Allein. Florian Wächter

Allein - Florian Wächter


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verließ das Appartement und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. Das Innen- oder Verteidigungsministerium hätte sich etwas einfallen lassen! Die Polizei oder das Bundesheer müssten durch die Stadt patrouillieren, um die Bevölkerung via Lautsprecher aufzuklären, was passiert ist.

      Er trat auf den Bürgersteig hinaus, blickte um sich. Das hätte ich sicherlich mitbekommen. Immerhin habe ich den ganzen Vormittag am Fenster zugebracht!

      Sein Wagen parkte unmittelbar vor dem Haustor. Er stieg ein und ließ den Motor an. Das Autoradio nahm automatisch den Betrieb auf und Robert lauschte dem konstanten Rauschen, das aus den Boxen drang.

       Seltsam, dass es derartig konstant ist. Keine Interferenzen!

      Ein leichter Schauer überfiel ihn bei dem Gedanken, gleich durch die Stadt zu fahren. Der einzige Autolenker, der zur Stunde unterwegs war, weil er nicht wusste, ... was nicht wusste?

      Dieses Gefühl war wieder da, als ob er etwas übersehen hatte, nicht sehen wollte, oder einfach verdrängte. Wütend, über sein eigenes Unvermögen, die Situation richtig einschätzen zu können, schaltete er das Radio ab und fuhr los in Richtung Arbeitsplatz. Er arbeitete für eine der führenden Tageszeitungen. Er hoffte, dass er in der Redaktion eine Antwort auf diese rätselhafte Inaktivität, die von dieser Stadt Besitz ergriffen hatte, finden würde. Auf seinem einsamen Weg durch die verlassenste Geisterstadt, die er jemals durchfahren hatte - und eigentlich auch gleichzeitig die einzige Geisterstadt, die er jemals durchfahren hatte - kam er sich vor wie die moderne Version des Robinson Crusoe. So sehr er sich auch anstrengte bei dem Versuch einen Freitag zu finden, kam ihm die Idee, dass er allein in der Stadt war, nicht mehr ganz so absurd vor.

      Das war es, was er die ganze Zeit über nicht wahrhaben wollte! Doch diese Theorie nahm immer konkretere Gestalt an. Er konnte sich nur noch nicht festlegen, ob der Rest der Bevölkerung unter mysteriösen Umständen über Nacht verschwunden war, oder ob er derjenige war, mit dem augenblicklich etwas Eigenartiges geschah. Er spekulierte sogar mit der Möglichkeit, dass er gestorben war, und nun präsentierte sich ihm auf diese Weise das Leben nach dem Tode. Seine persönliche Version der Hölle!

      Robert fuhr auf den Parkplatz des Redaktionsgebäudes, auf dem nur etwa ein halbes Dutzend Wagen standen und stellte den Motor ab. Er hielt das Lenkrad umklammert, fixierte den Eingang und spürte plötzlich unerklärliche Angst in seinem Innersten aufkeimen. Am liebsten hätte er kehrt gemacht und wäre wieder nach Hause gefahren.

       Okay, jetzt wird sich herausstellen, ob das alles nur ein böser Traum ist oder nicht. Reiß dich zusammen!

      Er stieg aus und ließ den Zündschlüssel stecken, denn er dachte, dass der Wagen wohl kaum gestohlen würde. Von wem auch?

      Als er dem Eingang entgegenstrebte, bemerkte er noch, dass die Luft ein wenig abgekühlt hatte. Eine Bö bauschte das Gebüsch und erzeugte so das einzig hörbare Geräusch. Robert stoppte vor der Eingangstür, drehte sich um und ließ den Blick noch einmal in der Gegend umherschweifen. Er atmete tief durch, schloss die Augen und lauschte konzentriert. Er hörte den Wind. Das war alles. Er spürte, wie seine Nerven zu flattern begannen. Plötzlich bekam er ein unerklärliches, aber ziemlich intensives, Verlangen nach einer Zigarette.

      Vor vier Jahren hatte er mit dem Rauchen aufgehört. Zur gleichen Zeit hatte er mit dem Joggen angefangen. Das war unmittelbar nach dem Abschluss seines Studiums gewesen. Er hatte gedacht, dass er endgültig darüber hinweggekommen war, dass er nie wieder Lust auf eine Zigarette verspüren würde!

      Die Glastür ließ sich widerstandslos öffnen und er betrat das Gebäude. Hinter seinem Rücken schwang die Tür automatisch und lautlos wieder zu. Er verharrte einige Sekunden auf der Stelle und starrte mit halb zugekniffenen Augen ins Halbdunkel der Empfangshalle. Irgendwie fühlte er sich wie ein Revolverheld, der einen Saloon betritt und alle Gespräche durch sein plötzliches Auftreten zum Schweigen bringt. Doch die Stille in der Eingangshalle hatte einen anderen Grund. Sie war menschenleer.

       Clint Eastwood im Saloon einer Geisterstadt. He, Pianospieler, spiel mir den Blues von der verlassenen Stadt!

      Robert passierte die Portierloge, die nutzlosen Aufzüge und erreichte die Treppen. Im dritten Stock befand sich ein mittelgroßer Raum mit Fernschreibern für die rasche Übermittlung der aktuellsten Ereignisse. Dieser war sein erstes Ziel. Dort, so hoffte er, würde er einen Hinweis auf die Geschehnisse der letzten Nacht finden und somit auch eine Antwort auf die Frage, was mit ihm - beziehungsweise dem Rest der Menschheit - geschehen war.

      Oben angekommen, musste er erst an der Chefredaktion vorbei, von der aus man einen freien Blick in die Druckerhalle hatte, bevor er mehrere kleinere Büros passierte. Seine Schritte klangen seltsam laut im unmöblierten Flur. Er drehte einige Male den Kopf, um einen Blick über die Schulter zu werfen, da er sich ein wenig unbehaglich fühlte. Der Korridor gabelte sich nach etwa fünfundzwanzig Metern in drei Richtungen. Robert ging nach links. Manche der Türen waren geschlossen, wie die der Besprechungszimmer, andere standen ein wenig oder ganz offen, sodass er in die Büros hineinschauen konnte. Robert gewann den Eindruck, dass es lange nach Mitternacht geschehen sein musste, denn die Zimmer wirkten einigermaßen sauber, auch wenn sich auf einigen Schreibtischen Ordner, Schnellhefter und ein Wust an Papieren jeglicher Art stapelte. Er wusste, dass die Räume nie gänzlich verlassen wirkten, auch wenn die Frauen der Putzkolonne bereits die Böden gewischt, Teppiche gesaugt und Aschenbecher sowie Papierkörbe geleert hatten. Der Putztrupp hatte die Arbeit anscheinend schon beendet, und es war nur mehr die Nachtschicht im Haus gewesen.

      Er erreichte die Nachrichtenzentrale, deren Tür weit offen stand, als ob sie ihn geradezu einladen wollte, einzutreten. Der Raum war nicht besonders groß, etwa fünf mal sechs Meter. Hier wurden die verschiedensten Daten gesammelt, gespeichert und weitergeleitet. Hier, in dieser Kammer kamen die Nachrichten aus aller Welt an. Robert wandte sich dem ersten und größten Gerät zu, einem Fernschreiber der alten Garde, und riss den Papierstreifen mit den jüngsten Meldungen ab. Während er zum nächsten Gerät ging - dabei musste er um einen kleinen Beistelltisch mit Körben herum - überflog er hastig die Zeilen.

      Die erste Aufzeichnung auf dem Papierstreifen war um 02:12 Uhr eingelangt. Am Samstag, den 28. Juni.

      „Also, heute Nacht“, murmelte er nachdenklich.

      Die letzte Meldung war um 02:29 Uhr eingetroffen und berichtete von einem leichten Seebeben in der Nähe der japanischen Insel Hokkaido. Eigenartigerweise brach die Übertragung offenbar mitten im Text ab.

      ... über die Stärke und den genauen Hergang lässt sich noch nichts sagen. Das Epizentrum liegt etwa 90 km nordöstlich der Insel. Erste Schätzungen sprechen von Stärke 3 nach Richter. Meldungen über Schäden an Gebäuden, oder Opfer unter der Bevölkerung liegen von offizieller Stelle...

      … noch nicht vor, ergänzte er den fehlenden Schluss.

       Der Saft ist dem Ding ziemlich genau um halb drei ausgegangen. Was haben wir hier?

      Er riss den Papierstreifen vom nächsten Fernschreiber herunter und las auch die darauf gedruckten Nachrichten durch.

      02:02 Uhr

      Amokläufer in Portland, Maine, erschoss seine Familie mit einer Pump-Gun. Unter den Opfern befinden sich seine Frau, zwei Töchter, ein Sohn, seine Schwiegermutter und ein Nachbar. Er lieferte sich mit der Polizei ein zwei Stunden dauerndes Gefecht. Auf seiner Flucht erschoss er drei Polizisten, fünf Passanten und verletzte weitere elf Menschen zum Teil schwer. Es handelt sich bei dem Täter um ...

       ... ein Riesenarschloch!

      Dieser Bericht war zwar vollständig angekommen, doch er las schon den nächsten durch.

      02:14 Uhr

      Die Monet - Ausstellung in New York ist ein Riesenerfolg. Der Direktor des M.A.N.Y. Museum of Art, New York, möchte sie um zwei Wochen verlängern, ...

      02:17 Uhr

      Eine Gruppe von belgischen und französischen Bergsteigern wird seit einer Woche in Tibet, im Gebiet des K2, vermisst. Die Suche gestaltet sich äußerst schwierig,


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