Denk mal!. Helmut H. Schulz
konnte. Jedenfalls hat er sich nicht des Tempelraubes schuldig gemacht, wie sein Athener Kollege. Über Sir Henry gelangten die Rollen an einen Koptischen Priester. Wie ist unaufgeklärt, jedoch starb Sir Henry auf merkwürdige Art und Weise. Der Kopte konnte die Schriftzeichen zwar nicht lesen, aber er vermutete einen bedeutenden Fund, machte sich auf und zog nach Rom, wähnend, dass die Rollen dort am besten aufgehoben seien. Nach tagelangem Herumstehen in Amtszimmern, vernommen von einem aufgeblasenen Priester, der dem plebejischen Mann kein Wort glaubte, musste letzterer einsehen, dass seine Mühe schlecht belohnt wurde. Er wies darauf hin, die Rollen trügen das Zeichen des Fisches, aber ihm wurde bedeutet, das besage nichts, sogar dem Ischtar sei das Fischsymbol zugeeignet gewesen. Als der Kopte auf den Strahlenkranz zeigte, den er sich selbst als Zeichen der Heiligkeit ausgelegt hatte, wurde ihm entgegengehalten, auch dem persischen Lichtgott Mithras sei die Korona zugehörig, und selbst vom Großkönig, einem amtlich bestätigten Gottmenschen, wäre sie beglaubigt. Ernüchtert verabschiedete sich der Kopte von dem hohen Kleriker, entschlossen die Rollen, die ihm so viele Mühen bereitet hatten, in den Tiber zu werfen.
Zufällig ging Rovere Macheste mit seinem Töchterchen an diesem Tage spazieren. Der gelehrte Mann blätterte im Gehen die neuesten Archivberichte durch, verleibte dies und das seinem enormen Gedächtnis ein und achtete wenig auf das Kind. In diesem Falle keine Unvorsichtigkeit, wie sich bald herausstellen sollte. Beatrice Macheste näherte sich zutraulich dem schwarz gekleideten Kopten. Die beiden kamen ins Gespräch, und das Kind erbat sich die Rollen, meinend, es handele sich um ein entzückendes Spielzeug.
Bekanntlich wurden die Papyrusrollen einfach aneinandergeklebt; letztere Rolle soll eine Länge von sechzig Metern gehabt haben. Macheste rief das Kind zu sich. Er sah sofort, dass es sich um eine alte Schrift handelte. Aus Zerstreutheit wickelte er die Rolle auf, steckte sie in die Tasche, eine genaue Untersuchung auf später verschiebend. Dann ging er, das Kind mit sich nehmend. Beatrice schenkte ihrem Wohltäter ein Kusshändchen; der Kopte erhielt also mehr, als er nach Lage der Dinge erwarten durfte. Auf diese Weise gerieten die Rollen in die Hände eines kundigen Mannes.
Natürlich dauerte es sehr lange, ehe Professor Macheste das Rätsel der Schrift gelöst hatte. Er zögerte jedoch nicht, seine Entdeckung allen zugänglich zu machen. Der Vatikan beeilte sich, eine dementierende Gegenschrift zu veröffentlichen, Macheste blieb unbeirrt, schien die Veröffentlichung der Rollen des Fellachen auch noch so gewagt. Aber welche Buchveröffentlichung ist nicht gewagt, falls das Buch mit Einsicht, Zweifel und Fleiß geschrieben wurde. Macheste musste umso mehr in Verdacht geraten, ein Scharlatan zu sein, als es Mode geworden ist, historische Vorgänge für aktuell-politische Zwecke zu manipulieren. Wie ja auch manche vorschlagen, der Bequemlichkeit halber neue Bücher nach den alten Legenden zu schreiben. Letzteres hat die realistische Praxis nicht gerade belebt, sondern die Leser vertrieben.
Die Frage, wieso Macheste wusste, dass es sich bei dem Überbringer der Rollen um einen koptischen Priester handelte, konnte ebenso wenig geklärt werden, wie die Frage, warum das Erbe des Kopten, die 'Rollen des Fellachen' heißen, nahm doch der Kopte das Geheimnis des Fellachen mit ins Grab. Gleichwohl ist die Schrift so echt, wie Machestes Behauptung irgendjemand habe sich unterfangen, die Ausbreitung der Koine sei an Diadochenkämpfe oder Hellenismus geknüpft.
Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf den Urheber. Listig verborgen scheint die Nationalität. Der Autor gibt an, er heiße Karsos und stamme aus Kilikien. Er habe sich anwerben lassen, um einen Bericht zu verfassen, er sagt einen Losgos. Kein anderer als ein Grieche hätte dieses Wort benutzt Weiter behauptet Karsos, er habe als Seemann gedient. An einer Stelle will er Nauarch gewesen sein, an anderer widerlegte er seine Behauptung, indem er sich als Kybernetiker bezeichnet. Beiläufig erwähnt ist Karsos eigentlich kein Name, sondern eine Stadt in Kilikien, wie Macheste in einem Kommentar aufgedeckt hat. Der Verdacht liegt nahe, dass ein Mann, der unter dem Decknamen Karsos aus Kilikien schrieb, zwar nicht aus Karsos stammt, aber gerade dort am ehesten einen Unterschlupf finden konnte, weil er Seemann war. Die gesamte kilikische Küste lebte in der Hauptsache vom Seeraub.
Was suchte Karsos nun aber beim Turmbau? Sein Bericht dreht sich immer um den gleichen Gegenstand. Er sucht dauernd zu belegen, dass es keine Sprachverwirrung gegeben hätte. Wozu widmet er dieser an sich nebensächlichen Frage, die höchsten den Theologen interessiert, soviel Aufmerksamkeit?
Macheste gibt eine einleuchtende Erklärung. Wir werden davon noch hören.
Freilich schildert die Rolle das bunte Treiben auf einer antiken Großbaustelle in der Nähe der Stadt Sesach (Babylon), schildert das Aufeinandertreffen zahlreicher Völker bis zum Ende bei Etemenanki.
Professor Rovere Macheste, dem die Wissenschaft eine Großtat verdankt, konnte sein Werk nicht vollenden. Er wollte einen weiteren Kommentar, den sogenannten 'dritten' schreiben. Groteskerweise befleißigen sich viele, gerade aus dem dritten Kommentar zu zitieren, den es, wie wir jetzt wissen, nicht gibt oder nicht vollständig gibt. Einige rohe Aufzeichnungen Machestes sind erhalten, die wir im Text als Fragmente aus dem dritten Kommentar kenntlich machen. Macheste starb heftig angefeindet im Exil, beraubt seiner Ämter und seiner bürgerlichen Ehre, verlassen von seiner Familie und seinen Freunden. Er hinterließ die Originale dem Museo Nazionale, wo sie bei einer Feuersbrunst verbrannten, oder vielleicht auch absichtlich beseitigt wurden. Geblieben ist also nur die Schrift Machestes.
1. Teil
1. Was Karsos aus Kilikien über den Zweck des Zuges von Salmydessos nach Sesach in Erfahrung bringen konnte.
Großer König, König der Könige, König der von allen Völkern bewohnten Länder, König der großen Erde bis weithin. Wie du befohlen hast, hat sich Karsos dem Zug nach Sesach angeschlossen. Amon-Es, ein Ägypter, führt uns und Simon, der Stumpfnasige, ein Mensch aus Damaskus, wie er selbst behauptet. In Salmydessos waren wir nur einige Dutzend Männer. Jetzt, auf dem Marsch entlang der Küste des Pontos, erhalten wir dauernd Zuzug. Es ist der Monat Nisan, in welchem Karsos seinen Logos begonnen hat. Man gibt uns anderthalb Obolen, davon haben wir zwei Mahlzeiten täglich zu bestreiten, Getreidemehl, das wir einfach in Wasser anrühren und verzehren, oder, falls wir Öl erhalten und einen Lagerplatz finden, Fladen backen. Fleisch ist selten und Wein gibt es überhaupt nicht.
Großer König, du hattest Recht, deine unendliche Weisheit und mehr noch dein Misstrauen sahen einen geheimen und abscheulichen Zweck dieses Zuges voraus. Aber welches ist der Zweck? Niemand weiß es, und die es vielleicht doch wissen, wie Amon-Es, der den Erleuchteten kennt und gesehen und gesprochen hat, die schweigen.
Der Erleuchtete soll ein Gottmensch sein, dessen Epiphanie keiner zu ertragen vermag, und er soll unfehlbar sein und einzig, herrschend von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Zürne nicht, Großer König, denn nicht Karsos behauptet, jemand sei größer als du, sondern jener verruchte ägyptische Priester. Sicher ist er ein Hierodule gewesen, einer jener Schändlichen, welche die Tempel vom Schmutz der Gläubigen zu reinigen haben und sich mit allerlei unsauberen Geschäften befassen. Er schleppt eine Griechin mit sich herum, die sich Glykera nennt, wie eine käufliche Dirne aus den Hafenstädten. Sie soll auch dem gefällig sein, der zahlt.
Und doch fürchtet ihn jeder, in seinem Gepäck befindet sich das Rechenbrett, mit dem er wohlvertraut zu sein scheint, aber er führt auch Schwert und Sichelschild mit sich; ein unheimlicher Mensch ist dieser Ägypter.
Mnempton, der vielleicht Skythe ist, behauptet, Amon-Es habe sich an Tempelgut vergriffen und deshalb fliehen müssen. Es heißt, und einige bezeugen es, Amon-Es habe den Skythen starr angesehen und drauf sei Mnempton wie vom Blitz getroffen hingestürzt.
Das scheint Karsos sehr glaubhaft, wenn er bedenkt, welch mächtigen Göttern diese Ägypter dienen und welche Macht ihnen jene Götter verleihen. Dergleichen findet sich nirgendwo auf der Erde.
Es gibt viele Gerüchte über den Zweck des Zuges, jedoch scheint Karsos keines wirklich stichhaltig. Warum ist die aufgebotene Mannschaft militärisch gegliedert worden, handelt es sich doch angeblich nur um einen Trupp arbeitsuchender Bauarbeiter? Warum trägt jeder Waffen und den Sichelschild? Warum wurden kürzlich diejenigen ausgesondert,