Allein. Florian Wächter

Allein - Florian Wächter


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Zerstörung, Chaos oder Flucht in Panik. Die Autos standen schön geparkt vor den hübschen Häusern mit den netten Vorgärten, deren Türen brav geschlossen waren. Keine Trümmer, kein Schmutz oder weggeworfenes Gut säumten die Straßen. Die Szenerie wirkte perfekt und friedlich wie an jedem anderen ganz normalen Tag. Wenn er nicht von St. Gilgen gewusst hätte, dass sich auch keine Menschen innerhalb der Gebäude aufhielten, dann hätte er angenommen, dass sich die Leute aus irgendeinem Grund in ihren Häusern verkrochen hatten.

      Er tankte den Bus in Wels an einer Tankstelle mit Hilfe einer Handpumpe randvoll und setzte seine Fahrt nach Hause fort. Er litt Höllenqualen, denn die Angst um seine Ehefrau und seine beiden Töchter brachte ihn fast um den Verstand. Der Gedanke, dass seine Familie ebenfalls verschwunden sein könnte, ließ ihn das Gaspedal bis zum Anschlag durchtreten. Der unbesetzte Autobus schaffte auf der ebenen Strecke immerhin fast 140 km/h.

      Tränen schossen ihm in die Augen und verschleierten seine Sicht, aber es kümmerte ihn nicht sonderlich, da er die Autobahn für sich allein hatte. Karl wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und betrachtete das Foto, das auf dem Armaturenbrett angebracht war. Es steckte in einem Magnet - Bilderrahmen, und zeigte seine Frau und seine Kinder, den Mondsee im Hintergrund. Er hatte das Bild vor einem Jahr mit seiner neuen Minolta geschossen, die er drei Wochen vor dem Urlaub gekauft hatte.

       Julia, Kinder, bitte seid zu Hause!

      Die Digitalanzeige der Uhr über seinem Kopf sprang auf 11:15 Uhr um, als er die Ausfahrt nach Enns passierte. Lisa Wagner versuchte im selben Moment das Licht in ihrem Badezimmer anzuknipsen und Robert Lang nickte nach der dritten Zigarette in Fred Zimowskys äußerst komfortablen Schreibtischsessel ein.

      8.

      Etwa zur selben Zeit öffnete Richard alias „Richie“ Formann seine Augen. Die Sonne stach ohne Gnade zu. Blinzelnd wälzte sich Richie auf die andere Seite. Er hatte sich am Vortag auf einer Parkbank im Stadtpark niedergelassen, konnte sich daran jedoch nicht mehr erinnern. Im Leben eines Obdachlosen, der sich dem Suff ergeben hatte, gab es mehr schwarze Löcher als Erinnerungen. Es kam zuweilen auch vor, dass ihm ganze Tage schlichtweg fehlten.

      Sein getrübter Blick fiel auf eine Wasseroberfläche, den Teich im Zentrum des Parks, der die Sonnenstrahlen reflektierte. Diese tanzenden Pünktchen taten seinen blutunterlaufenen Augen genauso wenig wohl, wie die direkte Sonneneinstrahlung. Er tastete mit seinen Armen nach der Lehne und zog sich ächzend daran hoch. Im selben Augenblick, als er sich herzhaft gähnend streckte, trafen ihn die Kopfschmerzen wie die Strafe des Bacchus für das Saufen minderwertigen Fusels. Richie massierte seine Schläfen und sah sich um. Langsam nahm die Umgebung Gestalt an.

       Morg’n Welt! Morg’n Kater!

      Er erblickte zwei dicht beieinanderstehende Weinflaschen am Ende der Bank.

       Morg’n Weinderl!

      Richi beugte sich lächelnd vor und griff nach der einen Doppelliterflasche, verfehlte sie jedoch. Er versuchte es bei der anderen. Mit Erfolg. Er führte die Öffnung an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck, verzog das Gesicht.

       Bäh! Schmeckt wie Hundepisse. Vielleicht die andere ...

      Er wollte die andere Flasche nehmen, doch diese war verschwunden, also stellte er die Weinflasche ab, da tauchte die zweite aus dem Nichts wieder auf. Dopplereffekt, dachte er. Kichernd sammelte er seinen Rucksack vom Boden auf. Es handelte sich dabei um einen kleinen Stoffbeutel, der an allen Ecken und Enden aufgescheuert war. Sein treuer Begleiter, seit er seine Wohnung gegen die Straße getauscht hatte. Sein Inhalt variierte oft, da Richie ständig etwas verlor oder liegen ließ. Nur der Rucksack schien wie eine Klette an ihm zu hängen. Er kramte im Inneren und holte erst einen Kamm, dann einen kleinen Rasierspiegel, dem eine Ecke fehlte, heraus. Er kämmte sein dünnes, fettiges Haar nach hinten und kontrollierte dessen Sitz. Nach seiner üblichen Morgentoilette verstaute er die Utensilien wieder im Rucksack.

      Richard Formann war wesentlich jünger, als er aussah. Das war auch keine große Überraschung bei dem Leben, das er führte. Im April hatte er mit ein paar Kumpel, die wie er ganz unten angelangt waren, seinen Vierziger gefeiert, obwohl er schon im Jänner Geburtstag gehabt hatte. Doch im Winter gab es für Menschen, die ihr Dasein auf der Straße fristeten, relativ wenig Grund zur Freude. Jeder einzelne war froh, wenn er die kalte Jahreszeit einigermaßen unbeschadet überlebte. Jedes Jahr forderten Frost und Schnee Opfer unter Richies Bekanntenkreis. Mal fehlte das eine oder andere Gesicht, dafür tauchten einige neue auf.

      Richie erhob sich schwerfällig, hängte sich den Rucksack über die Schulter und trottete den Weg entlang in Richtung Wienfluss. Bei der Fußgängerbrücke bog er ins Gebüsch ab, öffnete seinen Hosenschlitz und ließ den Urin ab, der sich über Nacht angesammelt hatte. Dann setzte er seinen Weg über die Brücke fort und verließ den Park.

      Fünf Minuten später nahm er erstaunt zur Kenntnis, dass die Würstelbude vor der Bahnhofshalle beim Bahnhof Wien - Mitte geschlossen war.

      „Was ist das heute wieder für ein Tag? Kein Schwein weit und breit zu sehen, und die Bude ist zu“, murrte er verärgert.

      Er umrundete die Hütte ungläubig und steuerte danach auf die Halle zu. Die Halle bildete den Eingangsbereich für die U-Bahnstationen der Linien U3 und U4, sowie den Abgang zu den Schnellbahnen, und war für gewöhnlich tagsüber frei zugänglich. Für gewöhnlich. Doch heute nicht.

       Verdammt, was ist heute bloß los?

      Er rüttelte an einer geschlossenen Glastür nach der anderen. Fassungslos starrte er ins Innere, das sich in Düsternis hüllte. Dennoch konnte er erkennen, dass der Bereich menschenleer war, einschließlich der Geschäftslokale, die sich darin befanden. An und für sich war es für ihn keine neue Erfahrung, vor einer geschlossenen Bahnhofshalle zu stehen und an der Eingangstüre zu rütteln. Doch am helllichten Tag davon ausgesperrt zu sein, das war ungewöhnlich. Er entfernte sich vom Portal und vergewisserte sich, dass die Sonne nach wie vor am Himmel stand.

      „Ich hab Halluzinationen, jetzt ist es soweit! Als nächstes kommen die weißen Mäuse“, brabbelte er in seinen verfilzten Bart.

      Nach kurzem hin und her beschloss er, dass es heller Tag war, auch wenn kein Schwein unterwegs war und die Vordereingänge der Halle aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen abgeschlossen waren. Er torkelte zum Hintereingang beim Busbahnhof. Dort wurde er fündig. Eine der Türen war nur angelehnt. Er schlurfte hinein und sah sich um. Meistens traf er dort einige Leidensgenossen, die wie er ein ruhiges und geschütztes Plätzchen suchten, doch heute war auch der rückwärtige Teil des Bahnhofsgeländes leergefegt.

      Sein Magen knurrte. Er zog sich in eine Ecke zurück und kauerte sich am Boden nieder, stellte die Weinflasche, die er die ganze Zeit mitgetragen hatte, ab und öffnete seinen Rucksack. Nicht, dass er gewusst hätte, wonach er eigentlich suchte, aber man konnte ja nie wissen, was sich in dem Sack befand.

      Überraschung! Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, als er eine Dose Sardinen und eine verdreckte Plastiktüte mit einigen Scheiben Zwieback hervorzauberte. Fisch und Brot waren rasch verzehrt, die Weinflasche bis auf den Boden geleert. Mit einem zufriedenen Rülpser lehnte er sich gegen die Mauer, verschränkte die Arme vor der Brust und schlief zufrieden ein. Sein Schnarchen war bald darauf im gesamten Gebäudekomplex zu hören. Umso lauter, da es das einzige Geräusch war, das von innerhalb der Anlage kam. Draußen pfiff der Wind von Mal zu Mal heftiger und stieß die unversperrte Tür immer wieder einen Spalt breit auf. Sonst war es still.

      9.

      Dicke schwere Regentropfen fielen so plötzlich vom Himmel herab, als ob eine gigantische Brause über der Stadt geschwenkt würde. Lisa fuhr wie vom Blitz getroffen hoch, denn die ersten Boten des Schauers klatschten ihr mitten ins Gesicht. Der Bahnsteig war zwar überdacht, aber der Wind, der nun sehr heftig wehte, peitschte die Regentropfen über den gesamten Bahnsteig. Sie brauchte einige Sekunden, bis sie sich erinnerte, warum sie hier saß und wie sie hierher gelangt war. Sie stemmte sich hoch, torkelte benommen auf eine Bank zu und ließ sich darauf nieder.

      Ein gewaltiger Blitz zuckte über


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