintwiete – ein Verbindungssträßchen, gesäumt von teils bunten Bürgerhäusern.
Doch kurz bevor Lady auf die Deichstraße stößt, wohin die Steintwiete führt, hält sie inne. Nach wohin soll sie sich wenden? Nicht nur vom Hafen, auch aus anderen Richtungen locken, jetzt zur Mittagszeit, feine Duftfahnen.
Hmm... Sorgfältig analysiert Lady sie. Am verführerischsten kristallisieren sich Leber, Rindersteak und Lachs heraus. Wofür soll sie sich entscheiden?
Mit dem Lachsgeruch dringen Gelächter und Applaus von der Deichstraße herüber und wecken Ladys Neugier. Sie rennt darauf zu, biegt um eine Ecke und verharrt, zitternd vor Erregung. Kann es sein...? Ja, ist es möglich...?
Am Fuße eines der letzten noch erhaltenen uralten Bürgerhäuser, das wie seine Nachbarn auf den Deich gebaut ist, sitzen Menschen an reichhaltig gedeckten runden Tischen. Kauend und trinkend schwatzen sie miteinander, prosten einander zu und lachen. Dabei blicken sie immer öfter und länger zur sonnengelb leuchtenden Fassade neben der Tür eines Restaurants. Ein Mann prustet lauthals los, klatscht sich auf die Schenkel und applaudiert begeistert. „So ein Urviech!“, stößt er wiederholt hervor, wendet sich mit breitem Grinsen nach allen Seiten um und animiert damit andere zu Gelächter und Applaus. Kinder kreischen vor Vergnügen.
Nichts von alldem bringt die Hündin dermaßen aus der Fassung, nicht mal die Duftwolken der Gerichte – so unwiderstehlich sie auch durch die gesamte Szenerie wabern. Sie kann kaum glauben, was ihr Näschen ihr noch erzählt, saust zur Quelle der allgemeinen Belustigung. Tatsächlich – da posiert Captain Nemo in voller Pracht vor der Fassade, fängt ein Stückchen Lachs, das ein Gast ihm zuwirft und balanciert es gekonnt auf seiner Nase, bevor er es verschlingt.
Ganz auf seinen Auftritt konzentriert, hat er Lady offensichtlich noch nicht bemerkt. Ein kleines Mädchen dagegen schon. „Das Hündchen da knurrt aber laut“, bemerkt es. Knurren, ich?, wundert sich Lady und kläfft: „Von wegen, das ist mein Magen!“
Wie so oft, wird sie missverstanden. Die besorgte Mutter zieht das Mädchen zurück. „Lass mich, ich hab doch keine Angst vor so einem Zwerg“, wehrt es sich. „Der ist ja kleiner als die Katze!“
„Jetzt reicht’s aber“, protestiert Lady kläffend. Sie ist zwar klein, aber oho!“ Und wie um das augenblicklich zu beweisen, springt sie an die Seite des höchst erstaunten Katers. Der hat ohnehin lange genug seine Show alleine abgezogen! „Lady, du hier?“, maunzt er und passt vor lauter Staunen nicht auf. So schnappt ihm die Hündin ein Häppchen Lachs, das gerade angeflogen kommt, direkt vor der Nase weg. „Du nimmst mir das Wort aus der Schnauze“, kläfft sie schluckend, begleitet vom Gelächter der Menschen.
Dem Kater trieft schier der Speichel